<1>

Die Relevanz von Wölfflins Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur ist heute umstritten. Immerhin ist der Text durch seine Neuausgabe 1999  [1] , die Aufnahme in Kompendien zur Architekturtheorie  [2] , seine Veröffentlichung in den USA  [3] und durch unterschiedliche Studien  [4] in die Diskussion geraten. In der Nachkriegszeit nur in Joseph Ganters Heinrich Wölfflin. Kleine Schriften (1946) publiziert, blieb er lange unbeachtet. Kontextualisiert und kritisiert hat Wölfflins Dissertation unter anderen Magdalena Bushart.  [5]

<2>

Auch die Autorin dieses Kommentars hat (noch unveröffentlicht) eine Verortung von Wölfflins Position in die Einfühlungsphilosophie vorgenommen.  [6] So versuchte Wölfflin, Forschungen seines Philosophielehrers Johannes Volkelt (1848-1930) weiter zu entwickeln. Volkelt hatte Räume zu Gegenständen ästhetischer Untersuchungen erhoben. Mit dem Satz »Nur wenn wir die Kräftebewegungen, als deren Erzeugnis oder Schauplatz […] das räumliche Gebilde erscheint, mit unserer körperlichen Organisation mitmachen, sinnlich miterleben, stehen wir räumlichen Gebilden ästhetisch verständnisvoll gegenüber« hatte er zudem Wölfflins Leitprämisse in den Prolegomena vorformuliert.  [7] Den körperlichen Nachvollzug von Räumen nahm Wölfflin als gegeben an, aber anders als die Einfühlungsphilosophen um 1880 zweifelte Wölfflin an einem regelhaften Übertrag vom Ausdruck des Werks zum Eindruck des Betrachters.

<3>

Jacob Burckhardt hatte bereits 1868 zur einfühlungsbedingten Rezeption angemerkt, dass »verwickelte geistige Prozesse« bei einer Formrezeption am Werk seien, bei denen der Historiker als Subjekt auftrete, dessen Rezeptionswege ihm letztlich unbekannt blieben.  [8] Wölfflin wollte dem ›Subjektivitätsproblem‹, d. h. dem Nichtwissen über das Zusammenspiel von körperlichen und psychischen Vorgängen und der Gebundenheit der Aussage an die individuelle Persönlichkeit des Betrachters, entgegen treten. Er versuchte, innerliche Prozesse durch Bezugnahme auf die psychophysischen Forschungen von Wilhelm Wundt in den Prolegomena zu erklären: »Statt einer unbegreiflichen ›Selbstversetzung‹ hätten wir uns dann etwa vorzustellen, der optische Nervenreiz löse direkt eine Erregung der motorischen Nerven aus, die die Kontraktion von bestimmten Muskeln veranlasse«, schreibt Wölfflin.  [9] Allerdings scheiterte der Doktorand zwei Seiten nach dieser hoffnungsfrohen Aussage, die übrigens ein schönes Beispiel für einen Transferversuch aus den Naturwissenschaften ist, an der Frage der Priorität von Affekt und Gefühl. Sein Fazit: »[…] jetzt stehn wir vor Problemen, die die Grenzen aller Wissenschaft bezeichnen.«  [10]

<4>

Trotz der – z. B. von Bushart aufgezeigten – Probleme der frühen Kunstpsychologie werfen die Prolegomena (und als Vorüberlegungen sind sie schließlich auch gemeint) Fragen auf, die sie entwicklungsfähig erscheinen lassen. So steuern heute die Neurowissenschaften Erkenntnisse zu der Frage bei, wie ein Kunstwerk den Körper zu affizieren vermag und welche zerebralen Folgen dies hat. David Freedberg hat jüngst festgestellt, dass gewisse Thesen Wölfflins durch Ergebnisse der Gehirnforschung untermauert würden. Er schreibt: »[Diese Ergebnisse] have to do with the activity of areas of the brain dedicated to the imitation of specific forms of movement of others.«  [11] Freedberg verweist ausdrücklich auch auf die Bewegungssuggestion von Kunstwerken, die bestimmte zerebrale Gegenden stimulieren und in der Lage sind, Emotionen in Gang zu setzen: »It is now possible to describe the neuronal bases of just this form of embodied simulation.«  [12] Bei Wölfflin galt der gesamte Körper als perzipierendes Instrument seiner Umwelt, heute gilt das Gehirn als Sitz kognitiver und emotionaler Prozesse, die überdies messbar sind – eine Vertiefung und eine Verkürzung der Wölfflinschen Thesen zugleich. Tritt keine historische Forschung an die Seite neurologischer Befunde, so bleiben diese auf rein quantitative Aussagen beschränkt.

<5>

Eine weitere Anschlussmöglichkeit an Wölfflins Dissertation sehe ich in der Bedeutung, die er gattungsübergreifenden Betrachtungen beimaß. Er unterstützte seine einfühlungsbedingten Formvergleiche mit Beispielen aus der Lyrik, Musik, Kostümkunst und den dekorativen Künsten einer Epoche, in denen sich ein vergleichbares ›Lebensgefühl‹ ausdrücken würde. Natürlich sollte man mit der Bewertung von ›Gefühlsausdrücken‹ in oder durch Kunstwerke insofern vorsichtig sein, als Künstler oft nur in jahrelanger Arbeit Gefühle ins Material gegraben haben oder sich mit Gefühl und Ausdruck trefflich spielen lässt. Dennoch: Wie sollen im Kunstwerk gespeicherte, durchaus oft verschiedenen Gefühlslagen entspringende psychische Energien wahrgenommen und hinterfragt werden, wenn man nicht an psychologischen Fragestellungen in der Kunstgeschichte arbeitet? Hier hat Wölfflin dem Fach eine erste Grundlage verschafft.



[1] Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Erstausgabe München 1886, Neuauflage mit einem Nachwort von Jasper Cepl, Berlin 1999.

[2] Harry F. Mallgrave u. Ikonomu Eleftherios (Hg.): Empathy, Form and Space. Problems in German Aesthetics, Santa Monica 1994.

[3] Ákos Moravánzky: Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien 2003.

[4] Cammy Brothers: Michelangelo, Drawing and the Invention of Architecture, Yale University Press, New Haven u. a. 2008; Magdalena Bushart: ›Form‹ und ›Gestalt‹. Zur Psychologisierung der Kunstgeschichte um 1900, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 228), S. 147-179.

[5] Bushart 2007 (wie Anm. 4).

[6] Regine Heß: Emotionen am Werk – Zur Psychologie der Architektur von Daniel Libeskind, Lars Spuybroek und Peter Zumthor, Diss. Univ. Frankfurt am Main 2008.

[7] Johannes Volkelt: Der Symbolbegriff in der neueren Ästhetik, Jena 1876, S. 78.

[8] Jacob Burckhardt: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte (1886), hg. v. Peter F. Ganz, München/Basel 2000 (Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10), S. 26.

[9] Wölfflin 1886/1999 (wie Anm. 1), S. 13.

[10] Wölfflin 1886/1999 (wie Anm. 1), S. 15. Dies hinderte ihn dennoch nicht, sein einfühlungsästhetisch-formanalytisches Projekt in seiner Habilitationsschrift Renaissance und Barock (1888) bis hin zu einem möglichen Nachweis der Erspürbarkeit der »Lebensgefühle einer Epoche« und ihrer Formen ausreifen zu lassen. Danach brach Wölfflin seine kunstpsychologischen Forschungen ab.

[11] David Freedberg: Empathy, Motion and Emotion, in: Klaus Herding u. Antje Krause-Wahl: Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen, Taunusstein 2007, S. 17-51, hier S. 30.

[12] Freedberg 2007 (wie Anm. 11), S. 30.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Heß R.: Kommentar zu Heinrich Wölfflins Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886) - Probleme und Relevanz. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-38 (urn:nbn:de:0009-23-19483).  

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Artikels die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs bei dieser Online-Adresse an.

Kommentare

Es liegen noch keine Kommentare vor.

Möchten Sie Stellung zu diesem Artikel nehmen oder haben Sie Ergänzungen?

Kommentar einreichen.