<1>

Hans Sedlmayr ist einer der umstrittensten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Zu Recht wird ihm zu starke Ideologisierung vorgeworfen, unter deren Vorzeichen er Kunstwerke als Ausdruck geistes- und sozialgeschichtlicher Epochen gedeutet und vor allem auch bewertet hat. Nichtsdestotrotz bieten seine Schriften, liest man sie kritisch und im Bewusstsein der ideologischen Verengung, nicht nur eine Reihe von ungewöhnlichen Beobachtungen, sondern insbesondere auch einen Ansatz, genuin bildliche Qualitäten zur Deutung heranzuziehen.

<2>

Mit Anleihen bei der Gestaltpsychologie wollte er eine strenge Strukturanalyse in der Kunstgeschichte etablieren. Exemplarisch hat er diese Analyse an verschiedenen Bildern Pieter Bruegels d. Ä. erprobt. Hinreichend bekannt ist die Interpretation des Blindensturzes, in der er die eigene Methode geradezu didaktisch formuliert hat. Weniger bekannt ist im Vergleich dazu sein Aufsatz zur »Macchia Bruegels«, in dem er die ›Fleckenhaftigkeit‹ einiger Gemälde dazu heranzieht, einen Dekompositionsvorgang zu konstatieren, der sich seinem Verständnis nach aus der historischen Erfahrung von Entfremdung ableiten lässt. 1934 entstanden in einer von Angst und Fremdheit bestimmten Erfahrung der Moderne wird Sedlmayrs Methode ebenso von »ostentativer Kälte der Analyse« wie einer »neuen irrationalistischen Grundierung« bestimmt (Aurenhammer 2008, S. 79). Der Versuch, das ›Ganze‹ der Werke, ihre ›eigentliche‹ Aussage zu erfassen, erscheint heute anachronistisch, weil damit eine einzig wahre, essentielle Lesart postuliert wird. Daniela Bohde konstatiert zu Recht: »Eine anschlussfähige kunsthistorische Methode, die emotionale Dimension von künstlerischen Formen zu erschließen, hat Sedlmayr damit nicht begründet« (2008, S. 262).

<3>

Im Hinblick auf die Ordnungen und die Autoreferentialität der Bruegelschen Bilder, die im Fokus jüngerer Untersuchungen stehen (Snow 1997, Meadow 2002), können Sedlmayrs Beobachtungen einer ostentativen Dekomposition jedoch fruchtbar gemacht werden. Sieht man von den Invektiven gegen den Manierismus ab, bietet Sedlmayrs Aufsatz zur »Macchia Bruegels« eine Reihe von Charakterisierungen der spezifischen Bildsprache, die gerade heute der Diskussion wert sind.

Lit.:

Aurenhammer, Hans H.: Hans Sedlmayr (1896-1984), in: Klassiker der Kunstgeschichte, hg. v. Ulrich Pfisterer, München, 2 Bde., 2008, Bd. 2, S. 76-89.

Bohde, Daniela: Pieter Bruegels macchia und Hans Sedlmayrs physiognomisches Sehen, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 57, 2008, S. 239-262.

Locher, Hubert: Hans Sedlmayr. Moderne als Negation, in: Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. v. dems., Darmstadt 2007, S. 86-91.

Meadow, Mark: Pieter Bruegel the Elders's Proverbs and the Practice of Rhetoric, Zwolle 2002.

Snow, Edward: Inside Bruegel. The Play of Images in Children's Games, New York 1997.

Zaunschirm, Thomas: Sedlmayr + Bredekamp ( www.zaunschirm.de/sedl-brede.html ).

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Michalsky T.: Hans Sedlmayr - Die ›macchia‹ Bruegels (1934). In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-55 (urn:nbn:de:0009-23-22061).  

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Artikels die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs bei dieser Online-Adresse an.

Kommentare

Es liegen noch keine Kommentare vor.

Möchten Sie Stellung zu diesem Artikel nehmen oder haben Sie Ergänzungen?

Kommentar einreichen.