I

<1>

In einem eindringlichen Aufsatz hat Benedetto Croce eine Theorie des Farbenflecks – der ›macchia‹ – bekanntgemacht, die der italienische Literat Vittorio Imbriani in einem kleinen Buche La Quinta Promotrice 1868 veröffentlicht hatte.  [2] Nach dieser Theorie ist ›macchia‹ »das Abbild des ersten fernen Eindrucks eines Objekts oder einer Szene, der erste und charakteristische Effekt, der sich dem Auge des Künstlers einprägt, sei es, daß er den Gegenstand oder die Szene materiell erblickt, sei es, daß er sie mit der Phantasie oder Erinnerung erfaßt. Sie ist der springende Punkt, das Charakteristische  [3] […] hervorgebracht von der besonderen Gruppierung der mannigfach gefärbten Personen und Dinge. Wenn ich fern sage, so meine ich damit nicht den Fall stofflicher Entferntheit, vielmehr den der moralischen Ferne  [4] , die darin liegt, daß das Wahrgenommene noch nicht in allen seinen Details von uns aufgenommen ist; eine Aufnahme, die nur nach langem Versenken, unter liebevoller Aufmerksamkeit, statthaben kann.«

<2>

Zwischen jenem Bild des ersten Eindrucks – erläutert Croce – und dem vollendeten, in allen Einzelheiten genau umrissenen Bild läuft der ganze künstlerische Prozeß ab: »Ein Bild ausführen, vollenden, bedeutet nichts als ein stärkeres inneres Annähern an den Gegenstand, ein Deutlichmachen und Festigen desselben, was uns als blendender Strahl ins Auge gedrungen ist. Fehlt jedoch jener erste harmonische Gesamtakkord, so werden Ausführung und Vollendung, so bedeutend sie auch sein mögen, niemals dazu gelangen, uns innerlich zu bewegen, in dem Beschauer irgendeine Empfindung zu wecken, während vielmehr die bloße nackte ›macchia‹, ohne irgendeine nähere gegenständliche Bestimmung durchaus imstande ist, diese Empfindung zu erwecken.«

<3>

»Diese Lehre vom Farbenfleck« – fährt Croce fort – »muß ja zweifellos mancher Wunderlichkeit entkleidet werden; auch muß man sich wohl gegenwärtig halten, daß die ›macchia‹ sich nicht objektiv in den Dingen befindet, sondern eine Schöpfung des Künstlers ist, der sie hernach zuweilen in den Dingen, auf die er sie überträgt, wiederzufinden glaubt.« Sieht man von dieser notwendigen Berichtigung und Ergänzung der Sätze Imbrianis ab, so wird man sich mit Croce verwundern müssen, »daß eine derartige Richtung in der Kritik der bildenden Künste nicht weiter vervollkommnet wurde, vielmehr gänzlich, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwinden konnte. Der Verfasser mußte selber der Bedeutsamkeit dessen, was er da versucht hatte, nicht völlig innegeworden sein […].«

<4>

Diese Meinung Croces bewegt mich, einen Versuch zu veröffentlichen, der in seinen Hauptzügen niedergeschrieben war, bevor ich den Aufsatz über Imbriani kennenlernte. Im Kampf gegen eine Deutung der Kunst Bruegels, welche – entsprechend der »Ideomanie« der Maler, gegen die Imbriani sich gewendet hatte – die Werke Bruegels gleichsam als Ideogramme philosophischer Gedanken betrachtete  [5] , hatte ich die Ansicht verteidigt, man könne die Bedeutung der Bilder Bruegels gar nicht verstehen, ohne von der besonderen ›Form‹ auszugehen, in der und durch die sie etwas Bestimmtes bedeuten. Als stärkstes Argument für diese Ansicht hatte ich damals angeführt, daß man aus der verstandenen malerischen Konzeption der Bilder Bruegels, aus der ›puren‹ Bildform – nämlich aus eben dem, was Imbriani die »macchia« nennt – nicht nur den größten Teil der von Bruegel bevorzugten Bildmotive anschaulich ableiten könne, sondern auch noch jene allgemeine Sphäre – eben die »Empfindung« Imbrianis –, in die getaucht die verschiedenen Bildgegenstände erscheinen und die ihnen erst ihre besondere und nur in ›Bildern‹ ausdrückbare Bedeutungsfarbe verleiht. Noch mehr: die aus der Betrachtung der ›macchia‹ Bruegels erschlossenen Bildgehalte fügten sich zu einer geistigen Einheit, die weder von anderen noch von mir bis dahin bemerkt worden war.

<5>

Daß eine solche innere Verwandtschaft zwischen einer gegebenen eigentümlichen ›macchia‹ und besonderen Bildgehalten bestehen kann – obwohl der Farbenfleck nichts objektiv in den Dingen Liegendes ist –, nimmt auch Imbriani an. Auch er weiß, daß eine ›macchia‹ jedesmal die nämliche Empfindung, und damit bestimmte Bildvorstellungen, hervorruft und andere ausschließt, eine bestimmte ›macchia‹ zum Beispiel »niemals bekleidete, niemals männliche Figuren, niemals ein Bild lüsterner Nacktheit«.

II

<6>

Die Bilder Bruegels sind in gewissem Sinne besonders geeignet, die Theorie Imbrianis zu belegen, denn sie enthalten auf merkwürdige Weise auch noch in ihrem ausgeführten Zustand jene erste ferne Vision.  [6] Um den ›Farbenfleck‹ wiederherzustellen, von dem das vollendete Bild ausgegangen ist, braucht man bei ihnen – so scheint es – nicht erst künstlich von der gegenständlichen Bedeutung abzusehen, indem man sich gleichsam seelenblind stellt. Sondern das Bild selbst, oder genauer einer der beiden Grundbestandteile, in die es von selbst, ohne unser Zutun ›zerfällt‹, zeigt die Tendenz, die gegenständliche Bedeutung abzustreifen und dem Betrachtenden rein als buntes Muster aus Farbflecken zu erscheinen. Ohne jede Aktivität unsererseits, im ruhigen passiven Anschauen beginnen bei längerem Hinsehen (bei manchen Betrachtern auch sofort) die menschlichen Figuren der typischen Bruegel-Bilder sich zu dekomponieren, in Teile zu zerlegen und damit auch ihre Bedeutung und ihren gewohnten Sinn einzubüßen. Wenn dieser Vorgang seinen Höhepunkt erreicht, sieht man statt der Figuren eine Menge flacher bunter Flecken von fest geschlossener Kontur und einheitlicher Färbung, die unverbunden und ungeordnet neben- und übereinander in einer vordersten Schichte des Bildes zu liegen scheinen. Es sind gleichsam die Atome des Bildes. Aber nicht das gesamte Bildgefüge wird von dieser Verwandlung ergriffen. Der landschaftliche Tiefraum, in dem die Figuren stehen, neigt von sich aus weder zu diesem Zerfall in Stücke noch zu solchem Bedeutungsverlust, und selbst wenn von den sich zerlegenden Figuren her die Tendenz zur Zersetzung auch auf Teile seines Gefüges übergreift, leistet er ihr Widerstand. So ist es paradox, zu sehen, wie in dem Bild zwei in allen Eigenschaften gegensätzliche Bereiche sich auseinandersondern, als hätte man auf eine fertig gemalte Landschaft von stärkster räumlicher Illusion nachträglich die Figuren, aus flachen Farbflecken stückelnd, streumusterartig aufgelegt.  [7]

<7>

Der Gesamteindruck, der auf diese Weise entsteht und den im Betrachter Erlebnisse des Staunens, der Befremdung begleiten, ist überaus charakteristisch für fast alle gemalten Bilder Bruegels, wenn er auch in den großfigurigen mit gewissen Abweichungen eintritt. Es ist Bruegels spezifische ›macchia‹, die ihn hervorruft.

<8>

Es kann keinen Zweifel geben, daß Bruegel den beschriebenen Effekt mit größter Absichtlichkeit angelegt hat. Der geschilderte Eindruck könnte gar nicht zustande kommen, wenn Bruegel nicht an der Art, wie vor ihm in nächstverwandten Bildern der Bildbau aufgefaßt worden war, bestimmte Modifikationen vorgenommen hätte, die ein Aufgeben gewisser ›Errungenschaften‹ der Malerei des frühen 16. Jahrhunderts bedeuten. Diese Modifikationen dienen alle einem gemeinsamen – zunächst noch unverständlichen – Ziel. Damit die Figuren leicht in farbige Flecken zerfallen, werden sie aus homogen gefärbten, scharf begrenzten Teilflächen ›komponiert‹. Das macht die Figuren auffallend flach, weniger plastisch als die Stellen des sehr stark tiefenhaltigen Raumes, den sie einnehmen, und hat wieder zur Folge, daß sie sich mit ihrem Umgebungsraum nur auf merkwürdig unsichere, schwankende Weise verbinden; sie zeigen die Tendenz, aus dem Raum, in dem man sie als Figuren lokalisiert, in eine vordere Bildebene herauszutauchen. Wo sie sich in dieser Zone häufen, scheint dann – durch sie verwandelt – der Raum nach vorne flacher zu werden. Damit dieses Loslösen aus dem Raum sich leichter vollziehe, sind sie gegen ihr Umfeld mit harter Kontur isoliert und deshalb wird der die Körper mit dem Raum verbindende Schatten gemieden.

<9>

Vom Standpunkt einer ›macchia‹ der Renaissance, wo auch im fernen Bild nichts von all dem sich findet, sind diese Eigenschaften – dazu andere hier nicht erwähnte Züge, wie die seltsame Ausdruckslosigkeit der Gesichter – lauter schwere Mängel. Sie ernstlich als Unbeholfenheiten zu deuten  [8] , ist bei den darstellerischen Fähigkeiten Bruegels, die sich in den landschaftlichen Bildteilen glänzend bewähren, ganz ausgeschlossen. In den Niederländischen Sprichwörtern (Abb. 1) folgen die kreisrunden Fladen, mit denen das Dach (links oben) belegt ist, nicht dem räumlichen Umbruch der Dachflächen, sondern halten sich ohne Rücksicht auf den Knick ihrer Unterlage unverkürzt in jener einheitlichen Ebene, in der auch sonst die Flecken der zersetzten Figuren erscheinen. Dieses seltsame Motiv läßt sich – glaube ich – nicht anders erklären, als daß Bruegel hier im Bild selbst eine Anweisung angebracht hat, das Zersehen des Bildes in solche ausgesonderte Flecken durchzuführen. Es ist nur ein übersteigerter Ausdruck dessen, was verkappter auch sonst im Bild geschieht.

1 Pieter Bruegel d. Ä.: Die niederländischen Sprichwörter, 1559,
Öl auf Holz, 117 x 163 cm,
Berlin, Gemäldegalerie

Was soll aber der Sinn dieses sonderbaren Dekompositionsvorganges sein? Die Antwort wird sich auf dem Weg über die folgende Frage ergeben.

III

<10>

Es sei die beschriebene ›macchia‹ Bruegels gegeben. Für welche Bildmotive ist sie die ›gegebene‹, natürliche Form? Die folgende Antwort nennt derartige Bildgegenstände in unsystematischer und unvollständiger Aufzählung. Wie bei jedem großen Künstler stehen auch bei Bruegel die Bildform und der Bildgehalt in inniger Entsprechung. Die eine ist für den anderen geschaffen.

1

<11>

Zum Eingehen in diese ›macchia‹ bieten sich alle Gegenstände an, deren Projektion in der Fläche möglichst stark in sich geschlossene einheitliche Flecken ergibt oder sich aus solchen zusammensetzen läßt. Also alle Gebilde, die sich einer einfachen geometrischen Grundform – Kreis, Kugel, Eiform, Zylinder, Kegel, Kubus – nähern.

<12>

Das sind im Bereich der toten Natur und des menschlichen Geräts zunächst scheibenförmige Gebilde aller Art. Ihre Zahl in Bildern Bruegels ist denn auch Legion: Räder und Reifen, Schüsseln, Teller und Pfannen, Töpfe und Tiegel, Sieb und Schaff, Mützen und Hüte, Sturmhaube, Rasierbecken, Spiegel, Zifferblatt, Radfenster, Pfauenrad, Trommel, Säulenbasis, Deckel von Fässern, Schnittflächen von Baumklötzen, Mündungen von Kanonenrohren usw. in unerschöpflicher Reihe. (Besonders reich ist die Auswahl solcher Scheibendinge in der Zeichnung der Superbia.) Dann kugel-, sack- und blasenförmige Gebilde aller Art: Kanonenkugel, Spielkugel, Globus, Ballen, Säcke, Taschen, Beutel, Brotlaib, Dudelsack, Schneckenhaus, Granatapfel usw. Kegelförmige: Körbe, Krüge, Bienenkörbe, Glocke, Glockenmäntel (Superbia). Eiförmige: Eier, Muscheln, Blasbalg. Zylindrische: Tonnen, Eimer, Kessel, Laterne, Säulen, Hackblock, Baumstamm. Quadratische oder kubische: Tischplatten, Türflügel, Buch, Schachbrett, Kisten, Geldschränke, Steinklötze, Spielwürfel.

<13>

Im Bereich menschlicher Leiber werden bevorzugt nicht die artikulierten Körper der klassischen Kunst, nicht nackte oder zierlich gekleidete, sondern die plumpen, von steifen Stoffen umpanzerten Leiber der Bauern, besonders auch der bäuerlichen Kinder. Hier trifft man zum erstenmal auf die Bauernsphäre, die von der ›macchia‹ Bruegels her gesehen auch aus anderen noch zu erwähnenden Gründen besondere Darstellungswürdigkeit besitzt. Aus demselben Grund sind geeignet kugelige Köpfe mit möglichst geringer Binnenzeichnung: Augen, Nase und Mund sitzen in ihnen fast als bloße Punkte – wie bei einem Schneemann. Das Ideal wäre ein Leib von primitiver Sackform ohne Extremitäten: für diese Auffassung sind die monströsen Körperklumpen der Krüppel ein idealer Darstellungsgegenstand. In den Niederländischen Sprichwörtern und in der Bosheit der Welt wird ein Leib einer Kugel eingeschrieben.

<14>

Eine Fundgrube solcher Formen ist das Bild des Schlaraffenlands: Fladen, Schüssel, Teller, Krug, Tischscheibe, Ei, die Kugelköpfe und die walzenförmigen Leiber der Schlemmer und des Ferkels und – gleichsam die klassische Formel dieser Gebilde – der Kaktus, der aus sechs Scheiben und sonst nichts besteht. Eine andere Versammlung dieser Formen ist der geplünderte Kramladen in dem Stich der Affen. Aber in kaum geringerer Zahl sind sie in zahlreichen anderen Bildern enthalten.

2

<15>

Um das Zerfallen der Figuren zu begünstigen, sollen die einzelnen Teile, aus denen sie sich zusammensetzen, möglichst stark gegeneinander abgesetzt sein. Das ergibt die Bevorzugung solcher Gebilde, die schon von Natur aus stückhaft, bunt zusammengewürfelt, mechanisch zusammengesetzt sind und zum Zerfall neigen. So sind die Kleidungsstücke der Bauern nicht nach einheitlichem Geschmack gewählt, sondern zufällig auf diesem Leib zusammengekommen, so sind die ›kunterbunten‹ Trachten des Faschings aus allem Erreichbaren stückelnd improvisiert. Die scheckigen Leiber der Pferde, des Viehs zerfallen von selbst in solche Flecken. In den Visionen des Wahnsinns (und des Traums) entstehen gestückelte, aus Heterogenem komponierte Gebilde, in der Fachsprache ›Verdichtungen‹ genannt, und lösen sich wieder auf (Dulle Griet).

<16>

Oder es werden an den einzelnen Körpern solche Stellungen, solche Bewegungen aufgesucht, bei denen die Glieder sich gleichsam loslösen, verselbständigen: ein ideales Motiv sind zum Beispiel die Leute im Block (Spes), deren Füße vom Leib durch die Scheibe getrennt sind; die ungeschickte Bewegung des tanzenden Bauern (Bauernkirmes), die man oft als ›verzeichnet‹ kritisiert hat; die Gliederverrenkungen der Epileptiker. Von dem Menschen, der ins Faß fällt, bleiben nur die Beine (Gula), von dem, der ins Eis einbricht, nur der Oberkörper (Eislauf). Sie erscheinen verstümmelt, die Krüppel sind es.

<17>

Diesem Zerfallen der Form entspricht der Intention nach im Reiche der realen Welt der Vorgang der Zerstörung. Zahllos sind in Bildern Bruegels die Motive, in denen eine Form zerbricht oder zerbrochen, zerstückelt, zerrissen wird: zerspringende Eierschalen und zerborstene Baumstämme, die geplatzten Säcke (im Elck), das zerschellende Schiff (Spes), die zersplitternden Geldschränke und zerbrechenden Kassen (Kampf der Sparkassen und der Geldschränke), der Einbruch in die Hürde (Guter Hirt), das Aufschlitzen der Leiber, die Selbstzerstückelung (Dämonen im Sturz des Magiers). Damit hängt zusammen das Motiv des Durchwühlens (Elck) und – in einer Weise, die erst später ganz verständlich werden wird – der Blick in die Eingeweide, sei es in menschliche oder tierische Leiber, sei es in Säcke und Kisten oder in den Leib des Babelturms.

3

<18>

Die Figuren sind gegeneinander und gegen den sie umgebenden und miteinander verbindenden Raum hart abgeschlossen. Diese Geschlossenheit ihres Umrisses ist das anschauliche Äquivalent einer seelischen ›Verschlossenheit‹ und Isolierung. Die Teilnehmer der Bauernhochzeit bleiben – unfähig, ihre Gefühle mitzuteilen – stumm und dumpf; kaum einer steht in seelischem Kontakt mit den anderen. Sie benehmen sich fast so, wie eine atomistische Theorie der Gesellschaft es postuliert. Mitten im Trubel der Kinderspiele spielt jedes eigentlich für sich. Zu dem grandiosesten Ausdruck steigert sich der Charakter des gegen die Umwelt Verschlossenen in der Vision der Bienenzüchter (Abb. 2).

2 Pieter Bruegel d. Ä.: Die Bienenzüchter, 1565,
Feder in Gelb auf Papier, 20,3 x 31 cm,
Berlin, Kupferstichkabinett

Das vordergründige Bildthema – das vielleicht, wie so viele andere Bilder Bruegels, an das größere Thema des Jahreslaufs anknüpft – wird dadurch zu einer tiefsinnigen pessimistischen Allegorie vom Wesen des Menschen. Diese gesichtslosen Menschen sind das Gegenstück zu einer anderen großen Darstellung von Menschen, die kein ›Gesicht‹ haben, denen die Außenwelt sich verschließt, den Blinden.

<19>

Zwischen isolierten Körpern gibt es nur eine äußerliche Verbindung. Sie haften – zum Beispiel in den Kinderspielen – aneinander wie ›Kletten‹. Sie bewegen sich mechanisch gekoppelt in ›blinder‹ Verkettung (Bild der Blinden, Abb. 3).

4

<20>

Die ›macchia‹ Bruegels besteht aus einer Menge gleichartiger isolierter Flecken. Das prädestiniert diese Bildform zur Darstellung der ›Masse‹, sei es eine Masse aufgehäufter Dinge, wie in dem Kramladen des Elck, sei es die Masse im soziologischen Sinn. Diese erscheint, so gefaßt, in besonderer Weise: als Summe einzelner unverbundener und von blinden Kräften regierter ›Elemente‹. Sie ist das Lieblingsthema fast aller kleinfigurigen Bilder Bruegels: die konstruierten Massen des Faschings und der Kinderspiele, das phantastische Massensterben im Triumph des Todes, der Massenmord im Bethlehemitischen Kindermord, die Heermassen im Sturz des Paulus und im Kampf der Philister und Israeliten, das Massenphänomen des Auflaufs in der Zeit der Kreuztragung und der Kampf aller gegen alle in dem Massenrausch des Martinsweins.

5

<21>

Die Menge der Farbflecken ist ungeordnet, bunt durcheinandergewürfelt; außerdem führen die Farbflecken ungeordnete Scheinbewegungen aus, sie scheinen nach allen Richtungen durcheinanderzuschwimmen. Dem entspricht in der gegenständlichen Sphäre die Unordnung der Dinge und Körper mit ihren Steigerungsformen des ›Wirrwarrs‹ und ›Trubels‹ und des völlig sinnlosen Chaos, wie die ungeordneten und chaotischen Formen der Bewegung. Beides hängt eng zusammen mit dem Phänomen der Masse.

<22>

Chaotische Bewegung entsteht, wo in einer Vielheit von Körpern die einzelnen in ihrer Bewegung nicht durch einen gemeinsamen innewohnenden Sinn bestimmt werden, sondern jeder nach eigenem Impuls – gleichsam ohne sich um die anderen zu kümmern – vorgeht. In manchen Bildern Bruegels geht es denn zu wie in der kinetischen Gastheorie: Kampf des Faschings mit der Fasten, Kinderspiele. Dieser ungeordneten, zerfallenden Bewegung kann durch Kräfte, die von außen eingreifen, eine Form auferlegt, sie kann in eine Gesamtrichtung gelenkt werden. Das ist das gerichtete Chaos. So führt der Gesamtzug der Kreuztragung in einer elliptischen Kurve zu seinem Ziel – sichtbar gemacht durch die roten Röcke der Reiter, welche den eigentlichen Zug bilden –, während um diesen ›roten Faden‹ herum der größte Wirrwarr sich abwickelt. So formt sich das Chaos der um den Wein kämpfenden Masse im Martinsfest durch das gemeinsame äußere Ziel ›von selbst‹ zu einer strengen italienischen Kegelkomposition.

<23>

Andererseits wird die ungeordnete Bewegung zu völliger Sinnlosigkeit potenziert, wo in dem Tun der einzelnen Glieder der Masse kein Sinn liegt: das Fest der Narren, vor allem aber das sinnlose Treiben der Affen, ist für diese ›macchia‹ ein idealer Darstellungsgegenstand. Der Erfolg solchen Tuns ist ein chaotischer Zustand der Dinge, das ›Durcheinander‹ des Elck.

<24>

Auf die Spitze getrieben erscheint dieser Charakter des sinnlos zusammengesetzten und chaotisch Durcheinandertreibenden in jenen Visionen des Wahnsinns, in denen jeder Sinnzusammenhang zerfällt, die Dinge und ihre Bedeutungen zerstückelt und zersprengt, einander durchdringend und sich vermischend durcheinanderschwimmen wie unverdaute Materie: das absolute Chaos der Dullen Griet. Was in diesem Bild kraft der eigentümlichen ›macchia‹ Bruegels darstellbar geworden ist – nicht Wahnsinnige und ihr Gehaben, sondern die Struktur einer wahnsinnigen Welt –, konnte von keiner Bildform der neueren Malerei auch nur annähernd eingefangen werden.  [9] Erst in der allerjüngsten Kunst des Expressionismus und besonders des Surrealismus gibt es ähnliche Möglichkeiten.

1 bis 5

<25>

Die ›macchia‹ Bruegels schlägt also gewisse Ausdrucksregister – Imbriani würde sagen: ›Empfindungen‹ – an, die ihre Resonanz nur in ganz bestimmten Gegenständen und Bedeutungen finden. Solche Ausdruckswerte, ›Register‹, oder nach dem von Allesch vorgeschlagenen Namen ›Intentionen‹, sind: das Plumpe, Dumpfe, Unartikulierte, Primitive; das Stückhafte, Zusammengesetzte, Zerfallende; das Verschlossene, Isolierte, Atomhafte; das Massenhafte; der Wirrwarr, das Durcheinander, das Chaos. Diese ›Charaktere‹ bilden gleichsam die Brücke von der nackten ›macchia‹ zu gewissen Bildstoffen, die durch sie mit der ›macchia‹ zu einer nur künstlich auseinanderhaltbaren Einheit zusammenwachsen. Und weil die ›macchia‹ Bruegels einer einheitlichen Vision – wie sie Imbriani fordert – entspringt, schließen sich auch die von ihr ›gerufenen‹ Bildgegenstände zu einer starken geistigen Einheit zusammen. Zwar ist diese auf den ersten Blick nicht sichtbar. Was sollte das einende Band in der Reihe der bevorzugten Bildmotive sein, die sich ergeben hat: die Bauern, die Kinder, die Defekten (Krüppel, Blinde, Epileptiker, Narren), die Masse, die Affen, der Wahnsinn?  [10] Und doch gibt es etwas Gemeinsames. Das alles sind Erscheinungen des Lebens, in denen das rein Menschliche an andere ›niedrigere‹ Zustände grenzt, die sein Wesen bedrohen, verdumpfen, verzerren oder nachäffen. Die Primitiven – dumpfere Form des Menschen; die Affen – eine Karikatur des Menschen; die Masse – roher, primitiver als der einzelne Mensch; die Defekten – nur halbe Menschen; die Kinder – noch keine ganzen Menschen; die Wahnsinnigen – keine Menschen mehr. Es sind jene Grenzformen des Menschlichen, in denen und von denen her das Wesen des Menschen fragwürdig wird. Und es sind – das sei nebenbei bemerkt, weil es die innere Einheitlichkeit dieser Sphären noch einmal von anderer Seite beleuchtet – die nämlichen Gegenstände, denen die moderne Anthropologie in der letzten Zeit ihr Hauptinteresse zugewendet hat, als ob es möglich wäre, das Wesen des Menschen gerade an jenen Grenzstellen zu erfassen, an denen es in andere Reiche übergeht. (Psychologie der Primitiven, der Kinder, der Geisteskranken, der Masse, der Affen, des Rausches.)

6

<26>

Von dieser bisher betrachteten Deformation wird in den Bildern Bruegels ausschließlich die Sphäre des Menschlichen ergriffen. Die Sphäre der Natur verhält sich zu ihr in jeder Hinsicht gegensätzlich.

<27>

Als Darstellungsgegenstände für den tiefräumlichen Untergrund, von dem die Fleckenwirbel sich abheben, eignen sich demnach solche Formen, die den bisher besprochenen gerade entgegengesetzt beschaffen, also möglichst wenig in sich geschlossen, möglichst stark im Raum aufgelöst sind. Deshalb ist zum Beispiel die Vegetation in einem Zustand bevorzugt, der möglichst abliegt von der Kompaktheit des Figürlichen: also nicht die fleckenhaften Kronen dichtbelaubter Bäume, sondern die entlaubte Landschaft oder die ›Dunstwolke‹ dünnbelaubter Äste. Wenn ausnahmsweise geschlossene Formen erscheinen – die Zypressen im Paulussturz –, werden sie an den Rändern und durch Binnenzeichnung wolkenartig weich aufgelockert.

7

<28>

Das Ideal wäre hier, daß kein Teil selbständig für sich existiert, sondern die Gestalt jedes einzelnen Teils erst verständlich wird aus dem Zustand des Ganzen. Statt des atomistisch-mechanischen Gefüges ein dynamisch-organisches Kontinuum. Höchste Annäherung an dieses Ideal ist vielleicht die Elster auf dem Galgen. Die Windungen der Bäume und selbst noch die Pfosten des Galgens sind nur verständlich aus einer strömenden Bewegung des Ganzen, die an den einzelnen Bäumen gleichsam nur sichtbar wird, wie die Strömung des Wassers an den Gräsern und Algen, die es bewegt. Und auch noch die wenigen Einzelfiguren, die in diesem Raum verblieben sind, nehmen an dem primären Bewegungsstrom teil, der Raum und Naturdinge gleichmäßig durchwaltet: die tanzenden Bauern drehen sich, gleichsam wie Blätter in Windwirbeln. (In diesem Bild ist also der Dualismus der Bildbestandteile fast ganz aufgehoben, worüber noch zu sprechen sein wird.)

6 bis 7

<29>

Im Gegensatz zum Bereich des Menschen, der sich der Einfühlung des Betrachters verschließt und ihn in Staunen und Befremdung von sich abweist, ist die Natur der Einfühlung, dem dynamischen Mitfühlen in einer Weise geöffnet, wie sie uns fremd geworden ist. Mit Recht hat Tolnai betont, daß das die Naturdinge zu einer innigen Einheit verbindende Prinzip nicht etwa die Luft – ein äußerliches Medium –, sondern ein Inbegriff sichtbar waltender Kräfte ist.

8

<30>

Die dualistische Zerspaltung der Bilder in Figurenflecken und Raumgrund fordert, daß sich beide Bestandteile möglichst scharf voneinander sondern und keine Verbindung zwischen ihnen statthabe. Das Element, das diese Verbindung vor allem schafft, ist der Schatten, das Helldunkel, dann auch die Luftperspektive als farbige Einschmelzung der Dinge in den Raum, die deshalb in Bruegelschen Bildern die Figuren auffallend wenig angreift, obwohl sie den Naturraum durchaus beherrscht. In allen Bildern Bruegels, fast ohne Ausnahme, wird der Schatten eliminiert. Er wird eliminiert entweder auf realistisch motivierende oder unmotivierte, irreale Weise. (Das Fehlen der Beleuchtung motiviert dann zugleich die geringe Modellierung der Körper durch Farbe, Schatten und Licht: ihre Fleckenhaftigkeit.) Der erstere Fall ist gegeben in der natürlichen Beleuchtung des bedeckten Himmels, in dem diffusen Licht halber Beleuchtungen. Was in den frühen Stichblättern das unbestimmte schattenlose Zwielicht imaginärer Vorstellungsräume war, wird in den Bildern positiv gewendet zum grauen Himmel der Kinderspiele und des Faschings, zum bewölkten Himmel der Kreuztragung und des Herbstes, zum Nebelhimmel des Bethlehemitischen Kindermords und des Winters. Der zweite Fall erscheint zum Beispiel im Stich des Sommers. Obwohl die Sonne, nur leicht durch Sommerdunst verhüllt, hoch am Himmel steht, werfen die Schnitter nur ganz schwache irreale Schatten. Der Sturz des Ikarus ist schon das Äußerste, was an direktem Sonnenlicht bei Bruegel vorkommt.

IV

»Multa pinxit hic Brugelius quae pingi non possunt«
Abraham Ortelius

»Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle – sondern Erfahrungen«
Rilke

<31>

Daß diese Bildform mit ihren scheinbaren ›Mängeln‹ von Bruegel bewußt ausgebildet wurde, ist nun auch dadurch bewiesen, daß die aus ihr ableitbaren Bildmotive einen sinnvollen Zusammenhang ergeben. Aber die Frage, mit der der zweite Abschnitt schloß, ist dadurch noch nicht beantwortet: »Was ist der Sinn dieses sonderbaren Spaltungs- und Dekompositionsvorgangs?« Erst die Antwort auf sie kann tiefer verstehen lassen, weshalb Bruegel gerade diese Bildgegenstände bevorzugte.

<32>

Die Antwort – oder doch der Anfang der Antwort – liegt in der Beschreibung des Gesamterlebnisses, das diese Bilder vermitteln, ebenso beschlossen, wie die besonderen Ausdrucksgehalte der Bruegelschen Motive schon in der Beschreibung der ›macchia‹ beschlossen sind. Das Ergebnis jener merkwürdigen Vorgänge, die sich beim Betrachten seiner Bilder abspielen, ist ein Sinnverlust ganzer Bildteile, ein Fremdwerden der dargestellten Gegenstände und damit des ganzen Bildsinns. Dieser Vorgang wird im Betrachter begleitet von Erlebnissen des Staunens, der Befremdung, in sehr empfindlichen Betrachtern sogar von Beklemmung und leiser Angst.

<33>

Damit ist das entscheidende Wort ausgesprochen, das den Schlüssel zum Verständnis sowohl der eigentümlichen ›macchia‹ wie der eigentümlichen Bildmotive Bruegels gibt und beide von einer neuen Seite her erschließt: es ist das Wort Entfremdung.

<34>

Diese Erfahrung ist als ewige Möglichkeit des Wahrnehmens jedem vertraut. Gewisse seelische Situationen legen sie nahe.  [11] Dann verlieren vertraute Worte plötzlich ihre nahe und gesicherte Bedeutung, sie werden sinnleer und klingen, als ob sie einer fremden Sprache angehörten. In dem Maße, als dies geschieht, gewinnt ihr sinnentleerter rein sinnlicher Klang an Intensität und erscheint, als ob man ihn nie gehört hätte. Das gleiche Erlebnis gibt es bei Gesten, mimischen Ausdrücken, Bewegungen usw. Zum Beispiel kann die in einer Momentaufnahme erstarrte Bewegung diesen Charakter des Entfremdeten, Unverständlichen annehmen. Es muß aber festgehalten werden: immer ist dieses Fremdwerden etwas, was (in unserem Erleben) an den Gegenständen vor sich geht, die es erfaßt, und darf nicht verwechselt werden mit den subjektiven Erlebnissen, die es in dem Menschen begleiten, der die Verwandlung wahrnimmt.

<35>

Das malerische Œuvre Bruegels beginnt mit diesem Grundphänomen der entfremdeten Welten. In seinem ersten typischen Gemälde, den Niederländischen Sprichwörtern (Abb. 1), ist es die Welt der Sprache, die sich ›zum Bild geworden‹ und dadurch in seltsamer Weise entfremdet darstellt. Dieses gemalte Bild ist die Sichtbarmachung der uferlosen Welt von Phantastik, die in den ›Bildern‹ der Sprache steckt. Wer denkt bei den Sprichwörtern noch an das Bild, das sie in sich schließen? Die Sprache umgibt uns fortwährend mit einer Welt von Bildern, die nicht weniger skurril, absurd, irrsinnig, unheimlich und komisch zugleich sind als die Fabelwelten zum Beispiel der Lasterfolge, die ihre Existenz rein der bildlichen Phantasie des Malers verdanken.

<36>

Eine andere dieser entfremdeten Welten ist die Welt der ›Masken‹ (Kampf des Faschings mit der Fasten). Durch sie verwandelt sich die nahe und vertraute Gestalt des Menschen in eine absonderliche, fremde und dämonische, lächerliche und zugleich erschreckende Gestalt.  [12]

<37>

Die Maske – dieser »tiefste Wesenstrug«, der die Gestalt verhüllt und den Gehalt vertauscht – ist gleichsam das zum Gerät verfestigte Wesen dieses Vorgangs der Entfremdung, der schlechterdings alle Gegenstände und Ereignisse ergreifen kann. Es gibt ein aktives Verhalten, in dem die alltäglichen Dinge, ohne Hilfe von Maskengerät nicht weniger phantastisch und absonderlich, verdächtig und undurchschaubar wirken als die verlarvten Akteure der Fastnacht. Dieses Verhalten besteht darin, das Wissen um den gewohnten und selbstverständlichen Sinn der alltäglichen Lebensvorgänge abzustreifen – so zu tun, als ob man nichts von Sinn und Funktion der Personen und Dinge wüßte –, eine künstliche und abstrakte Attitüde. Dann enthüllt die alltägliche Welt ihre bis dahin verborgene Phantastik.  [13] Das erste und klassische Produkt dieser entfremdenden Schau, angewendet auf das Alltägliche, sind die Kinderspiele. Sieht man davon ab, was Kinderspiele sind und für uns wie für die Kinder bedeuten, dann ist das, was die Kinder tun, so absurd, unheimlich und verdächtig wie das Gehaben einer Schar von Irrsinnigen oder anderer uns unverständlicher Wesen. Da gibt es Monstra mit zehn Beinen und drei Köpfen, der Topfschläger erinnert an einen Scharfrichter, der Stelzengänger an einen Krüppel, die Verrenkungen, die das Spiel erzeugt, an Krämpfe von Epileptikern, das sonderbare Spielgerät an magische Apparate, das ganze Treiben erscheint als eine »unbeschriebene Manie«. Das außerordentliche Beispiel der Entfremdung des Alltäglichen ist aber das tief unheimliche Bild der Bienenzüchter (Abb. 2).

<38>

In besonderer Weise wirkt diese Aura der Entfremdung dort, wo sie die Historie, besonders die religiöse, ergreift. Da kann Entfremdung gerade dadurch erreicht werden, daß die Szene alltäglich betrachtet wird, nämlich so, als ob man um ihren religiösen Sinn nicht wüßte; die Kreuztragung zum Beispiel, als wüßte man nicht, um welche besondere Kreuztragung es sich handelt. Bruegels Bild gibt sozusagen den soziologischen Aspekt des öffentlichen Martyriums, wie es sich jederzeit, auch in der Gegenwart, ereignen kann: die Vertreter der Rechtsmacht, die Ordnung der Richtstätte, das gaffende Volk, dazwischen Kinder und bellende Hunde, und irgendwo im Gewimmel kaum auffindbar die Delinquenten. Und nur nachträglich durch die stückhaft eingeflickte Szene im Vordergrund, welche die heiligen Personen in der überlieferten Gestalt zeigt, die sie auf Passionsbildern des vorangehenden Jahrhunderts haben, wird die Szene, die sich ›von außen‹ in nichts von dem Martyrium eines gewöhnlichen Menschen unterscheidet, als jenes unvergleichliche Martyrium Christi gekennzeichnet, gleichsam wie durch eine hinzugefügte Unterschrift.

<39>

Betrachtet man die entfremdende Schau als das Zentralphänomen der Kunst Bruegels, so wird die Beziehung der von Bruegel bevorzugten Bildgegenstände zu diesem Zentrum sogleich sichtbar. Die Welten der Primitiven, der Kinder, der Blinden und Krüppel, der Masse, des Wahnsinns und der Affen sind eben jene Grenzwelten des Menschlichen, »in denen das Wesen des Menschen fragwürdig – und fragwürdig eben, weil fremd – wird«. Zugleich aber findet eine Unzahl von Einzelmotiven, die in den Werken Bruegels stereotyp auftauchen, ihre zwanglose Erklärung. Man darf sie allesamt als Mittel ansehen, diesen Aspekt der Entfremdung im Betrachter hervorzurufen. Ich zähle einige dieser ›Mittel‹ auf.

<40>

Die menschliche Figur wird fremd, wird neu und mißtrauisch betrachtet, wo Mißwuchs sie entstellt. Deshalb sind übertrieben dicke und übertrieben dünne Leiber, verkrüppelte oder verrenkte, ein ewiges Motiv in den Bildern Bruegels. An unentstellten normalen Leibern zeigt sich ein Fremdwerden der Form in gewissen ungewohnten Situationen oder als Wirkung einer ›Verkleidung‹, besonders auch in der reinen Rückenansicht. Deshalb die zahllosen Wiederholungen dieses Motivs; es gibt Bilder Bruegels, die fast nur aus Rückenfiguren bestehen. In seinen Zeichnungen naer het leven hat er gerade diesen sonderbaren Sinnverlust der Form studiert.  [14] Dem gleichen Ziel dient das Reduzieren des Ausdrucks in den Köpfen. Das Antlitz und sein Ausdruck schlägt eine seelische Brücke zwischen uns und den anderen Menschen und verhindert es, die anderen bloß ›von außen‹ anzusehen wie Objekte.

<41>

Gesichter fremder Rassen, deren Ausdruck man nicht versteht, wirken unheimlich wie Masken, die ja vor allem das Gesicht maskieren. Die Gesichter bei Bruegel sind entweder ausdruckslos wie die dumpfen, ausdrucksarmen Gesichter der Bauern oder von kaum zu bestimmendem indifferenten Ausdruck wie die der Kinder, die ununterscheidbar und leer erscheinen. Alle Träger des Ausdruckshaften – vor allem der Blick – sind reduziert.  [15] Die Gesichter verraten nichts von dem, was hinter ihnen vorgeht, sie sind stumm. Die Steigerungsform dieses Phänomens geben die starren Gesichter der Blinden, die schon fast als natürliche Masken wirken, und endlich die Menschen ›ohne Gesicht‹, deren Antlitz in Kapuze, Helm und Schutzmaske verborgen oder durch Dinge verdeckt wird, die sie tragen (die Sackträger der Prudentia; der Bettler, der ein Hemd über den Kopf zieht, in der Caritas), und das oft wiederholte, von Bruegel in dieser Absicht ›verzeichnete‹ Motiv des auf den Kopf getragenen Korbes, der gleichsam statt des Kopfes auf dem Hals wächst. Auf dem Stich des Sommers sind an elf Personen des Vordergrundes nur zwei Gesichter zu sehen, und diese beiden haben kaum mehr Ausdruck als eine Knolle.

<42>

Der Vorgang der Entfremdung durchläuft an der menschlichen Gestalt oft mehrere Stufen. Er läßt sie zunächst an anderes, Untermenschliches erinnern, an Tiere, Pflanzen, an Unbelebtes – Puppen oder leere Kleider. Die kauernden Mädchen in den Kinderspielen sehen wie seerosenartige Blumen aus, die Krüppel wie eine Familie von Giftschwämmen (Dvořák), die Bienenzüchter wie wandelnde Baumstrünke; Haare erscheinen wie Fransen des Hutes, unter dem sie hervorquellen (Tolnai). (Die Beispiele wären leicht zu häufen.) Zum Schluß aber wird der menschlichen Gestalt auch noch dieser metaphorische Sinn genommen und sie erscheint als Gefüge farbiger Flecken. Was ist der Mensch, wenn man ihn ›von außen‹ ansieht? Ein paar farbige Flächen von bizarrer Kontur. In dem Maße aber, als dieser Prozeß fortschreitet, gewinnen Farben und Formen – gleichsam emanzipiert von dem Sinn, den sie trugen – ein ungekanntes Eigenleben, genauso wie das sinnentleerte Wort in neuer und seltsam bezaubernder Weise erklingt.

<43>

Das gleiche Phänomen des Fremdwerdens gibt es im Bereich der menschlichen Bewegung. Hier kommt das Erlebnis einmal dann zustande, wenn die Bewegung schon von Natur verzerrt, unnormal ist – im Motorischen das Gegenstück des Mißwuchses. Die Fallsüchtigen ›bäumen‹ sich, ›wie Schnecken‹ kriechen die Krüppel. Die ungewohnte, unsichere Bewegung der Eisläufer, das Torkeln der Betrunkenen, das tastende Schwanken der Blinden, die Verrenkungen der Gaukler am Seil, der mechanische Trott der Tiere sind solche ›fremde‹ Bewegungen. Künstlich wird dies ausgelöst, wenn man eine Bewegungsphase absichtlich gegen das Vor- und Nachher der Gesamtbewegung isoliert, in der sie natürlicherweise eingebettet ist (Erlebnis der Momentaufnahme). Die Bewegungen erscheinen fremd, ›mechanisch‹, ›wie die von Automaten‹.  [16]

<44>

In dem gleichen Maße, als das Lebendige an Leben und Ausdruck einbüßt, gewinnen die leblosen Dinge aus der Sphäre des Menschen – Gerät, Häuser, Schiffe –, die normalerweise ohne Ausdruck sind, an Leben.  [17] Dieser gegenläufige Vorgang kommt gewissermaßen von selbst in Gang, wo man sich unverständlichem Gerät gegenübersieht, wie in der Spelunke des Alchimisten. Er kann künstlich durch ein ›Gleichnis‹ ausgelöst werden, wenn zum Beispiel (Gula) der in die Astgabel gelegte schlappe Dudelsack mit suggestiver Kraft an das daneben hängende gerupfte Huhn angeglichen wird, also ›totes‹ Gerät einem getöteten Lebewesen gleicht. (Ich nenne das eine ›metaphorische Situation‹.) Und auch diesen reziproken Prozeß gibt es in verschiedenen Stufen. Er nähert sich dem Höhepunkt, wenn die leblosen Dinge, die normalerweise ohne Ausdruck sind, ein Gesicht gewinnen, einen ansehen. (Primitives Erlebnis, Erlebnis der Kinder.) Bei den alltäglichen Dingen, mit denen wir umzugehen gewohnt sind, ist gerade das der Weg, sie fremd und ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Es gibt fast in jedem der frühen Bilder Bruegels ein Objekt, in dem – in parte, pro toto – diese Physiognomik der toten Dinge auf die Spitze getrieben wird. Das ist der Sinn des menschenähnlichen Felsens in dem Kampf der Philister und Israeliten (am Rande rechts), der leer starrenden Augenhöhlen des bleichenden Pferdeschädels in der Kreuztragung, des tückisch blickenden Auges der Pfauenfeder in der Bauernhochzeit, des tierhaft glotzenden Spundlochs an dem einen Faß des Bethlehemitischen Kindermords. Die unüberbietbare Ausprägung dieses Motivs enthalten aber die Kinderspiele: Vier von den Köpfen, die sie trugen, zu Boden gefallene Mützen, drei schwarze und eine rote, bilden Augen, Nase und Mund einer Fratze, die den Betrachter ›anblickt‹ und, sobald man sie einmal erblickt hat, an Intensität des Ausdrucks die ausdruckslosen Larven der Kinder weit übertrifft. Es wäre ganz verfehlt, diesem Motiv eine anekdotische Bedeutung zu unterstellen – zum Beispiel das Gesicht lache den Betrachter aus –, falsch schon deshalb, weil der Ausdruck des Gebildes, wie überall bei Bruegel, vollkommen unbestimmt ist. Das Motiv ist vielmehr die klassische Formel für die doppelte Grundtendenz Bruegelscher Bilder, die Tendenz zum Zerfall des Figürlichen und zum Gesichterschneiden des Leblosen. Wie die Fladen auf dem Dache der Niederländischen Sprichwörter ist dieses Motiv eine anschauliche Anweisung zum tieferen Verständnis des Bildes.

<45>

Prinzipiell müßte der Vorgang der Entfremdung auch vor der Natur nicht haltmachen. Die neueste Malerei bietet nicht selten Beispiele dafür, wie auch die Natur fremd, unheimlich, obskur und entstellt gesehen werden kann. Hier und da kann man etwas davon auch bei Bruegel bemerken.  [18] Im allgemeinen nimmt aber bei ihm die Natur und der Naturraum – eben der Raumgrund, in dem jener andere Prozeß sich abspielt – an der Entfremdung des Figürlichen nicht teil. (Äußerlich drückt sich das darin aus, daß hier keine ›Verzeichnungen‹ vorkommen, so daß man finden konnte, Bruegel sei ein glänzender Landschafter, aber im Figuralen unbeholfen.) Hier versagt die Einfühlung nicht. Die Natur tritt dem Betrachter nicht als etwas Fremdes, sondern auch dort, wo sie groß und gewaltig, drohend und furchtbar gesehen wird, als etwas gleichsam Vertrautes, Heimliches gegenüber. Erst auf der Folie jener entstellenden Auffassung des Menschen wird die Eigenart der Bruegelschen Naturauffassung ganz sichtbar und verständlich: die eigentümliche Verschmelzung von räumlicher Überweite und seelischer Nähe, von Weltlandschaft und paysage intime. So geht durch die typischen Bruegel-Bilder auch im Gegenständlichen jener Riß, den schon die rein formale – vom Dargestellten absehende – Betrachtung aufdecken konnte: die einfühlend und nah gesehene Sphäre der Natur beherbergt den fremd und skeptisch gesehenen Bereich des Menschlichen, der verdächtig und fragwürdig geworden ist.

<46>

Ergreift im Bild die Entfremdung also nur einen der beiden Darstellungsbereiche, in die jenes ›zerfällt‹, so ergreift sie dafür in merkwürdiger Weise noch einmal das Bild als solches. Zwischen Beschauer und Bild schiebt sich – Wirkung der ›macchia‹ Bruegels – gleichsam eine dünne Eisscheibe.  [19] Das Bild, das sich so merkwürdig anders verhält, als man es sonst von Bildern gewohnt ist, das sich gleichsam selbst auflöst und vor unseren Augen zerfällt, wird dem, der diesen Vorgang bemerkt, fremd und sonderbar. Die Betrachtung der Menschenszenen im Bild kann die Frage wecken: »Was ist das eigentlich, der Mensch?«; die Betrachtung des Bildes weckt dann die andere: »Was ist das eigentlich, ein Bild?« Und man könnte antworten: Das Bild selbst trägt eine Maske.  [20] Es hat einen vordergründigen Sinn, in dem es den naiven Betrachter unterhält – diese ›Seite‹ der Bilder ist nicht wegzuleugnen; dahinter aber verbirgt es ein zweites Gesicht, von dem das erste nichts verrät.

<47>

Solche Bilder fordern ein doppeltes Publikum. Ein naives, optimistisches, das die »lustigen« Gegenstände nicht »ohne Lachen ansehen kann« (Mander), und ein die Bildmaske durchschauendes, pessimistisches, ästhetisches, das eben dieses Durchschauen noch mitgenießt. Es kann schwerlich ein Zufall sein, daß der hintergründige Charakter eines Rudolf II. an dem Sammeln der Bilder Bruegels Vergnügen fand. Beide, die reine Schaulust und die Subtilität einer Betrachtung, welche das Problematische der Menschenwelt im Anschauen erfaßt, haben in den Bildern Bruegels ein unendliches Feld; auf beiden Ebenen stößt jede neue Betrachtung auf neue, noch nicht entdeckte Einzelheiten.

V

<48>

Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt ist ein wohlbekanntes Phänomen der kranken Seele. »Die Dinge sehen nicht aus wie früher, sie sind verändert, fremdartig, sie scheinen flach wie Reliefs«, lautet zum Beispiel eine der kennzeichnenden Klagen, die Jaspers als typisch für diese Form der geistigen Erkrankung zitiert.  [21] »Die Wahrnehmungen sind so seltsam, so sonderbar, so gespenstisch […].« Damit hängen eng zusammen jene anderen pathologischen Phänomene, die in einem Versagen der Einfühlung begründet sind. Alles ist in diesen Zuständen tot (sinnlos, fremd), die Menschen sehen nur noch äußerlich, aber werden sich des seelischen Lebens der anderen nicht bewußt (!).

<49>

Ein großes Beispiel für die bildliche Projektion solcher pathologischer Erfahrungen, welche in ihrer gesteigerten Form von Erlebnissen der Angst begleitet sind, ist in der Sphäre der Kunst – seit Fraengers Deutung nicht mehr zu bestreiten – das Werk des belgischen Malers James Ensor.  [22] Das Erlebnis Entfremdung-Angst ruft hier bezeichnenderweise die gleichen Bildmotive herauf, die ich eben bei Bruegel aufgewiesen habe: die Darstellung der Masken, der Masse, des labil gewordenen Raumes und der Panik. Zu den beiden letzten Motiven ergänze ich hier aus dem Œuvre Bruegels den Fliehenden Hirten, in dem das Erlebnis der Panik (eines einzelnen) durch eine unüberbietbare Darstellung des fliehenden Raumes dem Beschauer aufs eindringlichste vermittelt wird. Daneben kommen bei Ensor aus derselben Quelle noch andere besonders bevorzugte Darstellungsmotive: das Skelett – bei Bruegel Hauptthema im Triumph des Todes –, besonders auch das ›Portrait squelettisé‹, nicht zufällig ein beliebter Stoff des Manierismus, und das Obszöne, das auch in vielen Bildern Bruegels sich einmischt. Auch diese beiden Sphären scheinen mir eng mit dem Fremd- und Fragwürdigwerden der Gesamtsphäre des Menschen zusammenzuhängen, obzwar sie vielleicht noch auf andere Weise determiniert sind. Besonders sei noch eine Stelle aus dem Aufsatz Fraengers hervorgehoben, die jene Grundtatsache der Entfremdung so beschreibt, daß sie fast wörtlich für Bruegel gelten könnte: »Aus dem gewohnten Alltagsangesicht der Menschen traten auf einmal tier-menschliche Züge fratzenhaft hervor, ihre Bewegungen und Gebärden schienen ins Automatische depersonalisiert, ihr ganzes Treiben ungewöhnlich und verdächtig.«

<50>

Das vollkommen verschiedene zeichnerische und malerische System Ensors – seine verschiedene ›macchia‹ – verfärbt diese Motive im Sinne einer anderen Grundstimmung (des ›Morbiden‹, das es bei Bruegel nicht gibt), die man durch das ›fin de siècle‹ verfolgen könnte, nimmt ihnen aber nicht die Verwandtschaft mit den ähnlichen Motiven Bruegels.

<51>

Trotzdem liegt aber kein Grund vor, der Produktion Bruegels einen pathologischen Ursprung so zu unterstellen wie der Ensors.  [23] Der Unterschied liegt nicht darin, daß etwa für Ensor die Welt, die er in seinen Bildern darstellt, wirklich verändert gewesen wäre, für Bruegel aber nur gleichsam, als darstellerische Fiktion. Denn auch »die Kranken denken nicht daran, die Welt wirklich für verändert zu halten, es ist ihnen nur so, als ob alles anders sei« (Jaspers). Sondern der Unterschied liegt vielleicht einfach darin, daß solche Bilder von Bruegel, nach seinem Willen gerufen, als eine mögliche Schau des Menschen entwickelt und entfaltet werden, während sie über Ensor ungerufen und unabweisbar kommen und ihn besitzen.  [24] Das ließe sich auch an Einzelheiten der Gestaltung nachweisen, ist aber fraglos sichtbar daran, daß Bruegel neben dieser und gegen diese ›Nachtansicht‹ auch eine ganz andere, eine ›Tagansicht‹, entwickelt, deren Rolle der ›Natur‹ zufällt. Es ist ferner zu zeigen an der Art, wie im Œuvre Bruegels diese Ansicht sich gleichsam experimentierend bildet und schließlich wieder in einer Versöhnung der beiden entzweiten Bildbereiche aufgehoben und besiegt wird. (Darüber später.)

VI

<52>

Es gibt vor Bruegel einen ›Stil‹, in dem eine große Zahl der bei Bruegel beobachteten Phänomene vorkommt. Es ist dies jene Richtung der nordischen Kunst, die – zunächst ganz äußerlich gekennzeichnet – den weichen Stil vom Beginn des 15. Jahrhunderts in einer eigentümlichen Weise starr macht und sich in der Kunst des Konrad Witz und verwandter Künstler (Meister des sogenannten Znaimer Altars im Wiener Hofmuseum) auf die Spitze getrieben zeigt. Es sei gleich vorweggenommen, daß sich alle Symptome dieses starren ›Stils‹ aus einer zentralen Tatsache verstehen lassen. Diese Kunst betrachtet zum erstenmal seit dem Beginn des ›Mittelalters‹ die sichtbare Welt entschlossen von außen und nur von außen, rein auf ihr Aussehen hin – gleichsam ohne um andere Unterschiede als die sichtbaren zu wissen.  [25] Diese Art des Sehens und Darstellens, die jetzt – und seither vielfach – als besonders ›realistisch‹ empfunden wird, ist ganz entgegengesetzt der natürlichen Art des Sehens, die sich nicht aus der Vertrautheit mit den Dingen zurückzieht. Jeder weiß oder kann es noch erfahren, welche gewaltige Mühe es in der Zeichenstunde kostet, diese natürliche Art des Sehens aufzugeben und zu jener teilnahmslosen, ›kalten‹ Betrachtung überzugehen, die das ›richtige‹ projektive Bild der Dinge liefern soll, ihre entfremdende Kontur und Form.  [26]

<53>

Alle Phänomene dieses ›Stils‹, fast ausnahmslos alle, die ich jetzt in der Kennzeichnung Bruno Fürsts  [27] aufzähle, lassen sich auf dieses Grundverhalten zurückführen:

<54>

»[…] das Lebende wird« – da in der konsequent auf die pure sichtbare Form gerichteten Anschauung der Unterschied von lebend und tot gar nicht existiert – »entwirklicht und entseelt, alles Dingliche in ein Zwischenreich zwischen Totes und Lebendiges gehoben. Damit hängt zusammen auf der einen Seite eine Neutralisierung des Ausdrucks, ein Anonymmachen der Person (auch bei Bruegel!), auf der anderen ein Wichtignehmen und Wichtigmachen des Dinglichen, die Verlebendigung und Eigenlebendigkeit des Unorganischen. ›Maskenhaftigkeit‹ wird zu einem sehr starken Ausdruckswert dieser ganzen Kunst« – begreiflich, da ja bei dieser Art der Betrachtung ganz allgemein die sichtbare Form als eine Art Maske des Wesens erscheint. Dem entspricht es, daß »von der Betonung des Seelischen weg« – das bei dieser Art der Betrachtung nicht unmittelbar gesehen, sondern nur erschlossen oder hinzugedacht, gewußt wird – »sich die Hauptakzente auf die Sichtbarmachung der ›seelenlosen‹ Mechanik des Geschehens verschieben«. »Die Menschen hängen wie Kletten aneinander« (sehr gut auch als Kennzeichnung Bruegels). »Es ist wie das mechanische Ineinandergreifen des Räderwerks einer auf die einfachsten physischen Kräfte abgestellten Maschine.« Und da man »von außen« den Dingen und Wesen nicht unmittelbar ansieht, was in ihnen dynamisch zusammengehört, stellt sich, gleichsam als Nebenprodukt dieser »Schau«, ein Zerfall in Stücke ein.

<55>

(Dazu gehört auch noch die ›Zitierung‹ fremd gewordener historischer Formen, die man als ›historisch‹ eben nur sieht, wenn man sich aus ihnen zurückzieht. Das ist charakteristisch sowohl für ›1440‹ wie für Bruegel – Gruppe der Kreuztragung –, wie für den Manierismus überhaupt.)

<56>

Um diesen Aspekt durchzusetzen, wird eine Unzahl neuer Erfindungen aufgeboten, dieselben, die auch bei Bruegel als Vehikel der Entfremdung verwendet werden: »Auffallend die Häufung von Rückenfiguren oder Figuren mit drei Viertel verlorenem Profil« – was man nach den Erfahrungen bei Bruegel als typischen Aspekt der Entfremdung verstehen wird. »Der Mensch als wandelnde Rüstung«, deren geschlossenes Visier den Kopf verschwinden läßt – hier der Feldhauptmann Sabothai, dort die Bienenzüchter. »Drastische Vordringlichkeit der Utensilien.« Das Motiv des »Greifens nach der Schulter des Nachbarn« als Kontaktherstellung, »die das Reißen der Kette verhindern soll«, das gleiche Motiv, das in der ›blinden‹ Verkettung von Bruegels Neapler Bild seine grandioseste Darstellung finden wird.

<57>

Trotz dieser vielen Gleichheiten kann aber die Kunst Bruegels aus dem ›starren Stil‹ nicht abgeleitet werden, nicht einmal seine Auffassung des Figürlichen. Denn hier ist die Entfremdung gewissermaßen nur eine Begleiterscheinung der neuen Entdeckung des aus den Dingen zurückgezogenen kalten Schauens von außen. Die Dinge haben jetzt nur sichtbare Qualitäten, Werturteile über sie gehen in die Gestaltung nicht mit ein. Bei Bruegel dagegen steht das Erlebnis der Entfremdung im Mittelpunkt seiner Auffassung der Menschenwelt und ist emotionell verfärbt. Die Menschen sehen nicht geheuer und sonderbar aus, weil sie ihrem Wesen nach zwar nicht geradezu ›schlechte‹, aber problematisch hybride und fremdartige Geschöpfe sind. Die Vorstufen dieser Schau liegen aber ganz anderswo als in dem Stil von 1440, nämlich bei Bosch.  [28]

VII

<58>

Die Ableitung der Kunst Bruegels aus Bosch ist die älteste. Sie steht schon bei Guicciardini (1566): Bruegel ist »der zweite Bosch«; Zwar gilt sie nur für den einen Bildbestandteil, die Menschenwelt, hier aber trifft sie in einem tieferen Sinn zu, als man bisher annehmen konnte. Betrachtet man als ein Zentralphänomen der Kunst Bruegels die entfremdende Schau, so ist diese selbst – und nicht nur die Thematik gewisser Blätter und Bilder Bruegels – vorgebildet in der diabolischen und spukhaften Weltansicht des Bosch. Die entfremdende Schau bei Bruegel ist der säkularisierte Pandiabolismus des Bosch. Sie ist die Einbildung der Spukvisionen des Bosch in die Welt des Alltäglichen. Die Lasterfolge Bruegels ist das Bindeglied in diesem Säkularisierungsprozeß. In ihr werden erfundene und deshalb bei aller Spukhaftigkeit harmlose ›Ausgeburten der Phantasie‹ dargestellt, in den Bildern des Bosch nicht eine erfundene, sondern eine geglaubte, ›blutige‹ Realität. Die Hölle des Bosch ist eine anschauliche religiöse Wirklichkeit, und ihre Transfusion in die diesseitige Welt behält die ganzen Schauer des Wirklichen. Die Laster Bruegels sind erfundene Allegorien, und ihre Transfusion in den Alltag hat gewissermaßen nur heuristischen Wert: diesen neu sehen zu lehren, nach den Kategorien des Absonderlichen, Grotesken, Phantastischen. Man kann diesen Säkularisierungsprozeß an manchen Motiven ganz konkret verfolgen, zum Beispiel an dem Motiv des verstümmelten Menschenleibs, der in den Höllenvisionen des Bosch die Qualen der Verdammten ausdrückt, in den Lasterblättern Bruegels als monströse ›Ausgeburt der Phantasie‹ mit allegorischer Bedeutung beladen wiederkehrt, dann in den Alltagsdarstellungen zur ›Entdeckung‹ der Krüppel und endlich ganz harmlos zu der Beobachtung führt, daß es zeitweise Verstümmelte fortwährend zu sehen gibt, wenn man die Welt mit fremden Augen betrachtet.  [29]

<59>

Deshalb konnte Bruegel auch einen Teil der Bildmitte des Bosch in entsprechender Transformation verwenden. Tolnai kennzeichnet die Figuren Boschs (in manchen Bildern) als »leichte und hohle Flachgebilde, die gleich bunten Schatten und Abziehbildern auf die Malfläche geglättet sind«, er spricht von der »faltenlosen Glätte ihrer Oberfläche« und dem »reinen Scheinwesen ihrer Larven«.  [30] Diese Kennzeichnung gilt für Bruegels Figurendarstellungen abzüglich der Phantomhaftigkeit. Scheinwesen sind Bruegels Figuren nicht, ihre Realität, Handgreiflichkeit und Kompaktheit wird mit allen Mitteln betont, obwohl auch sie manchmal »etwas Totes und Hohles« an sich haben. Die archaische Darstellungsart des Bosch – übrigens auch schon bei diesem selbst archaisch – wird aufgenommen als Vehikel zur Vermittlung des Entfremdungserlebnisses.

<60>

Daß in einer Seite der Kunst Bruegels Bosch weiterlebt, hat man seit jeher erkannt; Bruegel hat ja als Zeichner von Boschiaden begonnen. Nicht erkannt aber ist, was Bruegel aus Bosch eigentlich entnommen hat: es ist die Erfahrung der entfremdeten Welt. Bei Bosch schwingt das Entfremdungserlebnis bloß an der Peripherie des Teuflischen mit, es gehört zur ›Qual‹ des Höllischen, wie das Phantomhafte, das Spukhafte, das Sadistische, das Obszöne, das Maschinelle und anderes.  [31] Bei Bruegel rückt es aber, seit den Gemälden, in die Mitte des Blickfeldes und wird nun – um es zu wiederholen – zu einer Art anschaulicher ›heuristischer Hypothese‹, nach der die gewöhnliche Welt mit kaltem Interesse gesehen wird.

<61>

Der zweite große Unterschied zwischen Bosch und Bruegel liegt darin, daß bei dem letzteren die Natur an der Entfremdung nicht teil hat. (Die wenigen Bilder, für die das nicht gilt, wie der Triumph des Todes und die Dulle Griet, stehen auch nach der Thematik Bosch verhältnismäßig am nächsten; es ist bezeichnend, daß ihre Zuweisung zwischen Bosch und Bruegel geschwankt hat.) Dadurch kommt ein Riß in die Bilder Bruegels, der durch die Schichte des Bedeutungshaften ebenso geht wie durch die Schichte des Formalen. Eine solche zwiespältige, aus zwei Bestandteilen verschiedener Art gestückelte Bildform ist aber erst seit dem Manierismus möglich.

VIII

<62>

Der Begriff des Manierismus ist noch unfertig (Pinder). Aber schon jetzt treten unter anderen Kennzeichnungen zwei als wesentlich hervor: Zwiespältigkeit und Entfremdung.

<63>

Nach der tiefgreifenden Charakteristik Dvořáks ist eine Grundtatsache der manieristischen Bildkunst »die Möglichkeit, den Realitätsgrad (verschiedener Bildbestandteile) verschieden zu wählen«. Auf dieser Möglichkeit beruht auch die Zwiespältigkeit der Bilder Bruegels, die der starre Stil so wenig kennt wie Bosch. Es ist das Prinzip der ›Komposition‹ eines Bildganzen aus Bildteilen verschiedener Substanz, dasselbe Prinzip der Stückelung, wie es Bilder Pontormos oder das Haus der Zuccari zeigen.

<64>

Pinder hält die »erstarrende Atmosphäre« für die »erste Voraussetzung« des Manierismus; auch ihm bedeutet Manierismus eine »Spältigkeit«. Erstarrende Atmosphäre – das ist offenbar dasselbe oder etwas sehr Ähnliches wie das, was hier ›entfremdende Schau‹ genannt wurde. Sie hat deshalb auch ähnliche Erscheinungen im Gefolge wie jene, die als Ergebnis oder Mittel der Entfremdung bei Bruegel beobachtet worden sind. Da ist (nach Pinder): »Die Stillegung des Umrisses, das Passivisch-Werden der Figur.« »Überdeckung des Lebendigen durch das panzerhaft Starre.« »Starr sind die Gewänder.« »Der Panzer statt des Leibes, die Maske statt des Gesichts.« »Geheime Menschenähnlichkeit der Tiere« – bei Bruegel umgekehrt geheime Tierähnlichkeit der Menschen. Ferner: »Der Manierismus versteckt.« »Hier scheint alles Schutzformel.« Typisch, daß er nie unmittelbar darstellt, daß er vielmehr heimlich verrät, statt offen zu enthüllen. Dazu gehört ein besonderes Verhalten des Betrachters und eigentümliche Begleiterlebnisse: das Quälende, der Zweifel. »Unwillkürlich wird der sorgfältige Betrachter zum Frager, zum Tiefenpsychologen.« Seine Frage ist: »Was ist der Mensch eigentlich?« Das setzt offenbar »eine Spaltung zwischen Gesagtem und Gemeintem«, also Entfremdung voraus. In der Sphäre des Sichtbaren könnte man für Entfremdung sagen Maskenhaftigkeit. Die Maske ist gleichsam das anschauliche Symbol des Manierismus: sie macht fremd, macht die Züge starr, verbirgt das ›Eigentliche‹ hinter etwas anderem, das nicht organisch dazugehört, erregt Zweifel, ›gemischte Gefühle‹, Furcht und Neugier.

<65>

Damit ist die Liste jener mehr peripheren Erscheinungen, die sich aus dem Zentralphänomen der Entfremdung anschaulich begreifen lassen, noch nicht zu Ende. Daß nach Pinder »eine Art Farbverwesung eintreten kann«, »ein Auflösen nach der Weißlichkeit des Leichenhaften hin«, darf vielleicht als ein Fremdwerden der Farbkörper und des vertrauten Sinnes der Farbe gedeutet werden. Die Angleichung verschiedener Daseinssphären, die wir als Mittel des entfremdenden Aspekts bei Bruegel festgestellt haben, erscheint im italienischen Manierismus, der die Leiber dominieren läßt, zum Beispiel als Angleichung des männlichen Leibs an den weiblichen – das Hermaphroditische des Manierismus, die Unnatur! – oder als Vertauschung der Eigenschaften des Stofflichen: fleischliche Leiber sehen wie Stein aus. Der Manierismus besitzt ein außerordentlich verfeinertes Organ für die Unterschiede des Stofflichen, eben weil er die Materien als fremd, anders und uneinfühlbar empfindet. Dieser Ausblick auf die bevorzugten ›Register‹ des Manierismus – gesehen von ihrem gemeinsamen Ursprung her – sei hier mit einigen Schlagworten geschlossen: Die ›Allegorie‹. Das Historische und Exotische als das Fremde, ›Kuriose‹. Das Erotische (das andere Geschlecht als das Fremde). Das Obszöne als das zu Enthüllende, Verborgene. Der Blick in die Eingeweide. Die fremden Götter. Der fremde Gott. Der Tod – das Fremde par excellence.

<66>

Vielleicht darf man auch zwischen den beiden hier übertreibend herausgehobenen Grundphänomenen des Manierismus noch einen Übergang sehen, die Entfremdung als Entzweiung zwischen Betrachter und Welt, zwischen Betrachter und Bild begreifen.

<67>

Trotz dieser zahlreichen Gemeinsamkeiten hat die entfremdende Schau Bruegels keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der manieristischen. Die Entfremdung des Manierismus ist – wie es Linfert subtil zeigt – vor allem Vertotung, die Entfremdung Bruegels – wie wir eingesehen haben – säkularisierte Diabolie. Deshalb ist ganz im Gegensatz zu Bruegel der Manierismus vollkommen ›humor‹los. Dann ist auch das Substrat, das der entfremdenden Schau unterworfen wird, hier und dort ein anderes. Bei Bruegel sind es die ganze Breite der gewöhnlichen menschlichen Lebensbetätigungen und besonders Randphänomene des Menschlichen, die ohne entfremdende Absicht schon vor ihm im nordischen ›Sitten‹bild behandelt worden waren. Für den italienischen Manierismus – von dem das gesamteuropäische Phänomen seinen Namen bekommen hat – ist die verwandelte Substanz im wesentlichen die ›Klassische Kunst‹. »Der Manierismus bearbeitet überhaupt die schon geformte Form«, sagt Pinder und noch entschiedener Linfert: »Der Manierismus hingegen scheint die Entfremdung der Klassik selbst zu sein.«

<68>

Dagegen ist die Stückelung des Bildzusammenhanges aus Bestandteilen verschiedener Realität – wenigstens nach dem heutigen Stand unseres Wissens – eine manieristische Erfindung und von Bruegel aus dem italienischen Manierismus übernommen, den er genau studiert hat. (Was sich im einzelnen beweisen läßt.)

<69>

Stark vergröbernd kann man also folgendes behaupten: Die Möglichkeit, aus mehreren Realitätsgraden zu stückeln und vielleicht das Prinzip des verlarvten Bildes überhaupt hat Bruegel durch das Studium manieristischer Bilder kennengelernt. Die entfremdende Schau der Menschenwelt hat er aus einer selbständigen Wurzel (Bosch) zu einer nur teilweise mit dem italienischen Manierismus übereinstimmenden Form entwickelt. Daß der Zwiespalt zwischen der Schau der Natur und der Schau der Menschenwelt angesetzt wird, ist in der Sphäre der Kunst originell, hat aber geistesgeschichtliche Voraussetzungen außerhalb der bildenden Kunst, auf die ich hier nicht eingehen will. Durch diesen Ansatz des Zwiespalts gibt es bei Bruegel die Möglichkeit einer Auflösung, die der Manierismus nicht kennt.  [32]

IX

<70>

Die Bilder Bruegels entstehen nicht so, daß zuerst die bedeutungsfreie macchia erschaffen und in sich vervollkommnet wird und dann erst jene Bildbedeutungen durch sie wie von einem Magnet angezogen oder wie durch ein Sieb aus den kursierenden Stoffen ausgesiebt werden, die zu ihr passen, sie ›motivieren‹. Ein solches Verfahren ist, als Grenzfall, innerhalb der ›neueren‹ Malerei und besonders seit dem 19. Jahrhundert möglich – ich kenne Fälle, in denen es als Prinzip des ›Komponierens‹ in Malschulen gelehrt wurde – und Imbriani hat bei der Formulierung dieser Theorie gerade diesen Grenzfall vor Augen. Im allgemeinen aber formen sich macchia und bevorzugte Gegenstände allmählich in einem wechselseitigen Prozeß, und die Leistung des Künstlers besteht darin, eine vollkommene Harmonie dieser beiden Sphären, der ›formalen‹ und der bedeutungsmäßigen, herzustellen.

<71>

Bei Bruegel ist dieser Prozeß außerordentlich klar. Seine eigentümliche macchia, von der die Untersuchung ausgegangen ist, entsteht durch eine kalte Verschweißung zweier Bildgattungen, die vorher in seinem Œuvre scharf getrennt waren.

<72>

Wir kennen diese beiden gesonderten Bildgattungen, die seit 1559 miteinander vernietet werden, fast nur in Zeichnungen und Stichen, die – nicht zufällig – bis zu der Zeit der Synthese im Œuvre Bruegels überwiegen. Da gibt es Zeichnungen, in denen die Natur frei von Menschen, höchstens mit ein paar winzigen Staffagefiguren dargestellt wird, die sich im Bildraum verlieren. Und es gibt andere Zeichnungen, in denen ein imaginärer Vorstellungsraum dicht von imaginierten Fabelwesen erfüllt wird. Diesen Unterschied hat – wenn man von seinen einzelnen Deutungen zunächst ganz absieht – Tolnai scharf hervorgehoben.

<73>

Diese beiden Gruppen sind nun auch ›formal‹, bis hinab in die Einzelheiten scharf geschieden und in gewissem Sinn antithetisch. Für die Kennzeichnung dieser ›formalen‹ Unterschiede hat Tolnai sehr zutreffende Formulierungen gefunden. Die Bildform der phantastischen Blätter (Große Fische fressen die kleinen, Esel in der Schule, Die Versuchung des Antonius, Lasterfolge) entsteht nach dem »naturwidrigen abstrakten Aufbauprinzip der Zusammenschachtelung heterogener Dinge«, diese stückelnde Phantasie ist auch bei der Erfindung der einzelnen Fabelwesen und -gebilde am Werk. »Eine Struktur wie der Weltbau« (nämlich die Naturwelt) »haben diese Länder« (die mythischen Reiche der verschiedenen Laster) »nicht, sie zerfallen in Elemente«. Die Sinnlosigkeit regiert. Bezeichnend ist »die nirgends nachlassende gleich starke Aufdringlichkeit aller Elemente« – also, wie oben eingesehen wurde, das Prinzip der Massenhaftigkeit. Alle anderen Züge, die als kennzeichnend für den einen Bestandteil der gemalten Bilder erkannt worden sind, treten schon in diesen Zeichnungen auf: »Bruegel vermeidet Kontraste des Lichts und Schattens.« (Was hier noch die Schattenlosigkeit abstrakter Phantasieräume von mythisch-unbestimmter Beleuchtung ist, wird später – realistisch motiviert – zum bedeckten Himmel werden.) »Die Form der Gebilde besteht aus einheitlichen, ungebrochenen Oberflächen. Vor- und Rücksprünge, Hebungen und Senkungen sind an der Oberfläche möglichst gemieden. Weder die Rundung der Gesamtform wird an den Rändern durch den Schatten verschleiert, noch kann sich der Schatten formverdeckend einnisten in die Vertiefungen der Binnenform.« »Der Umriß schließt rundlich und einfach diese einfache Oberfläche der Form ein.« »So wurde der Umriß gleichsam entschlossen umschnitten, das Gewand zur blockhaft geschlossenen Schale befestigt.« Sehr gut spricht Tolnai von der »in sich gesperrten« Blockform und dem »gesperrten« Umriß.

<74>

Ganz entgegengesetzt verfährt Bruegel bei der Darstellung der Naturwelt in seinen gezeichneten Landschaften: »Flaumige Gebilde durch haarig dünne Strichelchen, Häkchen, Pünktchen aus dem Grund herausgehoben« erscheinen hier. Im Bild wird die dynamisch empfundene Einheit der Naturdinge nachgestaltet – Gegensatz der Zusammenschachtelung. Die Formulierungen Tolnais sind hier nicht so prägnant, genügen aber, um das Gegensätzliche dieser beiden Gestaltungsbereiche fühlbar zu machen. Diese beiden Werkgattungen haben ganz verschiedene historische Vorstufen: Die Blätter erster Art kommen von Bosch; sie sind ein etwas zahmerer Bosch, ein Bosch, in dem manchmal ›Komisches‹ mitklingt. Die Landschaften haben selbst zwei Hauptwurzeln, einerseits die nordische Weltlandschaft, andererseits die intime Landschaft, wie sie auf venezianischen Bildhintergründen erscheint.  [33] (Dies nur als vorläufige allzu allgemeine Feststellung, die näher zu untersuchen bleibt.)

<75>

Der ersten dieser beiden Zeichnungsgattungen kommt eine besondere Wichtigkeit zu. Denn sie bildet sozusagen das Schema aus, nach dem später in den Bildern seit 1559 (und ebenso in den mit diesen Bildern parallel laufenden allegorischen Zeichnungen der Tugendfolge) die alltägliche Menschenwelt aufgefaßt wird, die, betrachtet durch die ›Brille‹ dieses Schemas, ganz neue Dimensionen erschließt: das Absonderliche, Groteske, Skurrile, Spukhafte. Den Übergang bildet das Gemälde der Niederländischen Sprichwörter, das in gewissem Sinne selbst noch eine Fabelwelt darstellt – wie die Blätter der Lasterfolge.  [34] Wie dieses Schema, zunächst noch einigermaßen trivial die Phantastik der Masken, dann immer kühner werdend, die Phantastik der allgemeinen Vorgänge entdeckt und sichtbar macht – von den Kinderspielen bis zu den Bienenzüchtern – habe ich oben dargestellt. Tolnai hat sich dieser Erkenntnis eines Übergangs von der Schaffung des Phantastischen (in der Lasterfolge 1556 bis 1557, nach dem Beispiele des Bosch) zur Beobachtung des Phantastischen (in der Tugendfolge 1558 bis 1559) stark genähert, ohne sich der Früchte dieser Einsicht bemächtigen zu können.

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Zugleich mit dieser Entdeckung des Phantastischen in der alltäglichen Welt, die dadurch entfremdet wird, und der Entwicklung zahlreicher Hilfsmittel zur Vermittlung dieser Erfahrung an den Betrachter entsteht auch der zweite Grundgedanke der Bruegelschen Bilder: die Zwiespältigkeit, wie wir oben eingesehen haben, das anschauliche Äquivalent für den Gegensatz von Natur und Unnatur, für das Fremdsein der Menschenwelt in der Natur. Die Zwiespältigkeit fehlt noch den Niederländischen Sprichwörtern, in denen – wie in den Lastern – auch noch die Landschaftsbühne aus einzelnen Schauplätzen zusammengestellt wird. Deutlich ist der Gegensatz zwischen homogener Landschaftsbühne und stückhaft in sie eingesetzten, eingestreuten Figuren schon in dem Faschingsbild und noch deutlicher in den Kinderspielen.

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Die Farbe tritt bei diesen synthetisch erzeugten Bildern nun in den Dienst der neuen Ideen. Sie unterstützt einerseits das Erlebnis der Entfremdung; in welcher Weise das geschieht, wäre im einzelnen zu verfolgen. Sie unterstützt anderseits ganz besonders die Zwiespältigkeit des Bildbaues, indem sie die einzelnen Figuren aus dem Raum herauslösen, in Stücke zerfallen und durcheinanderwirbeln hilft. Indem zum Beispiel derselbe Farbton Teilen zugewiesen wird, die zu verschiedenen Figuren gehören – dasselbe Hellblau zum Beispiel im Rumpf der einen, in den Armen einer anderen, in den Beinen einer dritten, in der ›Hülle‹ einer vierten Figur wiederkehrt –, wird die Zerstückelung der Figuren in einer Weise gesteigert, die nur der farbigen Gestaltung erreichbar ist. Die Graphik ist also nicht mehr imstande, diese neuen Ideen in der gleichen Vollkommenheit zu veranschaulichen wie die Malerei. Deshalb treten in dieser mittleren Epoche die bildmäßigen Blätter (Tugendfolge) an Bedeutung gegenüber den Gemälden in den Hintergrund. Neben ihnen bildet sich eine neue Sondergattung: die ›kleine‹ Landschaftsgruppe von 1559 bis 1562, in welcher der verklärte Naturraum, der Gegenspieler der entfremdeten Menschenwelt in den Gemälden, studiert wird.

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Die Jahre 1558 bis 1559 sind die wirklich entscheidenden in Bruegels Entwicklung. In ihnen schießen die großen Ideen zusammen, es bildet sich die eigentümliche macchia Bruegels, und Bruegel verwandelt sich aus einem Graphiker, der nur gelegentlich malt, in einen Maler.

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Nach der mittleren Epoche Bruegels, die ich nicht mehr zu schildern brauche, da die ganze Untersuchung von ihr ausgegangen ist, vollzieht sich noch einmal, nicht plötzlich, sondern allmählich, eine große Wandlung. Die Kluft zwischen den heterogenen Bildbestandteilen wird nicht geschlossen, aber eingeebnet, der Riß wird verheilt. Das Dokument eben dieser Wandlung sind vor allem die grandiosen Bilder des Jahreslaufs. In der formalen Sphäre geschieht diese Einebnung, indem jene ungewöhnlichen Eigenschaften, die bei einer vereinheitlichenden Bildauffassung als ›Fehler‹ erscheinen würden: das hart Konturierte, Fleckenhafte, Flache, Schattenlose der Figuren, gewissermaßen realistisch motiviert werden. Das heißt, es werden solche natürliche Bedingungen aufgesucht, bei denen sich wirkliche Bilder der Außenwelt so verhalten, wie das Bildprinzip Bruegels es fordert. Eine solche ›Bedingung‹ ist zum Beispiel der Winter. Der Schnee als Hintergrund läßt in ›natürlicher‹ Weise die Figuren flach, fleckig, silhouettenhaft, scharf begrenzt, gegeneinander und gegen den Raumgrund isoliert erscheinen, ohne daß diese Eigenschaften als ungewöhnlich und sonderbar erscheinen, da sie ja in einer alltäglichen Erfahrung begründet sind.  [35] Eine andere Möglichkeit des Ausgleichs ist gleichfalls in einer natürlichen Erfahrung begründet, in der nämlich, daß Figuren, die in der vordersten Zone des Sehraums stehen, unter bestimmten Umständen flacher aussehen als weiter rückwärts befindliche; von dieser Beobachtung macht zum Beispiel das Bild des Herbstes Gebrauch.

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In der nichtformalen Sphäre entspricht diesem neuen ›Realismus‹ das Einebnen der Kluft zwischen Menschenwelt und Natur. Die Menschen erscheinen nun selbst als Naturwesen. Ein großes Beispiel dafür ist wiederum der Herbst. Den Übergang von Mensch zu Natur vermitteln hier die Tiere. Die Hirten mit ihren scheckigen Lederhäuten und schwerfälligen Bewegungen sind dem Vieh angeglichen, mit dem sie umgehen, das Vieh wieder an die Landschaft, zu der es gehört. Die Rücken der Kühe ›gleichen‹ den Linien der Hügel, ihre Schwänze unterscheiden sich kaum von dem Wurzelwerk der Bäume, ihr scheckiges Fell klingt zusammen mit der Scheckigkeit des Herbstes. Die ›anschauliche Metapher‹ – die oben als Vehikel der Entfremdung erkannt wurde – dient hier einer Angleichung von Mensch, Tier und Landschaft.

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Indes: Wenn der Riß auch vernäht ist, so bleibt er im Bilde doch fühlbar, in der formalen Sphäre als eine verdeckte Dissonanz, in der gegenständlichen als Erniedrigung des Menschen zum Animalisch-Vegetabilischen hin. Das verleiht diesen Naturdarstellungen ihre unvergleichliche große Melancholie. Ganz zum Schluß bleibt die Natur so menschenleer wie in den Zeichnungen, mit denen Bruegel begonnen hatte. In der Elster auf dem Galgen sind die winzigen Figuren des tanzenden Bauernvolkes ›Staffage‹, ähnlich wie in jenen frühen Blättern.

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Daneben aber entstehen monumentale Menschendarstellungen mit nur wenigen großen Figuren – vorgeformt in Werken Boschs wie den Blinden und heroisiert mit den Mitteln der italienischen Kunst –, in denen auf der Folie einer stillen Natur die Fragwürdigkeit des Menschen in vollendeter Weise anschaulich gemacht wird: die Bauern (Bauernhochzeit und Kirmes), die Krüppel – eine emanzipierte Gruppe aus dem kleinfigurigen Bild des Faschings –, die Bienenzüchter, die Blinden, der fliehende Hirt. Es sondern sich also – vergröbert gesehen – wieder zwei Bildgattungen: der Weg, den Bruegel zurückgelegt hat, kann nicht besser sichtbar gemacht werden, als wenn man jede Gattung mit der entsprechenden der Frühzeit vergleicht.

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Erst jetzt gibt es in Bruegels Bildern ›Helden‹: sein ›Held‹ ist einerseits die Natur, anderseits der Mensch am Rande des Menschlichen.

X

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Diese auf eine viel zu grobe Formel gebrachte ›Entwicklung‹ der Kunst Bruegels – Zwiespalt in zwei Gattungen des Gestaltens, derselbe Zwiespalt in den einzelnen Bildern, Verschleierung und Auflösung des Zwiespalts – enthält zugleich untrennbar verbunden mit den Wandlungen der macchia die Geschichte der allmählichen Entfaltung, des Reifens und Wachsens der künstlerischen Fähigkeiten Bruegels.

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Es wäre keine kunstgeschichtliche, sondern eine abstrakte Betrachtung, die übersehen könnte, daß die Zeichnungen Bruegels in der ersten Phase vor 1559 als Kunstwerke herzlich unbedeutend sind, wenn auch amüsant in ihrem gegenständlichen Reichtum phantastischer Erfindungen oder eindrucksvoll durch ein starkes Naturgefühl. Im Rückblick sind sie interessant als Dokumente einer großen Begabung, die zu ihrer eigenen Form, zu sich, erst kommen wird. Große Kunstwerke sind unter Bruegels Frühwerken keine. Die Bilder der mittleren – und man kann jetzt, da einem Mißverständnis vorgebeugt ist, sagen: manieristischen – Zeit sind zweifellos zum Teil sehr bedeutend. Es gilt aber auch von ihnen, was Pinder vom Manierismus überhaupt konstatiert, daß ihm die letzte Stufe der Genialität versagt ist. Zwar ist in ihnen ein malerisches Äquivalent für eine sehr originelle Anschauung der sichtbaren Welt gefunden, aber die Mittel, mit denen dieses Erlebnis der ›Entfremdung‹ auf den Beschauer übertragen wird, sind zu absichtlich, man spürt den ›Trick‹ und soll ihn spüren.

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Die außerordentliche Leistung Bruegels als Künstler besteht darin, daß er diese Mittel immer mehr vervollkommnet, nämlich immer einfacher gemacht hat, so daß er zum Schluß seine Vision – und halten wir fest, daß Entfremdung eine anschauliche Erfahrung ist – ganz ungezwungen, wie das Natürlichste vermitteln kann. Die größten und nun absolut genialen Leistungen liegen in dieser letzten Periode (ungefähr 1565 bis 1568), also dort, wo der Manierismus überwunden wird – wie denn auch sonst den Eingang und den Ausgang des Manierismus die genialsten Leistungen bezeichnen.  [36] Als solche Gipfel seiner Kunst – darüber ist eine Verständigung ebenso erzielbar und ebenso notwendig wie über die stilistischen Tatsachen – wird man ansehen dürfen: unter den Jahreslaufbildern den Herbst und Winter, unter den monumentalen Menschendarstellungen allen voran die Blinden (Abb. 3), dann die Bienenzüchter (das Bild der stummen, gesichtslosen Menschen), die Krüppel, die Bauernhochzeit (wohl auch den Fliehenden Hirten). Das geänderte tiefere Verständnis dieser Bilder hat eine geänderte und höhere Bewertung mit sich gebracht: Dvořák, der ›Retter‹ Bruegels, vergleicht ihn mit Shakespeare und Michelangelo.

3 Pieter Bruegel d. Ä.: Die Parabel von den Blinden, 1568,
Öl auf Leinwand, 86 x 154 cm,
Neapel, Galleria Nazionale di Capodimonte

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Um zu zeigen, worin die künstlerische Überlegenheit der letzten großen Werke über die früheren und gleichzeitigen geringeren tatsächlich besteht, müßte man, die Analyse der Kunst Bruegels aus dem Generellen ins einzelne führend, von vorne beginnen. Es scheint mir, daß unter anderen Faktoren als einer der wirksamsten ein Zusammenklingen verschiedener ›Register‹ durch alle Regionen des Bildes hindurch sich zeigen würde. Wie das gemeint ist, sei wenigstens an einem Beispiel noch angedeutet.

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Die intensive Wirkung des Winterbildes scheint mir, zum großen Teil, auf einem solchen Zusammenklingen verschiedener ›Stimmen‹ des Bildes zu einem großen Akkord zu bestehen. Eine dieser ›Stimmen‹, die durch das ganze Bild in verschiedenster Weise wiederklingt, ist das ›Starre‹. Starr sind die Umrisse der Figuren auch schon für sich betrachtet, starr die Linien der strengen Diagonalkomposition. Starr stehen die kahlen Besen der Bäume im Frost, erstarrt vor Kälte sind Menschen und Tiere, zu Eis erstarrt das Wasser der Teiche und Flüsse, die Landschaft starrt von Schnee und Eis. Das Weiße des Schnees läßt alle Bewegungen gleichsam erstarrt erscheinen, der Vogel in der Luft zeichnet sich so starr ab, als hielte er einen Augenblick im Fluge inne. Damit verbindet sich als zweite ›Stimme‹ die Intention des ›Kalten‹. Kalt ist der farbige Akkord von Schwarz, Grünlichgrau und Weiß schon an sich. Kalt wirken die scharf und klar sich abzeichnenden Linien. Überall ist die reale Kälte des Winters sichtbar, in der sich die Menschen ›zusammenziehen‹. Dazu das ›Stumme‹ und ›Stille‹. Kein Gesicht, das zu uns spräche, ist zu erkennen, die Jäger verkriechen sich in sich selbst vor Kälte, die Hunde bellen nicht, die Raben sitzen stumm, der Schnee dämpft die fernen Geräusche. Hier macht nicht erst das Bild die Gegenstände still, sie sind still auch in Wirklichkeit. Endlich das ›Vermummte‹. Die Menschen verpackt in winterlicher Kleidung, die Häuser, die Berge verkappt und verhüllt von der weißen Masse des Schnees, verändert durch den Winter das ›Gesicht‹ der Natur. Starr, kalt, still, stumm, vermummt – diese Stimmen klingen zusammen, sie konvergieren zu einem Ausdruck, sie ›beschreiben‹ den Winter und den Tod. Beiden gemeinsam ist das Erlebnis der Entfremdung. Aber die Todesähnlichkeit des Winters, die Entfremdung der Dinge, die er mit sich bringt, wird – Katharsis! – nicht als erschreckend, sondern als gewohnt, vertraut und heimlich empfunden.

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Hier gelingt es der macchia Bruegels in unnachahmbarer Weise, Wesenszüge des Winters sichtbar zu machen, die keiner anderen macchia zugänglich wären. Einer impressionistischen macchia zum Beispiel könnte es, da sie harte Linien und Silhouetten nicht kennt, nie gelingen, das ›Starre‹ des Winters zu veranschaulichen: für sie sind die farbigen und Licht-Phänomene, die der Winter mit sich bringt, der bevorzugte Darstellungsgegenstand. Damit greift man aber am ›Wesen‹ des Winters vorbei, er wird zum bloßen Anlaß genommen. Und eine macchia, die nicht aus der Grunderfahrung der ›Entfremdung‹ entstanden ist, könnte nie das Entfremdende des Winters anschaulich machen, der über Nacht die Landschaft verwandelt wie eine Maske. Die Vision des Winters, die in diesem Bild – mit Recht – so tiefen Eindruck macht, ist also ganz und gar bedingt durch jene eigentümlichen Grundtatsachen der Kunst Bruegels: den Aspekt der Entfremdung und die zu ihr gehörende eigentümliche macchia. Andererseits ist aber für diese macchia – und sie steht ja schon vor dem Winterbild fest – der Winter ein idealer, prädestinierter Darstellungsgegenstand. Diese Affinität kündigt sich schon an im Bethlehemitischen Kindermord, wo der Schnee die fleckige Buntheit der Szene motivieren hilft; die vollkommene Deckung bringt aber erst das Bild von 1565, das – auch deshalb – das weitaus größere Kunstwerk ist.

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Ähnliches ließe sich von anderen Bildern zeigen; ich erinnere an die Dulle Griet. Und als Gegenprobe könnte man zu verstehen suchen, weshalb manche Bilder, wie zum Beispiel der Babelturm, ohne tiefere Wirkung bleiben.

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Es ist klar, daß es sich bei solchen Versuchen nur um ein Hinweisen auf die Leistung, nicht um ein Beweisen handelt.

XI

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Um die Linie der Untersuchung nicht zu verwirren, sind verschiedene Erscheinungen gar nicht beachtet worden, die unbedingt berücksichtigt werden müßten, wenn diese kurze Skizze zu einer vollständigen Theorie der Kunst Bruegels ausgestaltet werden sollte. Solange aber die Grundtatsache, der diese Untersuchung gefolgt ist, nicht klar liegt, könnte eine Betrachtung der anderen Phänomene nur verwirren.

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Zu dieser Vervollständigung würde einmal eine gründliche Berücksichtigung der Farbigkeit Bruegelscher Bilder gehören. Die wenigen Andeutungen von oben betreffen nur die Funktion der Farbe überhaupt, nicht aber die spezifische Farbenwahl und ihren Sinn. Hier müßte man sehr weit ausgreifen – ich schweige deshalb lieber ganz.

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Es wäre einzugehen auf die Bildordnung (›Komposition‹) und, eng damit verbunden auf die Wahl des Anblicks (›Augpunkts‹) und des Formats. Bruegel liebt strenge Ordnungsschemata von einfacher, beinahe geometrischer Form: Kreis, Ellipse, Kegel, Diagonale, besonders aber eine fächerförmige Ordnung. Diese strengen Schemata ergeben ganz verschiedene Wirkungen, je nachdem, ob sie sich mit dem Fleckenwirrwarr der kleinfigurigen Bilder, mit den figurenleeren Bildern der großen Landschaften oder mit den monumentalen Figuren der großfigurigen späteren Menschendarstellungen verbinden. Die Strenge dieser Komposition, die man aus italienischen Idealgemälden gewohnt ist, wirkt, angewendet auf die typischen Bildstoffe Bruegels, paradox, zwiespältig: Dvořák erschien das Bild der Krüppel aus diesem Grunde wie eine »Parodie der italienischen Pyramidenkomposition«.  [37] Diese Kompositionsschemata, die ursprünglich meistens statischen Sinn hatten, werden vielfach von Bruegel in sonderbare Bewegung versetzt: die Krüppel kriechen zentrifugal auseinander, die Pyramide des Martinsweins schießt aus Einzelleibern zusammen. Das schlägt in manchen Bildern zu einer Bewegung des Raumes selbst um, der Raum scheint zu rotieren. Dafür eignet sich besonders die Kreiskomposition – ein wunderbares Beispiel das Schlaraffenland –, vor allem aber die fächerförmige. Es entsteht ein Eindruck ähnlich dem Erlebnis des Blicks aus dem Fenster einer fahrenden Eisenbahn, die zu ruhen scheint, während die Landschaft sich um einen fernen Mittelpunkt dreht, bei empfindlichen Betrachtern stellt sich ein leichtes Schwindelgefühl ein. Das bedeutet einmal: der Raum ist labil geworden – und man erinnere sich daran, wie das Erlebnis des labilen Raumes bei Ensor mit den Themen der Masse, der Masken und der Panik verquickt ist. Und es heißt: der Raum hat Qualitäten angenommen, die, vom normalen Erleben her, fremd und unbehaglich sind. Das Motiv des sich drehenden Raumes klingt schon deutlich an in den Kinderspielen, kehrt wieder in der Bauernhochzeit – wo die beiden Brettträger im Vordergrund die Tangente, die Tafel den Radius des Kreissektors bilden –, wird in wunderbarer Weise verbunden mit dem anderen Fächermotiv der Sonnenstrahlen in dem Stich des Sommers. Es erzeugt zwingend die Illusion des rotierenden Raumes in dem packenden Bild der Raumflucht des Fliehenden Hirten, ähnlich in dem apokryphen Bild des Überfalls und gemäßigter in den Blinden, nicht zufällig allemal verbunden mit Stoffen, in denen das Erlebnis der Gefahr in den geistigen Mittelpunkt der Darstellung rückt.

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Endlich wäre noch eine dritte Erscheinung zu beachten: Ein bestimmtes Bild – wie zum Beispiel der Winter – kann sehr Verschiedenes bedeuten, so wie ein bestimmter Vorstellungsgegenstand für ganz verschiedene Bedeutungen eintreten kann. (Zum Beispiel kann die Vorstellung eines Rumpfs ohne Kopf bedeuten: ›Brust‹, ›Geköpfter‹, ›Kopfloser‹ und noch anderes mehr).  [38] Es ist typisch für Bruegel, daß alle seine Bilder, man kann sagen ohne Ausnahme, auch dort, wo sie durchaus die Anschaulichkeit wirklicher individueller Gegenstände der Außenwelt haben, nie einzelne individuelle Gegenstände meinen – zum Beispiel nicht eine individuelle mit Namen benennbare Winterlandschaft –, sondern immer die Gattung. Das ist in gewissem Sinn gerade umgekehrt wie im Mittelalter, wo eine bestimmte individuelle Stadt gemeint, aber bloß generell gekennzeichnet sein kann, zum Beispiel durch ein Bildschema, das auch für eine andere Stadt verwendet wird. Bruegel malt nicht eine Herbstlandschaft, sondern den Herbst, nicht spielende Kinder, sondern die Kinderspiele, nicht Blinde, sondern die Blinden.

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Einen ganz eigentümlichen Sinn bekommen bei dieser Darstellung die historischen Themen, die doch etwas Einmaliges im höchsten Sinne sind. Sie werden als ›ewiger‹ Fall gefaßt und allenfalls sekundär durch Hinzufügen einer ›bezeichnenden‹ Szene als dieses besondere Exemplar eines zu allen Zeiten möglichen Ereignisses gekennzeichnet. (Kreuztragung, Kampf der Israeliten und Philister, Kindermord, Paulussturz; nur wenig anders liegt die Sache beim Sturz des Ikarus.) Bei dieser Auffassung ist ein Portrait als Portrait nicht gestaltbar. Das Selbstbildnis Bruegels, das zum Unterschied von dem des Kenners zweifellos individuelle Züge trägt – auch hier eine Stückelung aus zwei Realitätsgraden! –, wird genau so wie das Historienbild zu einem ewigen Fall: ›der Maler und der Kenner‹. Auch schon die Naturaufnahmen Bruegels zielen auf das Allgemeine, das heißt: auch wo ein bestimmter Berg oder eine bestimmte Stadt, Burg usw. vorkommen, wird darin die Gattung gesehen, zum Beispiel der Berg schlechthin.  [39]

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Dieses Unterstellen der Bilder unter generelle Bedeutungen gibt ihnen dann oft einen eigentümlichen sinnbildlichen Hintersinn. Es hängt zusammen mit dem Prinzip des sich verlarvenden Bildes überhaupt.

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Im einzelnen wird sich für das Verständnis der Bruegelschen Bildform noch vieles ergeben, wenn die Bildmittel historisch abgeleitet sind, deren sich Bruegel bedient hat (Format, Kolorit, Technik usw.). Zur Lösung dieser Aufgabe liegen schon viele Einzelbeobachtungen vor, die zweifellos noch sehr vermehrt werden könnten.

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Die spezifischen Bildmittel Bruegels kommen – und das ist nur natürlich – zum Teil aus den gleichen Quellen, aus denen er auch seine Gesamtanschauung und die ihr entsprechende macchia abgeleitet hat. So hat Bruegel von Bosch nicht nur die entfremdende Schau (unter Eliminierung des Diabolischen) entnommen, sondern auch die mit ihr innerlich zusammenhängende glatte Flächenhaftigkeit – das »Hohle und Tote« – der Figuren und außerdem eine Fülle von Einzelerfindungen (wenn auch wörtliche Entlehnungen selten sind). Die Liste der manieristischen Lehen Bruegels bleibt noch zu entwerfen: der allgemeine Hinweis Dvořáks ist da noch nicht verwertet worden.

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Zum Teil aber kommen die Bildmittel Bruegels auch aus Formkreisen, mit denen Bruegels ›Vision‹ in tieferem Sinne nichts zu tun hat. Zum Beispiel sind die späten großfigurigen Gemälde Bruegels – jene großen Bilder in Querformat, in denen wenige monumentale ›Genre‹-Figuren auf dem Hintergrund einer stillen Dorflandschaft erscheinen – in auffallender Weise vorgeformt in Bildern des sogenannten Braunschweiger Monogrammisten (worauf Baldass zuerst aufmerksam gemacht hat  [40] ), bei einem Künstler, dem die Tiefe der entfremdenden ›Vision‹ Bruegels vollständig abgeht. Der wichtigste Hinweis für das Verständnis solcher Bildmittel Bruegels ist vielleicht der Glücks auf die Kunst der Wandteppiche.  [41] Dieser Hinweis erklärt das ›Teppichartige‹ der Bilder Bruegels, das in einer unbefangenen Beschreibung von selbst hervortritt, durch einen tatsächlichen historischen Zusammenhang mit der Kunst der burgundischen Wandteppiche. Nach Glück ist eine Eigentümlichkeit Bruegels, »die in allen seinen Gemälden, auch denen der reifen Zeit, auffällt und ihnen dank seiner unvergleichlichen Kunst eine vorher ungeahnte Größe des Stils verleiht: das Fehlen der malerischen Werte, der Valeurs, der Durchmodellierung der Körper. Seine Figuren sind durchaus flächig, nichtplastisch gedacht, seine Perspektive beruht im wesentlichen auf der linearen Zeichnung und nicht auf einer kubischen Gestaltung.« Diese Beschreibung Glücks deckt sich vollkommen mit der am Anfang dieser Untersuchung gegebenen Beschreibung des einen Bildbestandteils typischer Bruegel-Bilder, nämlich der Figurenwelt. Und mit Recht folgert Glück weiter: »Wenn er (Bruegel) zu einer Zeit so arbeitete, da das Helldunkel und die Durchbildung der Körper schon in der gesamten europäischen Malerei herrschend geworden war, so ist er offenbar […]  [42] auf einen altertümlichen Stil zurückgegangen, wie er auch manche Kostüme früherer Zeit wieder hervorgeholt hat. Seine Kunst der Fläche beruht im Grunde auf dem Stil der Wandteppiche und von deren Surrogat, den Wasserfarbenmalereien auf Leinwand

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Diese Feststellung ist zweifellos richtig. Sie ist um so überzeugender, als durch sie außer den aufgezählten anachronistischen Eigenschaften auch noch das stereotype Querformat der Bilder Bruegels und selbst noch technische Eigentümlichkeiten erklärt werden und überdies die Bildstoffe, die in den Wandteppichen mit Vorliebe dargestellt wurden, zum Teil dieselben sind, die auch Bruegel bevorzugt: ›arme Leute‹, die man als kuriose, komische Figuren ansieht.

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Aber durch diese wichtige Entdeckung – eine der wichtigsten der gesamten Bruegel-Forschung – ist die eigentliche Frage durchaus nicht beantwortet, welchen Sinn für Bruegel dieses Zurückgreifen auf einen altertümlichen Stil hatte, und es ist auch nicht erklärt, warum Bruegel diesen Stil nur für die Figurenwelt beibehalten, für die landschaftliche Umwelt, in der die Figuren erscheinen, aber einen ganz anderen, neueren Stil benutzt hat, der Valeurs und Modellierung kennt, der mit weichen Übergängen und Luftperspektive arbeitet. Diese Verquickung zweier Darstellungsarten ist das eigentlich Charakteristische und das Paradoxe der Bildform Bruegels, sie fehlt durchaus – das läßt sich, obwohl nur wenig erhalten ist, mit Sicherheit behaupten – der Kunst der Wandteppiche, in denen auch das Umfeld der Figuren durchaus in der gleichen flächigen Art dargestellt war wie die Figuren selbst.

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Diese beiden bisher nicht beantworteten, aber auch nicht gestellten Fragen sind es, auf die diese Untersuchung Antworten angeboten hat.

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Die Wandteppiche sind eine Kunst für ein höfisches Publikum, für das die Darstellungen der Bauern den Reiz des Fremden und des Komischen hatten. Den Bestellern dieser Wandteppiche war der Bauer fremd, aber fremd nur im Empirischen, soziologischen, nicht in dem absoluten, anschaulichen und tief menschlichen Sinn wie bei Bruegel. Allerdings können von einem ungeistigen Publikum auch die Bilder Bruegels in einer ähnlichen Weise betrachtet und genossen werden wie jene Teppichbilder von dem burgundischen Hof.

 

Bildnachweis

Abb. 1: The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002.

Abb. 2: The Yorck Project: 5.000 Handzeichnungen bedeutender Meister. DVD-ROM, 2003.

Abb. 3: The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002.

 



[1] Die Druckfassung der Habilitationsschrift Die ›Macchia‹ Bruegels erschien erstmals in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, Neue Folge 8, 1934, S. 137-159. Abgedruckt in: Hans Sedlmayr: Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 1, S. 274-318. © Mäander Verlag.

[2] Benedetto Croce: Kleine Schriften zur Ästhetik, I. Band, S. 249. – Die deutsche Kunstgeschichte verdankt den Hinweis auf diese Arbeiten und ihre Übersetzung der Tätigkeit Julius von Schlossers.

[3] Hier habe ich die Worte »in der Lichtwirkung«, die das Phänomen zu eng begrenzen, fortgelassen.

[4] Uns würde es näherliegen, von »geistiger Ferne« zu sprechen.

[5] Ich meine das Buch Karl Tolnais: Die Zeichnungen Pieter Bruegels, R. Piper & Co., München 1925.

[6] Ich denke, wenn ich hier und im folgenden von Bruegel–Bildern im allgemeinen, als Typus, spreche, vorzugsweise an jene Gruppe vielfiguriger Gemälde, mit denen das gemalte Oeuvre Bruegels beginnt: die ^Niederländischen Sprichwörter", den „Kampf des Faschings mit der Fasten", die „Kinderspiele" usw., in denen sich die spezifische „macchia" Bruegels zuerst entschieden ausgeformt hat. Den Übergang von diesen Bildern zu den späteren und früheren Schöpfungen wird der IX. Abschnitt herstellen.

[7] »Wie das Muster eines Teppichs auf dem Schauplatz verteilt« (Dvořák).

[8] Etwa wie Romdahl, der die Flächigkeit und den plumpen Umriß der Tiere im Bild des Herbstes aus der mangelnden Praxis Bruegels als Tiermaler erklären zu können glaubt.

[9] Man versuche einmal, sich dieses Bildthema in eine andere Bildform umgegossen zu denken, um das Unzertrennliche von ›macchia‹ und Thema ganz konkret zu erfahren.

[10] Hinzufügen darf man noch den Rausch (Sankt-Martins-Fest).

[11] Zum Beispiel befördert wiederholtes monotones Vorsprechen ein und desselben Wortes das Abstreifen des Wortsinnes, ›Starren‹ das Abstreifen der anschaulichen Bedeutung.

[12] Man denke an die wunderbare Schilderung dieser Erfahrung in Rilkes Malte Laurids Brigge, der überhaupt eine seltene Sammlung der verschiedenen Entfremdungserlebnisse enthält.

[13] In den Lebenszuständen selbst »sucht und findet er das Groteske und Absonderliche«, sagt Dvořák von Bruegel. »Es verwandelt sich die Wirklichkeit in Utopie«, beobachtet sehr scharfsinnig Fraenger.

[14] Deshalb wird so oft »die Gestalt von ihrem Gewand beherrscht, meist sogar verschluckt« (Tolnai, Beiträge).

[15] »Selbst das physiognomische Interesse mußte der Verblockung weichen«, meint Dvořák. In Wahrheit ergibt sich die Reduktion des Physiognomischen wie die Verblockung aus der Absicht des Fremdmachens.

[16] Sowohl Dvořák wie Fraenger haben das an Bruegels Figuren beobachtet. Auch Tolnai hat diese Eigentümlichkeiten beobachtet, ohne zu dem Quellpunkt vorzudringen, aus dem sie sich ergeben: »Nicht nur das angeboren Groteske des Mißwuchses gestaltet Bruegel, sondern das phantomhaft Groteske, das jede gewöhnlichste Bewegung des Menschen tückisch begleitet.« »In den Gemälden ist die Gesamtfigur nichts anderes als eine markante Gebärde, herausgelöst aus dem Vor- und Nachher der Betätigung, gleichsam in ihrem ganzen Dasein zur gebärdenhaften Silhouette eingefroren.«

[17] »Selbst die leblosen Dinge scheinen lebendig geworden zu sein", bemerkt Dvořá.

[18] Zum Beispiel im Prospectus Tiburtinus.

[19] Ganz ausgezeichnet sieht Tolnai: »Die Kluft zwischen des Beschauers Raumwelt und diesem fremden Bildbereich bleibt unüberbrückbar, möge der Bildbereich noch so nahe an ihn herangerückt werden.« Hier ist sogar das Wort gefallen, das den Zugang zum Quellpunkt der Visionen Bruegels erschließt.

[20] Das Maskenhafte – in seiner Ausdrucksweise: das Silenoshermenartige – hat auch Tolnai intensiv gefühlt. Er sucht aber den zweiten verborgenen Sinn des Bildes in einer Zone, die von der hier entwickelten Auffassung her selbst noch als vordergründig erscheint.

[21] Psychopathologie, 3. Auflage 1929.

[22] Wilhelm Fraenger: James Ensor: Die Kathedrale, in: Die graphischen Künste 49, 1926, Nr. 4, S. 81 ff.

[23] Als biographischen Beitrag zum Verständnis jener Wurzel der Bruegelschen Kunst (i. e. ›Entfremdung‹, ›Maske‹ usw.) wird man die ›Anekdote‹ Manders anführen dürfen, daß Bruegel es liebte, »die Leute, sogar seine eigenen Gesellen, mit Spuk und Gepolter in Schrecken zu versetzen«.

[24] Rein psychologisch–deskriptiv gesehen, dürfte eine verschiedene Leibhaftigkeit der Visionen anzunehmen sein, die den Bildern hier und dort zugrunde liegen.

[25] Pinder sagt an einer Stelle, die ich dem Sinn nach aus dem Gedächtnis zitiere: Früher hieß, einen Propheten darstellen, sich in den erhabenen Zustand der Prophetie versetzen, jetzt heißt es oft nur mehr, sich vorstellen, wie es aussieht, wenn einer liest oder schreibt.

[26] Später – in der historischen Entwicklung später – wird auch die Farbe in ähnlicher Weise problematisch.

[27] Beiträge zu einer Geschichte der österreichischen Plastik, Leipzig 1931.

[28] Siehe Charles de Tolnay: Hieronymus Bosch, Basel 1937 (französisch), besonders den Abschnitt »Conclusion«, S. 51.

[29] Die chaotische Bildform des Bosch, die von Bruegel säkularisiert wird, war ursprünglich einer einzigen Art von Bildern vorbehalten, den Vergegenwärtigungen der Hölle (Beispiel: die Petersburger Tafel). Die gesamte Antike kennt (deshalb) nichts Ähnliches.

[30] In seiner unveröffentlichten Dissertation: Hieronymus Bosch (1925). Wien, Universitätsbibliothek.

[31] Tolnai hat diese Komponente der Kunst des Bosch richtig erkannt: »Das Weltheim wurde zur Weltfremde«, sagt er an einer Stelle, nämlich (füge ich hinzu) zur un-heimlichen, weil von Dämonen unsicher gemachten Welt. An einer anderen Stelle spricht er ausdrücklich von »Entfremdung der Umwelt«.

[32] Die Symptome des Manierismus werden in bisher unerreichter Weise gesehen bei Pinder: Zur Physiognomik des Manierismus, in: Festschrift für Ludwig Klages, Leipzig 1932, S. 148 ff. – Zu einer Theorie des Manierismus ist zuerst Dvořák mit der tiefen Kennzeichnung: »Möglichkeit, den Realitätsgrad verschieden zu wählen«, vorgestoßen (Pieter Bruegel der Ältere, in: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, S. 219 ff.). Pinder folgte mit dem wichtigen Begriff der »auferlegten Form« (in Vorlesungen seit 1927), der allerdings gegen das Phänomen des Klassizismus keine Grenze hat, später mit den oben zitierten Kennzeichnungen. Ich selbst habe das Merkmal der Zweiheitlichkeit manieristischer Strukturen und der Abneigung gegen das System als bestimmend anzusehen versucht (Skizze des Manieristischen, in: Die Architektur Borrominis, 1930, S. 152 ff.). Diese ersten Ansätze einer Theorie werden vielversprechend entwickelt in einer Dissertation des II. Wiener Kunsthistorischen Instituts über Giulio Romano von Ernst Gombrich, 1932, erschienen im Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, N.F., Bd. 8 und 9, und besonders in einer Arbeit Carl Linferts über Schloß Écouen, abgeschlossen 1933. Die Gedanken Linferts haben zur Entwicklung meines vorliegenden Versuchs wesentlich beigetragen. – Den Arbeiten Pevsners über manieristische Malerei (im Handbuch für Kunstwissenschaft seit 1931) und Michalskis über manieristische Architektur (in Zeitschrift für Kunstgeschichte 1933, Heft 2) geht eine Gesamtanschauung des Manierismus ab, sie urteilen nur nach Symptomen. Für Michalski wird deshalb die reiche manieristische Architektur überhaupt nicht sichtbar. Zum Problem der manieristischen Architektur zu vergleichen mein Versuch über: Die Area Capitolina des Michelangelo (in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 52, 1931, S. 176-180), ergänzt durch die Konfrontation mit dem Kapitol des Della Porta (in Zeitschrift für Kunstgeschichte 1934), und die erwähnte Arbeit Ernst Gombrichs, die mit dem fruchtbaren Begriff der »gestörten Form« das manieristische Wesen falsch gesehener Architekturen entdeckt. – Die Überschau Antals (Kritische Berichte, 1928/29, S. 207 ff.), die in dankenswerter Weise auf reiches, von der Forschung nicht beachtetes Material aufmerksam macht, versucht, dieses Material auf Grund abstrakter, losgerissener Stilmerkmale und einzelner äußerlicher Formmotive nach Filiationen und ›Einflüssen‹ zu ordnen. Das Ergebnis ist die groteske Karikatur einer überholten Stilgeschichte im schlimmsten Sinn. – Die theoretische Selbstreflexion des Manierismus ist mit souveräner Klarheit dargestellt bei Julius von Schlosser: Die Kunstliteratur, 1924, S. 338 ff. – Einen unmittelbaren Zugang zum Verständnis der manieristischen Grundphänomene, wie jener der Kunst Bruegels, hat uns jene Richtung der gegenwärtigen Kunst erschlossen, die sich Surrealismus nennt und mit einer eigentümlichen entfremdenden Schau auch die Stückelung aus Teilen verschiedener Realität wieder zur Geltung bringt (Prinzip der Montage). Ihren Leitgedanken kennzeichnet einer ihrer Anhänger, Jean Cocteau, in einem Versuch über den Maler Chirico so: »Le vrai réalisme consiste à montrer les choses surprenantes que l'habitude cache sous une housse et nous empêche de voir. Notre nom n'a plus forme humaine. Aucun de nous ne l'entend. Il arrive qu'un facteur qui nous réveille en le criant dans un couloir d'hotel, une caissière qui nous le demande, des élèves qui s'en moquent en classe, arrachent la housse est découvrent brusquement ce nom, détaché (!) de nous, solitaire et singulier comme un objet inconnu.« »Chirico nous montre la realité en la dépaysant. C'est un depaysagiste.« Und ferner über die Werke des Picasso: »L'œuvre de Picasso est déguisée, masquée.« (Essai de critique indirecte, Paris 1932.)

[33] Diese Ableitungen sind alle schon lange bekannt.

[34] Nachdem schon die Lasterblätter »aller Wahrscheinlichkeit nach ausschließlich aus Wortspielen und Sprichwörtern zusammengebaut« waren (Tolnai). – Das Bild ist wahrscheinlich in demselben Jahre 1559 entstanden wie der Kampf zwischen Fasching und Fasten, ist aber nach seiner Bildform älter als dieses.

[35] Der Winter erzeugt gewissermaßen ›von selbst‹ Bruegel-Bilder. Ein aus der Vogelperspektive gesehener, dörflicher Eislaufplatz ist potentiell ein ewiges Bruegel-Bild, weil er wesentliche Ingredienzien der ›typischen Bruegels‹ in natürlicher Weise enthält: das scharf Abgesonderte, Fleckige und Flache der Figuren, die Masse und ihr Durcheinander, die Vermummung als Schutz gegen die Kälte, die grotesken, aus einer unnatürlichen, ungewohnten Bewegungsart sich ergebenden Bewegungen, Posen und Verrenkungen, endlich die »erstarrende Atmosphäre« in einem mehrfachen Sinn. – Als ich beim Ansehen der Kunsttopographie »Das Burgenland«, herausgegeben von Dagobert Frey, die Abbildungen flüchtig durchblätterte, glaubte ich in dem verschneiten Friedhof der Abbildung 63 mit seinem Wirrwarr bizarrer Grabsteine ein Gemälde Bruegels oder seiner Schule zu sehen. Die photographische Aufnahme des Friedhofs zeigte eine verwandte ›macchia‹.

[36] Hier Michelangelo, dort Greco, Cervantes, Shakespeare. Vgl. Pinder, a. a. O.

[37] Zum Wesen der Parodie gehört das unvermittelte Aufeinanderplatzen zweier Sphären. Hier nur dieser Hinweis.

[38] Vgl. dazu Kurt Koffka: Zur Analyse der Vorstellungen und ihre Gesetze (Leipzig 1912), den Abschnitt »Vorstellung und Bedeutung« und besonders S. 258.

[39] Diesen Sachverhalt hat auch Tolnai gesehen, entstellt ihn aber, wenn er von »Urberg« usw. spricht. Das würde einen mythischen, platonisierenden Sinn hineintragen, der Bruegel ganz fremd ist.

[40] Ludwig von Baldass: Die niederländische Landschaftsmalerei von Patinir bis Bruegel, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien 34, 1917/1918, S. 111-158.

[41] Gustav Glück: Bruegels Gemälde, Wien 1932.

[42] Glücks Zweifel – »unbewußt oder vielleicht auch bewußt« – habe ich gestrichen; sicherlich wußte Bruegel, daß er archaisierte.

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Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Sedlmayr H.: Die ›macchia‹ Bruegels. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-54 (urn:nbn:de:0009-23-22053).  

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Kommentare

  1. Michalsky, Tanja | 29.12.2009

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