1. Teil: Einleitung – Diagnose – Diskursanalyse

Einleitung

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Das Paradigma der ›Gegenwartskunst‹ ist eng mit dem Eindruck verbunden, dass sich die Kunstwelt unserer Zeit grundlegend von früheren Konstellationen unterscheidet. Dieser Eindruck einer historischen Besonderheit des Systems ›Gegenwartskunst‹ geht darauf zurück, dass die verschiedenen Produktionsfelder der internationalen Kunstwelt im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert einige jener radikalen Veränderungen vollzogen haben, die zu dieser Zeit in den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen mit einer unterschiedlichen Anpassungsgeschwindigkeit insgesamt gültig geworden sind. Womit wir es aus sozial- und geschichtswissenschaftlicher Sicht in der Kunstwelt seit den 1990er Jahren zu tun haben, ist jedoch weder eine völlige Neustrukturierung noch eine nahtlose Fortführung des Systems, sondern eine intensive graduelle Differenzierung, die von spezifischen ökonomischen, technologischen und sozialen Impulsen angetrieben wird. Die intuitive Erfahrung des Wandels der Kunstwelt erweist sich bei genauer Betrachtung zwar als eine Fortschreibung des im 18. Jahrhundert ausdifferenzierten Diskurssystems ›Kunst‹ – jedoch unter radikal neuen Bedingungen. Wie die Mechanismen und soziokulturellen Verflechtungen dieser graduell veränderten Kunstwelt funktionieren und wo die akuten Problemfelder und Potentiale liegen, lässt sich daher nur begrenzt durch Rückbezüge auf historische Wurzeln verstehen; vielmehr ist eine systematische und zeitgemäße soziologische Kritik gefordert, deren Ausgangsfrage lautet: Wie organisiert sich die Kunstwelt unter den seit dem späten 20. Jahrhundert zum Teil wesentlich veränderten technologischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen?

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Der vorliegende Beitrag versucht diese Frage in einer ersten Etappe zu beantworten. Die diagnostische Bestimmung der sozialen Struktur der gegenwärtigen internationalen Kunstwelt bildet den Ausgangspunkt und bestimmt somit das Feld der Untersuchung sowie die operative Perspektive, mit welcher die betreffenden Bereiche des Kunstsystems abgetastet werden. Der zweite Schritt besteht in einer Verbindung von Begriffsbestimmung und Diskursanalyse, wobei es darum gehen wird, durch Abgrenzung und Bezugnahme auf historische und gegenwärtige Positionen einige Markierungen für eine zeitgemäße Verwendung des Leitbegriffs ›Kunstindustrie‹ abzustecken. In der dritten Phase sollen anhand des Systems des Artist Rankings als einer typischen Erscheinung der ›Kunstindustrie‹ einige signifikante Mechanismen der Industrialisierung des Kunstsystems beschrieben werden.

Diagnose: Vom Kunstbetrieb zur informationellen Kunstindustrie

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Die Neustrukturierung der Kunstwelt vollzieht sich entlang der Bahnen von Ausweitung und Wachstum. Ähnlich wie Isabelle Graw in ihrem Buch Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur (2008) und einige andere möchte ich daher vorschlagen, nicht mehr, wie bisher zumeist üblich, vom ›Kunstbetrieb‹, sondern von der ›Kunstindustrie‹ zu sprechen.  [1] Die Produktionsmittel der Kunstindustrie sind von zwei Faktoren geprägt: von globalen Netzwerken und von exponentiellen Zuwachsraten in allen involvierten Tätigkeitsbereichen, von der Kunstproduktion, den Kunstmärkten bis hin zu den verschiedenen Formen der Präsentation, der Kritik und der ökonomischen, sozialen und politischen Funktionalisierung. Was Adorno schon über ›seinen‹ Begriff der ›Kulturindustrie‹ sagte, gilt auch hier: Der Ausdruck ›Industrie‹ ist in diesem Zusammenhang nicht wörtlich zu nehmen, sondern im übertragenen Sinn als Begriffsbehälter für alle neuen Formen der Standardisierung, Rationalisierung, Produktivitäts- und Effizienzsteigerung und ähnliche Systematisierungen, die heute die Verbreitung, Wahrnehmung und Nutzung von Kunst kennzeichnen.  [2]

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Die wesentlichen Impulse zum Wandel der Kunstwelt gingen wahrscheinlich nur zu einem geringen Teil aus dem Kunstsystem selbst hervor; es waren vielmehr äußere Bedingungen, welche die neuen, graduellen Differenzierungen unumgänglich gemacht haben, die jedoch aufgrund der kulturellen und sozialen Bereitschaft der Kunstwelt-Akteure, diese aufzunehmen, eine rasche und tiefgreifende Restrukturierung des Systems herbeiführten. Der zentrale historische Faktor, der für die Umstrukturierung der Gesellschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts und mithin auch für den zeitgleichen Wandel der Kunstwelt vom Betrieb zur Industrie verantwortlich ist, besteht in der Herausbildung eines »neuen techno-ökonomischen Systems«; der Soziologe Manuel Castells bezeichnet dieses System als »informationellen Kapitalismus«.  [3]

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Nach Castells’ in den späten 1990er Jahren durchgeführten Untersuchungen haben sich die informationstechnologischen Revolutionen seit dem Ende der 1960er Jahre, die Krise und Neustrukturierung des Kapitalismus seit den 1980ern und das Aufblühen verschiedener kultureller, sozialer und emanzipativer Bewegungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer historischen Dynamik vereint, die eine neue Sozialstruktur hervorgebracht hat, nämlich die »Netzwerkgesellschaft«  [4] , eine neue Wirtschaftsform, die informationelle, globale und vernetzte Ökonomie  [5] , und eine neue Kultur, die »Kultur der realen Virtualität«  [6] . Das Paradigma, das den neuen gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Formen und damit auch der Kunstwelt als gemeinsames strukturelles Muster zugrunde liegt, besteht in der Ideologie des Informationellen. Darunter ist zu verstehen, dass »die Schaffung, die Verarbeitung und die Weitergabe von Information unter den neuen technologischen Bedingungen zu grundlegenden Quellen von Produktivität und Macht werden«.  [7] Mit den neuen Technologien haben sich zum einen globale Informations- und Kommunikationsnetzwerke herausgebildet, zum anderen stellen neue computerbasierte ökonometrische Instrumente das Werkzeug zur Verfügung, die Informationsflut produktiv zu analysieren und damit systematische Entscheidungsgrundlagen herzustellen. Die Verfügbarkeit und Fähigkeit zur Nutzung von global vernetzten Informations- und Kommunikationstechnologien zählen zu den zentralen Faktoren, die für die Kluft zwischen Reichtum, Macht, Erfolg und Anerkennung einerseits sowie sozialer Exklusion und Armut andererseits verantwortlich sind.

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Dieser Prozess der »Informatisierung«  [8] begann in der Kunstwelt bereits in den 1970er Jahren (mit dem »Kunstkompass« von Willi Bongard) und nahm in den 1990er Jahren mit der weltweiten Implementierung von zunehmend umfassenden Online-Datenbanken und elektronischer, mobiler Kommunikation eine Dynamik an, die seither das gesamte künstlerische Feld durchzieht. Für die Kunstwelt bedeutet diese Informatisierung mit all den Faktoren, die mit ihr einhergehen wie globale Expansion, zunehmende Vernetzung, exponentielles Wachstum, Ballung und Konzentration, Ungleichheit und Hierarchisierung, Rationalisierung, Produktivitäts- und Effizienzsteigerung eine Wende vom Einzelunternehmertum – von den Künstlern, Kritikern, Kuratoren, Sammlern und Galeristen als ›Einzelunternehmer‹, die in Netzwerken kooperieren – hin zur informationellen, globalen Kunstindustrie. Im Prinzip sind alle Tätigkeitsbereiche der Kunstwelt heute von den sozialen und technologischen Formen der Informationsindustrie durchzogen. Das reicht vom ›Gossip‹  [9] , dem informellen Austausch der Kunstwelt-Akteure, bis zum Artist Ranking, dem ökonometrisch-statistischen Analyse- und Vorhersageinstrument für Karriere- und Marktentwicklungen.

Begriffsbildung und Diskursanalyse

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Die Industrialisierung des künstlerischen Feldes unter der Voraussetzung des informationstechnologischen Paradigmas lässt sich in den Diskursen der Gegenwartskunst als Eindruck ablesen, der sich von einer gemeinsamen Erfahrung in der Kunstwelt ableitet, ohne dass jedoch systematisch analysiert und definiert wäre, was darunter konkret zu verstehen sei. Es ist ein Eindruck, der in vergleichbarer Weise bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts existierte, als Parallele zu den neuen Erfahrungen, die die Industrialisierung der Waren- und Güterproduktion und die Herausbildung der Arbeiterschaft und der Klasse der Industriellen zunächst in Europa mit sich brachten. Die Neustrukturierung der europäischen Gesellschaft unter dem Vorzeichen der industriellen Expansion betraf alle gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche. Vor allem auch die durchdringenden Eigenschaften der Industrialisierung, die auf Produktivitäts- und Absatzsteigerung abzielten und zunehmend alle wichtigen Denkmuster auf ökonomische Maximen reduzierten, schwappten bald in das Feld der Künstler, ihrer Förderer und Sammler über.

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Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert bezeichnet in den Notizen zu seinem Roman Die Erziehung des Herzens (1869), in dem er das komplexe soziale Gefüge von Künstlern und Geschäftsleuten in Paris um die Mitte des 19. Jahrhunderts seziert, den Gemäldehändler Arnoux (in seinen Notizen nennt er ihn noch Moreau) als einen »Kunstindustriellen«, später als einen »reinen Industriellen«. An der Figur von Arnoux entspinnt sich im Laufe der Geschichte die zentrale Bedeutung von Geschäftsbeziehungen und Reichtum in der Kunstwelt. Arnoux gibt zudem eine einflussreiche Zeitschrift heraus, die den sprechenden Titel »Industrielle Kunst« trägt. Der Begriff ›Industrielle Kunst‹ repräsentiert bei Flaubert das Desinteresse der Geschäftswelt an den Überzeugungen der Menschen, sie zeigt den Künstler als ›Wendehals‹ und in seiner Abhängigkeit von der Anerkennung durch eine vereinnahmende Kunstindustrie. Entsprechend schreibt Pierre Bourdieu in seinem 1992 veröffentlichten soziologischen Werk Die Regeln der Kunst, in dem er von Flauberts Milieustudie ausgeht: »[…] die Industrielle Kunst ist auch eine Kunstindustrie, die die Arbeit der Künstler deshalb ökonomisch auszubeuten vermag, weil sie die Produktion der Schriftsteller und Künstler durch deren Konsekration zu lenken in der Lage ist.«  [10] Flaubert selbst beschreibt die »Industrielle Kunst« als »neutraler Boden, auf dem allerlei Gegnerschaften sich gemütlich zusammenfanden«, als ein Ort, an dem sich Künstler mit gegensätzlichen Positionen trafen, austauschten und präsentierten.  [11] Egal, ob politische oder ästhetische Theorie, ob Verfechter gesellschaftlich engagierter oder selbstzweckhafter Kunst, am Ort des Industriellen in der Kunstwelt legten die Vertreter von ansonsten unvereinbaren intellektuellen Überzeugungen ihren Widerwillen gegenüber dem anderen ab.  [12] Hier ging es auf Kosten der Überzeugung darum, ökonomisches, symbolisches und soziales Kapital zu verhandeln.

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Die Kunstindustrie ist demnach der Ort, an dem die Überzeugungen der Menschen auf soziale Stellung und Geldwerte reduziert und ihre Positionen und Ansichten nach den Kriterien von Macht und Anerkennung bewertet werden. Die diversen Formen des Kapitals werden zum Überbau, die Meinungen, Ideen und Überzeugungen zu dessen ›materieller‹ Basis. Die Position, für die jemand eintritt, wird in diesem Umkehrprozess zwar nicht inhaltlich entleert, aber verflacht und in verhandelbare Kürzel gebracht. Das Paradigma des Denkens in Kapitalformen führt in der Kunstwelt, in der die Ideen zumeist ohne einen instrumentell-funktionalen Bezug existieren, eine alle Inhalte, Ideen und Vorstellungen relativierende Metaebene ein. Was wir von Flauberts Begriff der ›Industriellen Kunst‹ und dessen Aneignung durch Bourdieu mit dem Begriff der ›Kunstindustrie‹ für die Gegenwart mitnehmen können, ist das Prinzip einer relativen Beliebigkeit, das der Kunstindustrie inhärent ist. Im Feld der Kunstindustrie bleiben die Überzeugungen und Positionen zwar immer noch different, innerhalb gewisser ideologisch und politisch akzeptabler Intervalle sind sie aber nach dem Prinzip des höheren Profits und/oder Anerkennungswerts austauschbar. Das Zeitalter der Kunstindustrie ist folglich die Phase einer relativen inhaltlichen und ästhetischen Beliebigkeit wie auch einer relativen Schizophrenie der Akteure, die zwischen gesellschaftlichem Engagement und der Abhängigkeit von der Anerkennung durch die ›Kunstindustriellen‹ oszilliert.

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Auf einen anderen Aspekt des Industriellen hebt die zweite historische Verwendung des Begriffs der Kunstindustrie ab, die ich hier ansprechen möchte, die sich aber gleichermaßen auf die im 19. Jahrhundert zunehmend expansive Erfahrung der Industrialisierung in Europa bezieht. Während der Begriff der ›Industriellen Kunst‹ bei Flaubert in Zusammenhang mit den inneren und äußeren Kontroversen über die wachsende Ökonomisierung der Kunst und der Künstler entstanden ist, verwendet der deutsche Maler und Kunstjournalist Friedrich Pecht in seinen Berichten über die Pariser Weltausstellung von 1867 diesen Begriff als eine Bezeichnung, um auf den besonderen ästhetischen Wert von Industriegütern zu verweisen. Aus seinem Buch Kunst und Kunstindustrie auf der Weltausstellung von 1867, das zuerst als durch die Ausstellung führende Artikelserie in der Deutschen Allgemeinen Zeitung publiziert wurde, spricht eine klare Bewunderung für die Ästhetik, die geschmackvolle Verzierung und die besondere Materialität der industriell gefertigten Güter aller Art: von Gitterportalen bis zu Gussstahlkanonen, vom Buchdruck bis zur Fotografie, vom Möbel bis zur Stoff- und Kleiderproduktion. Auf den Weltausstellungen und den großen nationalen Industrieausstellungen wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal deutlich, zu welchen Leistungen die industrielle Produktion in der Lage war und welchen ästhetischen Umbruch sie für die Alltagskultur bedeuten würde. Es ist daher kein Zufall, dass die Weltausstellungen seit London 1851 zwar einen Schwerpunkt auf Industrie und Handwerk legten, aber immer auch wesentliche Bereiche für Kunstausstellungen reservierten, wodurch eine Parallele zwischen industrieller und künstlerisch-ästhetischer Produktion hergestellt wurde.

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Pecht teilt sein Buch in die Kategorien ›Kunst‹ und ›Kunstindustrie‹ auf, setzt beide aber zugleich auch zueinander in Beziehung. Im Vorwort spricht er von der »Kunst als Lehrmeisterin der Industrie«  [13] , an anderer Stelle nennt er als Ursachen für die damalige »Superiorität« der französischen Kunstindustrie eine »alle Produktion so erleichternde ungeheure Vereinigung von künstlerischen und industriellen Kräften in Paris« sowie eine »ungeheure innere Konsumtion und eine fast noch größere ausländische« der sich durch Geschmack, Eleganz und Neuheit auszeichnenden französischen Industriegüter.  [14] Exakt diese zwei Punkte können wir auch für eine Charakterisierung der Kunstindustrie der Gegenwart aufnehmen, wobei sich der Begriff heute nicht auf die industrielle Güterproduktion bezieht, sondern in einer analogen, aber zugleich eigenständigen Weise auf einige Grundbedingungen des künstlerischen Feldes. Die Kunstindustrie unserer Zeit zeichnet sich erstens vor allem in informationstechnologischer Hinsicht durch eine Verflechtung von künstlerischer Produktion und industriellen Kräften aus sowie zweitens durch einen enorm gewachsenen Konsum von Kunst, der bei Biennalen, Kunstmessen oder auch der künstlerischen Choreographierung von Megaevents, wie beispielsweise der Eröffnung der Olympiade von Peking (2008), zunehmend international und auf populären Ebenen stattfindet. Zwar sind KünstlerInnen, die wie Andy Warhol, Victor Vasarely, Takashi Murakami oder Erwin Wurm strategisch in Massen produzier(t)en, oder deren Werke, wenn auch als Unikate, aus industriell gefertigten Materialien hergestellt sind wie jene von Donald Judd, Dan Flavin oder Charlotte Posenenske, nicht weit vom Begriff der ›ästhetischen Industrie‹ Pechts entfernt; das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sich eine zeitgemäße Verwendung des Begriffs ›Kunstindustrie‹ gerade nicht auf den Produktionsvorgang selbst beschränkt. Erst dann ist es möglich, die ebenso ›industrielle‹ Verfahrensweise von Künstlern wie Neo Rauch und Damien Hirst zu verstehen, deren kommerzieller Erfolg gerade auch darauf beruht, dass sie mit einigen wenigen Werken eine mediale und dezidiert exklusionistisch funktionierende Steigerungsspirale erzeugen.

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Eine dritte historische Verwendung des Begriffs ›Kunstindustrie‹ finden wir beim Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl. In seinem 1901 veröffentlichten Werk Die spätrömische Kunst-Industrie  [15] verwendet er den Begriff in Bezug auf kunstgewerbliche Produktionen wie Schmuck, Beschläge, Schnallen und Fibeln, die im damaligen Österreich-Ungarn von Archäologen entdeckt worden waren und die er in die von ihm als »spätrömisch« bezeichnete Zeit von 313-768 n. Chr. datiert. In seinem Buch stellt Riegl die Kategorie der Kunstindustrie, die er als »gebrauchszweckliches Schaffen, mit Ausschluss der Architektur« definiert,  [16] als eine eigene, gleichwertige Kunstgattung neben die großen Gattungen der Architektur, Skulptur und Malerei. Der Begriff steht somit als Synonym für den Bereich des Kunstgewerbes. Es stellt sich die Frage, warum Riegl diesen Terminus wählte und nicht den bekannteren des Kunstgewerbes? Denn das Erstaunliche ist, dass Riegl den Begriff ›Kunstindustrie‹ als Metapher für künstlerische Produktionen verwendet, die in einer Zeit weit vor jeder modernen, maschinisierten Industrialisierung entstanden sind. Es ist anzunehmen, dass das für Riegl wesentliche Kriterium in einer gewissen Analogie zwischen der modernen industriellen Produktionsweise und den effizienten Herstellungstechniken des spätrömischen Kunstgewerbes bei Metallarbeiten bestand. Mit der Technik des Keilschnitts, bestimmten Einlege- und Kolorierungstechniken und der Wiederholung von Formvorlagen brachte das spätrömische Kunstgewerbe serielle Herstellungsmethoden zur Anwendung, die für Riegl bereits die Eigenschaft des ›Industriellen‹ trugen. Eine zeitgemäße, nicht auf den unmittelbaren Produktionsvorgang beschränkte Analogie zu dem von Alois Riegl hervorgehobenen Aspekt der Effizienz und Produktivitätssteigerung lässt sich heute im zunehmenden Grad an Professionalisierung finden, der bei den Künstlern, Kuratoren, Galeristen, Sammlern, Kritikern und anderen Akteuren der Gegenwartskunst äquivalent zum wachsenden Kapitaleinsatz ansteigt.

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Auch wenn in meinen Augen Flauberts und Bourdieus Gebrauchsweise des Begriffs ›Kunstindustrie‹ der heutigen Kunstwelt am nächsten kommt, lässt sich von allen drei beschriebenen historischen Anwendungen eine direkte Verbindungslinie zur Kunstindustrie der Gegenwart herstellen. Trotzdem scheint im Diskurs der internationalen Gegenwartskunst, gerade wenn kunstindustrielle Aspekte zur Sprache kommen, die Vorstellung zu existieren, dass sich die heutige Kunstwelt auf einer grundsätzlichen Ebene von früheren Zeiten unterscheidet. Diese Vorstellung möchte ich im Folgenden anhand einiger signifikanter Aussagen untersuchen – wobei uns die Suche nach der Ursache zu der anfangs in den Raum gestellten Diagnose zurückführen wird: zu einer Kunstwelt, die in allen Tätigkeitsbereichen seit den 1960er Jahren und dann insbesondere seit den 1990er Jahren eine exponentielle Expansion erlebt hat. Verantwortlich dafür sind die Bedingungen der informationstechnologischen Revolution und der globalen Vernetzung, der mehrheitlichen Liberalisierung der nationalen Wirtschaftsmärkte und der allgemeinen Aufwertung ökonomischer Gesichtspunkte sowie der intensivierte Austausch innerhalb der sozialen Netzwerke, die sich in dieser Zeit neu formiert haben.

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An den Anfang der zeitgenössischen Positionen, aus denen die Erfahrung eines ›neuen‹ oder zumindest in wesentlichen Zügen veränderten Zeitalters unter dem Eindruck der Industrialisierung der Kunst spricht, möchte ich eine Anmerkung von Okwui Enwezor stellen, die er 2002 seiner Berliner Thyssen-Vorlesung hinzufügte – im selben Jahr, als er die Documenta 11 in Kassel leitete. In seiner Vorlesung mit dem Titel Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form hinterfragt er die Spektakelkultur von Großausstellungen wie Biennalen, Kulturhauptstädten, Kassenschlagerpräsentationen etc. und kritisiert deren Reduktion auf ökonomische, politische und soziale Gebrauchs- und Tauschwerte. Gleichzeitig stellt er mit dem Konzept der »strategischen Globalität«  [17] und der Annahme einer aktivistischen, kritischen »Zuschauerschaft«  [18] eine emanzipative Nutzung dieser Präsentationsformen in den Raum, die für ihre Zielsetzung gerade auf die mit Großausstellungen verbundene enorme, oft globale mediale Reichweite bauen. In diesem Kontext charakterisiert er die soziale Struktur der herrschenden Kunstwelt folgendermaßen:

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»lm Zusammenhang meiner Ausführungen verwende ich den Begriff ›Kulturindustrie‹, um ein Massenphänomen zu bezeichnen, das Museumsprojekte derzeit zu überkommen scheint, wenn Kunstausstellungen, die sowohl Breitenwirkung entfalten wie auch ein Publikum aus Kennern und Akademikern ansprechen, als internationale Kassenschlager auf die Reise geschickt werden. Die ansteigenden Besucherzahlen in allen Kategorien von Museumspraktiken deuten ebenfalls darauf hin. Im Zuge dieser institutionellen Erfolgskarriere von Kunst als Teil der Industrie aus Massenkultur und Massenmedien erfolgt auch eine Zunahme von Kuratorenstudiengängen an Universitäten und speziellen Kunstakademien. Dabei muß man hier natürlich die fast zwanzigjährige Expansionsphase bedenken, die zu immer weiterer Ausweitung von internationalen und lokalen Biennalen geführt und damit Modellfälle für die Konsumkultur des globalen Kapitalismus und seiner Möglichkeiten zur Verbreitung künstlerischer Praktiken geschaffen hat, wobei deren heuristische Funktion oder Inhalte eine deutlich geringere Rolle spielen als deren schiere Sichtbarkeit in der Massenkultur  [19]

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Der wesentliche Faktor, den Enwezor in seiner Charakterisierung der Kunstwelt hervorhebt, ist die Entwicklung in Richtung eines ›Massenphänomens‹. Während das künstlerische Feld in der langen Geschichte seiner Existenz zwar zumeist ein bedeutender Aspekt von Gesellschaft und Kultur war, besteht eine der gravierendsten Veränderungen der Kunstwelt im 20. Jahrhundert, vor allem im Übergang zum 21. Jahrhundert darin, dass sich der Kreis derjenigen, die am Kunstsystem partizipieren, enorm erweitert hat. Meines Erachtens ist das Neue daran allerdings nicht, wie Enwezor sagt, dass die Kunstwelt heute sowohl »Breitenwirkung« als auch »ein Publikum aus Kennern und Akademikern« besitzt – dasselbe gilt in anderer Form seit Jahrhunderten beispielsweise auch für den Bereich der Sakralbauten und deren Ausstattungen, für mit günstigen Mitteln vervielfältigte und weit verbreitete Grafiken, grafische Reproduktionen und Buchdrucke sowie schließlich auch für populäre Medien und Kunstformen wie Film, Fotografie, Comic, Plakat und so weiter. Was sich durch die internationale Ausweitung des Kunstsystems weitaus mehr erhöht hat, ist die Zahl der KünstlerInnen, der Institutionen und der Fachleute, die sich kuratorisch, wissenschaftlich, journalistisch und unternehmerisch mit Kunst auseinandersetzen. Seit den 1960ern und dann vor allem seit den 1990er Jahren hat eine Wachstumsspirale ihren Lauf genommen, im Zuge derer es zu einer enormen Ausweitung der künstlerischen Produktion, der kuratorischen und musealen Projekte, der medialen Präsenz, des gesellschaftlichen und kulturellen Gewichts von Gegenwartskunst sowie des Wettbewerbs um die verschiedenen Publikumsschichten gekommen ist.

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Es handelt sich dabei um einen ineinander verwobenen Prozess, der mit dem Begriff ›Massenkultur‹ zwar treffend, aber nur einseitig beschrieben ist. Nach dieser ersten Diagnose gilt es daher die einzelnen Bereiche dieser Dynamik differenzierter zu betrachten und vor allem auch den Faktor ›Masse‹ bzw. ›Menge‹ in seinen qualitativen Auswirkungen auf die Produktion, Rezeption und Funktionalisierung von Kunst zu untersuchen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Mit Massen umzugehen, verlangt von Künstlern und anderen ›Kulturarbeitern‹ wie Kuratoren, Kritikern und Wissenschaftern sich stärker zu unterscheiden und herauszuheben, um dort, wo es darauf ankommt, Sichtbarkeit zu erlangen; im Kampf um Präsenz, oder, ökonomisch formuliert, um Marktanteile beginnen das Kriterium der ›Exzellenz‹ und der Drang bzw. Zwang zum Spektakel miteinander zu konkurrieren. In einem anderen Bereich, nämlich dem der Großausstellungen und der riesigen Museumskomplexe, erfordert die Verwaltung von Massen die Entwicklung von Infrastrukturen, die im Feld der Kunst lange Zeit zumeist nur den größten Sakralbauten vorbehalten waren, bis zu den Weltausstellungen von London 1851 mit sechs Millionen Besuchern und Paris 1900 mit 50 Millionen Besuchern.  [20] Es ist kein Zufall, dass das Format der Weltausstellungen die ersten quantitativen Höhepunkte im modernen Ausstellungswesen markierte. ›Globalisierung‹ und ›Industrialisierung‹ sind die beiden entscheidenden Faktoren, die auf unterschiedliche, aber zusammenhängende Weise, sowohl was die Weltausstellungen als auch das weltweite Biennalen- und Museumsnetz der Gegenwart betrifft, für die Herausbildung von Massenphänomenen verantwortlich sind.

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Gegen Enwezors Charakterisierung des historischen Wandels der Kunstwelt in Richtung eines ›Massenphänomens‹ ist nur einzuwenden, dass es nicht stimmig ist, die Kunstwelt im breiten Feld der Kulturindustrie aufgehen zu sehen. Stattdessen schlage ich hier noch einmal vor, den verwandten, aber stärker differenzierenden Begriff der ›Kunstindustrie‹ zu verwenden. Der Terminus ›Kunstindustrie‹ hebt im Unterschied zum Einheitsbegriff der ›Kulturindustrie‹ die zu einem Teil gleichen, zu anderen Teilen jedoch andersartigen Konventionen und Logiken der Kunstwelt hervor, durch welche sich diese von den Industriefeldern Mode, Film und Fernsehen, Comic, Radio, Internet, Pop- und Rockmusik oder auch von der Literatur- und Buchindustrie signifikant unterscheidet, wobei hinzuzufügen ist, dass auch allen diesen Bereichen jeweils eine etwas andere Produktions- und Rezeptionslogik zu eigen ist. Die Kunstindustrie besitzt aufgrund der formalen Eigenheit der visuellen/performativen Kunst, ihrem zumeist höheren Grad an Sperrigkeit und Drang nach Differenz, aufgrund der Bedingungen ihrer »verkehrten ökonomischen Welt«  [21] (Pierre Bourdieu) und der ausgeprägten musealen und wissenschaftlichen Landschaft eine Eigenlogik, die auf eine vergleichbare, aber zugleich spezifische Weise industriell ist.

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Eine zweite Darstellung aus dem Diskurs der Gegenwartskunst, die die aktuellen Veränderungen im Kunstsystem paradigmatisch anspricht, stammt aus einem in der US-amerikanischen Zeitschrift Artforum International im April 2008 publizierten Gespräch zum Thema »Die Kunst und ihre Märkte«.  [22] Der Runde Tisch zum Thema des Marktes, der in den Jahren 2007 und 2008 durch Damien Hirsts aggressive Preispolitik eine gesteigerte Medienpräsenz erfuhr, umfasste neun einflussreiche Akteure aus unterschiedlichen Bereichen der Kunstwelt: unter anderem den in Peking lebenden, international agierenden Künstler Ai Weiwei; weiters Amy Cappellazzo, Leiterin der Abteilung für Nachkriegs- und Gegenwartskunst am multinationalen Auktionshaus Christie’s in New York; die in Berlin lebende Kunstkritikerin Isabelle Graw, Professorin für Kunsttheorie und Kunstgeschichte an der Kunstuniversität Städelschule in Frankfurt und Herausgeberin der deutschen Kunstzeitschrift Texte zur Kunst, sowie den amerikanischen Kunsthistoriker und Kritiker James Meyer.  [23]

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In seinem Eingangsstatement stellt James Meyer die Frage, ob der außerordentliche Boom des Marktes für Gegenwartskunst, dessen Ursachen er in der Globalisierung der Produktion und Präsentation von Kunst sieht, die Fortsetzung einer älteren Geschichte des Modernismus oder vielmehr eine noch nie dagewesene Situation darstellt.  [24] Es geht ihm darum zu klären, ob es sich bei der Konstellation der zeitgenössischen Kunstwelt um einen Anschluss an die, wie er sagt, modernistische »Forcierung des Neuen«  [25] oder um einen ›wirklichen‹ historischen Umbruch in den Systemen von Kunst und Kultur handelt. Wie zumeist bei Fragestellungen, die eine uneindeutige Begriffsgeschichte voraussetzen, lassen sich Argumente für beide und noch eine Reihe anderer Seiten finden. Daher möchte ich vorschlagen, sich von den alten Begriffsdiskursen um Modernismus, Moderne und Globalisierung wegzubewegen und die konkrete soziale Struktur in Augenschein zu nehmen. An dieser lässt sich durchaus feststellen, dass der Begriff ›Gegenwartskunst‹ ein im Grunde ›neues‹, das heißt historisch hinreichend verändertes System bezeichnet.

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Von seiner sozialen Substanz her ist der Boom des Zeitgenössischen das Ergebnis einer weltweiten Expansion des Kunstsystems unter den Vorzeichen der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, der Netzwerkgesellschaft, der veränderten Raum- und Zeitwahrnehmung und der veränderten sozialen Verhaltensweisen. Die allgemeine Ursache für diese Veränderungen bildet der jüngste Globalisierungsschub seit den 1990er Jahren, der von der informationstechnologischen Revolution und dem von ihr mit verursachten Zusammenbruch des kommunistischen Blocks,  [26] von der Ordnung der Finanz-, Produktions- und Absatzmärkte nach kapitalistischen Grundsätzen und von der Bereitwilligkeit für weltweite soziale Vernetzung ausgegangen ist. Diese neuen technologischen Bedingungen und die stark veränderten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen, die die Gesellschaft insgesamt und mithin auch das Kunstsystem geprägt haben, lassen die Rede von einem ›neuen Zeitalter‹ in Kunst und Kultur, wenn auch nicht in allen Facetten, doch grundsätzlich stimmig und informativ erscheinen.

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Die Antwort der Auktionsexpertin Amy Cappellazzo auf die Ausgangsfrage von James Meyer im Artforum-Gespräch bestätigt diese Diagnose. So erklärt sie:

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»[…] finanzielle Faktoren, die erst seit kurzem aufgekommen sind, lassen diesen Kunstboom in einem gänzlich anderen Licht als frühere erscheinen. Erstens ist der Markt exponentiell gewachsen und wesentlich globaler geworden als noch [...] in den 1960ern. Der Kunstmarkt hing zu dieser Zeit von einem kleinen Kreis von Experten ab, die entweder sammelten, um ihre privaten Leidenschaften zu verfolgen oder um ihr bürgerschaftliches Engagement [...] auszuweiten. [...] Zweitens erlebte der Kunstmarkt mit dem Aufkommen von Online-Preisdatenbanken um die Mitte der 1990er eine ähnliche Revolution, wie sie auch in anderen Bereichen des Handels erfahren wurde. Wir haben die Fähigkeit entwickelt, in Echtzeit zu kaufen und zu verkaufen – hier sollten wir auch die steigende Popularität von Kunstmessen und Auktionen anmerken – und Transparenz in bestimmte Künstlermärkte zu bringen, indem die Verkäufe in anderen, vergleichbaren Märkten untersucht und analysiert wurden. Die Finanzunternehmen haben wiederum ihre Sichtweise auf Kunst als Anlagegut verändert, und sie sind heute sehr viel stärker gewillt, Geld gegen Kunstwerke zu leihen, denen eine wettbewerbsfähige Kreditwürdigkeit zugeschrieben wird – in anderen Worten, sie sind geneigter, Darlehen zu gewähren, die nicht fremdfinanziert und hochverzinst sind, sondern in einem niedrigen prozentuellen Verhältnis zum Beleihungswert stehen. Jetzt, da die Leidenschaft für das Sammeln einen wesentlich höheren Kapitaleinsatz denn je erfordert, und die involvierten Mechanismen sich immer mehr den normalen Geschäftspraktiken angleichen, denke ich, dass wir uns in einer neuen Phase auf dem vorwärtsschreitenden Weg des Kunstmarktes befinden.«  [27]

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Cappellazzo bezieht sich vor allem auf zwei Faktoren, um zu begründen, warum die gegenwärtige Ausweitung des Systems der Gegenwartskunst sich von früheren Booms grundlegend unterscheidet und mithin auch einen nachhaltigen Wandel der Kunstwelt mit sich bringt. Erstens nennt sie die exponentiellen Wachstumsraten im Kunstsystem, die in einem engen Zusammenhang mit der globalen Expansion der Kunstmärkte – des kommerziellen Kunstmarktes, des Institutionenmarktes der Museen und Biennalen sowie des Wissens- und Informationsmarktes der Kunstakademien, Kunstzeitschriften etc.  [28] – stehen. Zum zweiten verweist sie auf die zunehmende Nutzung von Online-Datenbanken, digitalen Kommunikationstechnologien und computerbasierten Analyseinstrumenten, mit denen im Galerien-, Sammlungs- und Auktionswesen gearbeitet wird, um Geschäftsrisiken zu minimieren und die Profite und Produktivität zu steigern. Wie Cappellazzo an späterer Stelle auch klar macht: »Wir existieren, um Geld zu machen [...]. Wir machen keine Deals, um Künstlermärkte zu stützen. Wir machen sie rein für den finanziellen Gewinn.«  [29] In bestimmten, einflussreichen Bereichen des Kunstmarkts kommt es demnach zu einer radikalen Reduktion künstlerisch-hermeneutischer Werte auf Finanzwerte. Dazu noch einmal eine signifikante Einschätzung der sozioökonomischen Struktur der gegenwärtigen Kunstwelt durch Cappellazzo:

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»Die neue finanzielle Attraktivität der Kunst entstammt der Idee, dass ›High-Quality‹-Kunstwerke bislang unterbewertet waren, und dass, seitdem der Kunstmarkt in den vergangenen fünf Jahren wirklich globaler geworden ist, ihr Preis steigen würde, als Resultat (A) einer erhöhten Nachfrage nach raren Objekten, (B) einer enormen, noch nie dagewesenen Konzentration von privatem Reichtum, und (C) des Bedürfnisses des Marktes nach einer neuen Anlageklasse, die global unter bestimmten Individuen gehandelt werden könnte. [...] Jetzt, nachdem die Kunst ein Anlagegut ist, das [Anm.: wie Wertpapiere, Immobilien, Hypotheken etc.] beliehen werden kann, aus dem sich Profit ziehen lässt und durch das Kapitalzuwachssteuern gestundet werden können [...], hat sich die Welt des Sammelns, zumindest für die steuerzahlenden amerikanischen Sammler, gewandelt. Sie hat eine ganz neue Gruppe von extrem geschickten Geschäftsleuten angezogen, die den Preis und die zukünftige Preisbildung erstaunlich gut verstehen.«  [30]

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Aus Cappellazzos Aussagen wird klar, wie eng die soziale Struktur der Kunstwelt mit den ökonomischen Faktoren des Kunstsystems verknüpft ist. Auf eine besonders deutliche Art und Weise zeigt sich das auch in jenen Regionen, in denen es in den letzten Jahren zu einer mehr oder weniger radikalen Wandlung des Wirtschaftssystems gekommen ist wie in den osteuropäischen Ländern, in Russland, China und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Während beispielsweise in China Gegenwartskunst noch bis vor einigen Jahrzehnten hauptsächlich in Geschäften und Hotellobbies gezeigt wurde, hat sich das Land innerhalb nur weniger Jahre zur drittgrößten Kraft im internationalen Kunstmarkt entwickelt. Noch immer dominieren die Vereinigten Staaten mit einem Marktanteil von 41% und Großbritannien mit 30%.  [31] Doch China besitzt heute mit 8% Marktanteil und 3,8 Mrd. Euro Verkaufserlös im Jahr 2007 den drittgrößten Markt für Kunst weltweit. Noch stärker und ob der rasanten Entwicklung erstaunlicher ist die Bedeutung Chinas, wenn es ausschließlich um den Markt für Gegenwartskunst geht. Darin ist Chinas Anteil von weniger als 1% im Jahr 2002 auf 24% im Jahr 2007 angewachsen. Dazu kommt, dass Hongkong mit 45% und Peking mit 28% aller Verkäufe zurzeit die größten Zentren im internationalen Kunstmarkt sind. In den Zusammenhang dieser durch Marktanteile und Umsatzzahlen beschriebenen Entwicklung fügt sich die Bemerkung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei im Artforum-Gespräch:

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»Ich denke, wir müssen einfach anerkennen, dass wir in sehr anderen Zeiten leben und dass aufgrund der Kräfte der Globalisierung wie auch des Internets – aufgrund des sogenannten Informationszeitalters – der Markt weit weniger beschränkt und kontrollierbar ist. In früheren Zeiten mag der Markt von einem inneren Kreis von Akteuren beherrscht worden sein. Aber heute kann sich jeder daran beteiligen und Einfluss auf den Markt nehmen. Diese Freiheit wird ohne Zweifel völlig unerwartete Bedingungen für die Kunstproduktion und das Sammeln von Kunst hervorbringen.«  [32]

<28>

Die Ausweitung des Kunstmarktes auf mehrere Regionen und Zentren weltweit ist ein Faktum und die von Ai Weiwei angesprochene größere Offenheit für die Teilnahme an den verschiedenen Marktsystemen ist sicherlich richtig. Dieser erhöhten geographischen Differenziertheit und verstärkten partizipatorischen Offenheit der international agierenden Kunstwelt steht auf der anderen Seite allerdings der Mechanismus der kapitalgebundenen Exklusion gegenüber. Wie wir an späterer Stelle noch genauer sehen werden, existiert aufgrund der kapitalintensiven Struktur des international vorherrschenden Kunstsystems eine markante Hierarchie der Länder und eine beschämende soziale Ungleichheit zwischen denen, die besitzen und bestimmen, denen, die sich intellektuell und konsumierend mit der herrschenden Kunst beschäftigen, ohne sie besitzen zu wollen oder zu können, und denen, die aufgrund ihrer geographischen Lage und/oder ihrer Armut mit dem System der internationalen Gegenwartskunst gar nie in Berührung kommen, die also von diesem speziellen Sprach- und Kommunikationsmodus von vornherein ausgeschlossen sind.  [33] Die folgende ›Schlüsselerkenntnis‹ von Clare McAndrew über die sozioökonomische Struktur der Kunstwelt in Russland, ein sogenannter ›aufstrebender Markt‹, die aus der Studie Globalisation and The Art Market aus dem Jahr 2009 stammt, passt signifikant in diesen Zusammenhang: »Die Zahl der Millionäre in Russland wird auf etwa 140.000 im Jahr 2008 geschätzt, und von Moskau wird berichtet, dass es zumindest 27 Milliardäre haben soll, was die höchste Konzentration von Reichtum in einer Stadt weltweit darstellt. Zumindest 200 von diesen sind wichtige Sammler und Investoren in Kunst.«  [34] Die Studie wurde von einem großen niederländischen Veranstalter renommierter Kunstmessen in Auftrag gegeben, mit dem Ziel festzustellen, wie sich die Märkte entwickeln und in welchen Regionen in absehbarer Zukunft neue Märkte entstehen werden. Aus einer Feststellung wie dieser lässt sich ablesen, wie eng wesentliche Bereiche der künstlerischen Produktion und des Sammlungs-, Ausstellungs-, Museums- und Medienwesens in der sozialen Struktur des herrschenden Kunstsystems verbunden sind.  [35]

<29>

An diesem Punkt setzt auch die deutsche Kunstkritikerin und Kunsttheoretikerin Isabelle Graw an. Im Artforum-Gespräch antwortet sie auf Meyers Frage nach dem Wandel der Kunstwelt folgendermaßen:

<30>

»Ich denke, dass es in der Tat eine schrittweise Verschiebung im Verhältnis von Kunst und Markt gibt, und diese Verschiebung zeigt sich in der vermehrten Definitionsmacht des Marktes über das, was als bedeutsames Kunstwerk angesehen wird. Mit anderen Worten, was sich für die künstlerische Produktion seit den 60ern und 80ern geändert hat, ist die Struktur ihres Universums – die zu einer auf Masse basierenden Unternehmensindustrie geworden ist und sich dabei die Logik der Celebrity-Kultur zu eigen macht.«  [36]

<31>

Den Wandel des künstlerischen Feldes, der sich aus vielen Aussagen in der Welt der Gegenwartskunst ablesen lässt, sieht Isabelle Graw vor allem im veränderten Verhältnis von Kunst und Markt begründet. In ihrem Buch Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity-Kultur (2008) diagnostiziert sie, dass die Einrichtungen des Primär- und Sekundärmarkts sowie die auf die Celebrity-Kultur spezialisierten Medien heute zunehmend die Rolle der Kunstkritik und der Kunstgeschichte übernehmen, wenn es darum geht, zu bestimmen, was gute Kunst sei. Markterfolg und Medienpräsenz sind zu Qualitätskriterien geworden, zur Voraussetzung für die Aufnahme eines Künstlers bzw. eines Kunstwerks in den Kanon der Gegenwartskunst. Darin unterscheidet sich nach Graw die Gegenwart wesentlich von früheren Zeiten, als Künstler und Wissenschaftler gerade durch ihre öffentlich gezeigte Autonomie gegenüber dem Geldmarkt und dem Einfluss der dominierenden Institutionen an Anerkennung in der Künstler- und Intellektuellengemeinde gewannen.  [37] Trotz der gesteigerten Macht von Markt und medialer Spektakelkultur, beides wesentliche Charakteristiken der Kunstindustrie, vertritt Graw die Ansicht, dass die Kunst auch heute noch über die Kraft verfügt, sich einen Freiraum gegenüber diesen Mächten zu erhalten. Künstlerische Arbeiten sind, wie sie sagt, keineswegs vollständig vom Marktgeschehen determiniert, weil sie in der Lage sind, »sich zu den Zwängen ihrer Märkte zu verhalten  [38] Die künstlerische Produktion zeichne sich durch ihr »marktreflexives Potential«  [39] aus. Das heißt, obwohl der Künstler Akteur und Bestandteil verschiedener Märkte ist, muss er nicht völlig in diesen aufgehen, sondern kann sich eine reflexive, kritische Distanz und damit ein gewisses Maß an Eigengesetzlichkeit bewahren. Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die künstlerische Produktion heute in einem stark veränderten Umfeld abspielt. In ihrer Ausgangsthese im Buch Der große Preis charakterisiert Graw den derzeitigen Wandel des Kunstbetriebs folgendermaßen:

<32>

»Von einer durch lokale Szenen geprägten, überschaubaren Formation entwickelte er sich zu dem, was ich in Anlehnung an den Begriff der Kulturindustrie als global vernetzte, Visualität und Bedeutung herstellende Industrie bezeichnen würde. Industrie heißt nach meinem Verständnis, dass die einzelhändlerische Struktur des Kunstbetriebs von einer Tendenz zur Bildung von Großunternehmen (inklusive Filialen) und Galeriezusammenschlüssen abgelöst wird. Analog zur Film- und zur Musikindustrie ist diese Industrie durch die Celebrity-Logik ebenso geprägt wie korporative Galeriekonzerne à la ›Gagosian‹ in ihr wettbewerbsbeherrschende Positionen einnehmen.«  [40]

<33>

Die Entwicklung des Kunstbetriebs zu einer globalen Kunstindustrie hinterlässt ohne Zweifel ihre Spuren im Feld der künstlerischen Produktion. Graw nennt in diesem Zusammenhang das Beispiel des deutschen Fotokünstlers Andreas Gursky, bei dem Bilder der globalen Medien- und Finanzwelt – beispielsweise Fotografien der Börse von New York und Tokio, von Prada-Boutiquen und von Formel I-Rennen – die früher von ihm verwendeten Motive aus dem Rhein- und Ruhrgebiet abgelöst haben. Die geographische Expansion der Absatzmärkte für Kunst lässt es aus marktstrategischer Sicht sinnvoll erscheinen, wie in der Stock-Photography  [41] mit Bildern zu operieren, die weltweit verständlich sind und denen durch ihre ständige Präsenz in den globalen Bilderströmen eine gewisse Bedeutsamkeit innewohnt. Nichtsdestotrotz benötigt der ›Markt‹, wie Graw feststellt, langfristig eine Bestätigung der künstlerischen Relevanz durch die Kunstgeschichte und die Kunstkritik, die ihrerseits jedoch wiederum keineswegs unabhängig von den verschiedenen Marktsegmenten und Marktmechanismen agieren.  [42] Insofern die Kunstkritik heute im Wesentlichen von Kunstzeitschriften getragen wird, die von ihren Anzeigen- und Aboverkäufen leben, und die Kunstgeschichte zwar aus ihrem Elfenbeinturm geholt wurde, der eigenständige wissenschaftliche Nachwuchs aber zugleich ausgehungert wird, gehen diese Instanzen der Wissensproduktion heute vielerlei Verbindungen mit dem kommerziellen Markt wie auch dem Markt der von Museen, Kunstvereinen, Großausstellungen und Projektarbeit geprägten Institutionen ein – teils zum Vorteil einer gesellschaftsbezogenen Wissensproduktion, teils zu ihrem Nachteil.

<34>

Wie die vorliegende Analyse des Diskurses um die gegenwärtige Veränderung der Kunstwelt zeigt, gibt es gute Gründe dafür, die Herausbildung des Systems der informationellen Kunstindustrie als eine historisch neue Situation zu betrachten, mit einzelnen wichtigen Verbindungslinien zu den Mechanismen und Erfahrungen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Wesentlich für eine Analyse des kunstindustriellen Systems ist jedoch, dass die Perspektive nicht auf das Verhältnis von ›Kunst‹ und ›Markt‹ verkürzt wird. Diese Verkürzung ist selbst ein zentrales Problemfeld des Kunstsystems und wurde als solches schon von Flaubert kritisiert. Die Qualität einer integrativen soziologischen Kritik der Kunstindustrie liegt darin, das Industrielle nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach sozialen, politischen, kulturellen und wertebezogenen Kriterien und Aspekten zu befragen. Das Ziel ist, das Potential des kunstindustriellen Systems für emanzipative Nutzungen auszuforschen und für die kulturelle Praxis zu öffnen. Die nachfolgende Analyse, die das aus der informationellen Kunstindustrie bekannte Phänomen der Rankingsysteme ›gegen den Strich liest‹, gibt ein Beispiel dafür, wie eine solche integrative soziologische Kritik aussehen kann.

2. Teil: Das Rankingsystem

Artist Ranking

<35>

Ranglisten, insbesondere Künstlerranglisten, sind eine typische Erscheinung der informationellen Kunstindustrie. Im Folgenden sollen daher an diesem Phänomen einige grundlegende Wesenszüge der Kunstindustrie dargestellt werden. Die zentralen Fragen zu den vielerorts populären Künstlerranglisten sind: Wer, was und nach welchen Kriterien wird in diesen Informations- und Bewertungssystemen klassifiziert, und wer bleibt außen vor und aus welchen Gründen?

<36>

Im Feld der Rankingsysteme lässt sich grundsätzlich zwischen subjektiven und objektiven Bewertungen unterscheiden. Typische Beispiele für subjektive Rankings sind die ›Best of‹-Ranglisten, die zu Jahresende in vielen Medien publiziert werden. Das Kunstmagazin Artforum beispielsweise füllt seit Jahren seine Dezember-Ausgabe mit zahlreichen ›Best of‹-Kurzbesprechungen, zu denen KünstlerInnen, KritikerInnen, MusikerInnen, FilmemacherInnen und WissenschafterInnen eingeladen werden. Die subjektiven Rankings, von denen die besseren über eine bloße Auflistung von Namen hinausgehen, vereinen die klassische Form der verbal und argumentativ bewertenden Kunstkritik mit den für das Medienzeitalter typischen Mottos ›das Wichtigste kommt zuerst‹ und ›das Beliebteste noch einmal‹. Die ›objektiven‹ Rankingsysteme funktionieren demgegenüber auf der Basis statistischer Methoden. Unternehmen wie Artprice und Artfacts, die ab den späten 1990er Jahren die internationale Kunstwelt nach bestimmen Kriterien zu analysieren begannen, sammeln in ständig anwachsenden, riesigen Online-Datenbanken Werte und Häufigkeiten, die fortlaufend statistisch ausgewertet werden. Die Kriterien, die bei Artprice und Artfacts zur Anwendung kommen, sind primär quantitativer Natur und vermitteln damit den Eindruck, von subjektiven Beurteilungen unabhängig zu sein. Letztlich basieren die unterschiedlichen Kriterien, die die beiden Unternehmen verwenden, aber auf der Messung von Entscheidungen, die von Akteuren der Kunstwelt getroffen werden. Artprice verfasst seine Marktanalysen auf der Basis von Auktionsverkäufen, Artfacts erstellt seine Rankinganalysen auf der Grundlage der Ausstellungs-, Sammlungs- und Galeriengeschichte der gelisteten KünstlerInnen.

<37>

Die Frage nach der Qualität der künstlerischen Produktion, die in allen Bewertungssystemen immer mitschwingt, wird aufgrund der unterschiedlichen Methoden verschieden beantwortet – jedoch nur relativ verschieden, weil die diversen Bereiche der Kunstwelt zumeist unmittelbar miteinander vernetzt sind. So lässt sich die Verschiedenheit der Kriterien von Artprice und Artfacts, die mit der Kurzformel ›Preis versus Anerkennung‹ gefasst werden kann, in der Kunstwelt anhand von Beispielen sehr wohl nachvollziehen, zugleich liegt aber auf der Hand, dass die beiden Faktoren durchaus auch sehr oft zusammenspielen. Die Klientel der beiden Informationsdienstleister unterscheidet sich nur schwerpunktmäßig voneinander: Artprice bedient überwiegend die kunstmarktaffinen Kreise im internationalen Kunstfeld – die Galeristen, Sammler, Auktionshäuser und die Wirtschaftspresse –, während Artfacts eher eine Fortsetzung der seit 1970 existierenden Rangliste der »100 ›größten‹ Künstler« von Kunstkompass mit neuen Methoden ist und sich damit auch unmittelbar an die Kunstkritik und das Institutionenwesen richtet. Mit seiner Verquickung von Ausstellungswesen und Markt versucht Artfacts die Darstellung von Künstlerkarrieren auf eine gegenüber dem Kunstkompass umfassendere und daher genauere Basis zu stellen, um letztlich, so der Anspruch, Vorhersagen über deren Verläufe treffen zu können.  [43] In der Methode von Artfacts, die auf der Verknüpfung von Markt- und Reputations-Indikatoren beruht, spiegelt sich die von Isabelle Graw formulierte Erkenntnis, dass der Marktwert eines Künstlers langfristig auf die Anerkennung durch die Kunstgeschichte und die Kunstkritik angewiesen bleibt.  [44] Damit ist eine scharfe Differenzierung zwischen den Bereichen Markt, Ausstellungswesen und Wissenschaft in der Realität des künstlerischen Feldes unmöglich.

<38>

Zwischen den kennerschaftlich-subjektiven Bewertungsformen und den statistischen Rankingsystemen existiert eine Reihe von Mischformen. Zu den derzeit wichtigsten Zwischenformen zählen die Stimmungsbarometer von ArtTactic und das Rankingsystem von Kunstkompass.

ArtTactic

<39>

Das Unternehmen ArtTactic, das von Anders Petterson im Jahr 2001 in London gegründet wurde, ist bekannt für seinen marktbezogenen Vertrauensindex. Dazu werden derzeit etwa 160 Experten aus der Kunstwelt wie Sammler, Auktionsfachleute, Berater und andere Akteure nach ihrer Einschätzung ausgewählter Kunstmärkte befragt.  [45] Auf Basis dieser Einschätzungen erstellt ArtTactic nicht nur Analysen des westlichen Marktes, sondern auch von sogenannten ›emerging markets‹, also von Erfolg versprechenden Märkten wie China, Indien, Süd-Korea, dem Nahen Osten, Brasilien, Subsahara-Afrika usw. Die Analysen werden von Rankings und Trendbarometern von KünstlerInnen begleitet, die als aussichtsreich gelten. Die Umfragemethode, auf der die sogenannten ›confidence rankings‹ basieren, entspricht weder einer rein kennerschaftlich-subjektiven Bewertung noch einer streng statistischen Zugangsweise, die auf der Messung von Häufigkeiten beruht, so wie beispielsweise bei Artfacts auf der Anzahl der Ausstellungen und Galerierepräsentanzen. Die Umfragen von ArtTactic verwenden zwar statistische Auswertungsmethoden, bauen jedoch vielmehr auf dem Prinzip der Intersubjektivität auf, also auf der Annahme, dass die Befragung einer größeren Zahl von Meinungsführern zu einem Ergebnis führt, das die Situation, die Stimmung und die Trends in der Kunstwelt zuverlässig wiedergibt.

1 Beispiele für Artist Rankings von ArtTactic, Februar 2009

Kunstkompass

<40>

Eine Mischung von subjektiver Bewertung und quantitativer Messung kommt ebenfalls bei der jährlich seit 1970 publizierten Rangliste der »100 ›größten‹ Künstler« von Kunstkompass zur Anwendung. Der vom deutschen Kunstjournalisten Willi Bongard gegründete und nach seinem Tod im Jahr 1985 von der Journalistin Linde Rohr-Bongard weitergeführte Kunstkompass ist der Vorläufer der heutigen Informations- und Bewertungssysteme im Kunstfeld. Den Anstoß zur Gründung des Kunstkompasses bildete für Willi Bongard das für ihn als Journalisten besonders nachteilige Problem einer undurchsichtigen, hermetischen und unberechenbaren Kunstwelt. So schrieb er über die späten 1960er Jahre: »Die Kunstszene ist national und großenteils auch regional aufgesplittert, internationale Kunstinformationen sind nur mit Mühe zugänglich. Rezensionen über Ausstellungen und sonstige Aktivitäten im Bereich der zeitgenössischen bildenden Kunst fallen eher zufällig an.«  [46] Mit dem Kunstkompass setzte sich Bongard zum Ziel, den Grad der Anerkennung von Künstlern durch die bedeutendsten Kunstinstitutionen zu messen, und zwar auf der Basis systematischer Sammlung und Auswertung von Informationen. Unter der Annahme, dass »Ruhm, Qualität und Preis korrelieren«,  [47] postulierten die Macher des Kunstkompasses, die Qualität von Kunst und den Marktwert von Künstlern auf der Basis des von ihnen erhobenen Indikators ›Ruhm‹ mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ›objektiv‹ einschätzen zu können. Damit sollen »Investitionen auf dem Kunstmarkt erleichtert und das Risiko bei Einkäufen verringert« werden können, lautete der letztendliche Sinn des Bewertungssystems.  [48]

<41>

2 Kunstkompass-Ranking 2008, Rang 1 - 20

Im Jahr 2008 berücksichtigte der Kunstkompass für die Erstellung seiner Top 100-Ranglisten folgendes Datenmaterial: Einzelausstellungen in 233 international bedeutenden Museen und Kunstinstitutionen [ http://www.manager-magazin.de/life/artikel/0,2828,585720,00.html ] (im Jahr 1970 waren es noch 18 Institutionen), 118 internationale renommierte Gruppenausstellungen
[ http://www.manager-magazin.de/life/artikel/0,2828,585707,00.html ] (1970: sieben Gruppenausstellungen) sowie Titelgeschichten und Rezensionen in einigen Kunstzeitschriften wie beispielsweise Art (Hamburg), Art in America (New York), Flash Art (Mailand), Kunstforum (Köln) und Parkett (Zürich). Weiters gab der Kunstkompass lange Zeit eine Preisbewertung zu den jeweiligen Künstlern ab. In Anlehnung an die Berechnung des Kurs-/Gewinnverhältnisses von Aktien wurden die Durchschnittspreise für eine repräsentative, mittelgroße Arbeit des jeweiligen Künstlers durch dessen ›Ruhmespunkte‹ dividiert, die Kunstkompass errechnet hatte.  [49] Die Relation von Ruhm und Preis ergab dann eine Einschätzung des Marktwerts, die von ›sehr teuer‹ bis ›sehr günstig‹ reichte. Für profitorientierte Kunstinvestoren ist die Rankingperformance eines Künstlers nur ein Faktor, aber durchaus ein wesentlicher, der für Kaufentscheidungen ausschlaggebend sein kann. Weitere Faktoren wären beispielsweise das Alter, die Anerkennung durch die Kunstgeschichte und Kunstkritik, das länderspezifische kulturelle und soziale Umfeld, die allgemeine Situation des Kunstmarktes und eine Reihe sonstiger Aspekte wie beispielsweise die anlagespezifische Erfahrung, dass kostengünstige Kunstwerke wie Multiples weniger hohe Renditen versprechen als hochpreisige Unikate.

<42>

In die quantitativen Messungen des Kunstkompasses spielen sowohl subjektive als auch intersubjektive Faktoren hinein: Seit der Gründung der Rangliste haben die Kunstkompassmacher an die von ihnen ausgewählten Institutionen, Ausstellungen und Zeitschriften unterschiedliche Punktezahlen vergeben – je nach der Bedeutung, die sie ihnen selbst beimaßen. Seit einigen Jahren werden die neuesten Repräsentanzen der Künstler dabei stärker bewertet als frühere, um aktuelle Trends in der Kunstwelt besser darstellen zu können. Zweitens ist die Auswahl der Museen und Kunstinstitutionen, der Großausstellungen und der Kunstzeitschriften, die die Kunstkompassmacher seit 1970 getroffen haben, keineswegs ausgewogen, sondern zeigt eine vielfach kritisierte Schieflage zugunsten von Deutschland, den USA und anderen westeuropäischen Ländern.  [50] Erst in der jüngsten Zeit sind von den Kunstkompassmachern vereinzelt nicht-westliche Institutionen berücksichtigt worden. Damit wird jedoch die multipolare Situation der heutigen Kunstwelt ebenso wenig adäquat repräsentiert wie das emanzipative Bestreben, die Dominanz des westlichen Marktes beispielsweise durch den Einbezug wichtiger Biennalen, Zeitschriften und Institutionen aus Afrika, Lateinamerika, dem Nahen Osten, Asien etc. auszugleichen. Drittens gilt für den Kunstkompass wie für das Auktionspreisranking von Artprice, den Vertrauensindex von ArtTactic und das Repräsentanzranking von Artfacts, dass das, was sie messen, nämlich die Kunstwelt, immer auf die persönlichen und allenfalls intersubjektiv abgeglichenen Entscheidungen der involvierten Akteure zurückgeht. Was ein Ranking daher im besten Fall quantifiziert und repräsentiert, ist eine in der Kunstwelt geltende Mehrheitsmeinung.

<43>

Ein aus der Soziologie und Psychologie bekannter Faktor, der sich am Kunstkompass insbesondere durch seine vergleichsweise lange Existenz besonders deutlich ablesen lässt, ist der Mechanismus der ›self-fulfilling prophecy‹, in diesem Fall die verändernde Wirkkraft, die der Kunstkompass selbst auf die Kunstwelt ausübt. Das Ranking gibt nicht einfach eine Situation wieder, sie nimmt vielmehr an der Konstruktion teil. Wie Inge Rohr-Bongard in Hinblick auf die mehrfachen Kompass-Sieger Robert Rauschenberg, Joseph Beuys, Georg Baselitz, Bruce Nauman, Sigmar Polke und Gerhard Richter erklärt, haben jene Künstler, die in der Rangliste aufgestiegen sind, an Marktwert zugelegt und damit in weiterer Folge wiederum ihre Position an der Spitze des Kunstfeldes gefestigt.  [51] Die folgende Aussage von Rohr-Bongard zeigt, dass die Autorität des Informations- und Bewertungssystems gerade auch darin besteht, dass es eine Situation nicht bloß wiedergibt, sondern in Form von Vorhersagen selbst mit beeinflusst: »Ruhm, Qualität und Preis korrelieren eindeutig – was die Wertentwicklung der im Kompass vertretenen Künstler über die vergangenen 38 Jahre eindrucksvoll nachweist. In der Regel zogen die Taxen für die Werke von Künstlern, die im Ranking aufstiegen, auch bald kräftig an. Kluge (und sehr vermögende) Sammler sollten deshalb ganz besonders auf die Aufsteiger an der Spitze achten – wie die Historie zeigt.«  [52]

<44>

Aufgrund seiner relativ langen Geschichte lässt sich der Kunstkompass jedoch auch als aufschlussreiche Quelle für soziologische Sekundäranalysen verwenden. Gerade auch kritische Sekundäranalysen, die, wie jene des französischen Soziologen Alain Quemin, auf die bestehenden Datenbanken und damit auf die Grundlage der informationellen Kunstindustrie zurückgreifen, sind in der Lage, die sozialen Strukturen unserer Kunstwelt offenzulegen.  [53] Das Informationssystem wird dabei gleichsam gegen den Strich gebürstet. So hat Quemin in einer 2006 publizierten Studie unter anderem auf Basis der Kunstkompass-Ranglisten und den darin über die Jahre nachvollziehbaren Veränderungen herausgearbeitet, dass und inwiefern das internationale Feld der Gegenwartskunst von einer anhaltenden Hierarchie der Länder bestimmt ist.  [54] Seine Analysen widersprechen der Ansicht vieler Kunstakteure, dass ihr globalisiertes Arbeitsfeld frei von geopolitischen Beschränkungen sei und die Beurteilung eines Künstlers heute nicht mehr von dessen Nationalität beeinflusst werde, sondern vielmehr unter Berücksichtigung des individuellen Talents der Künstlerpersönlichkeit und der jeweiligen Kultur entstehe.  [55] Fakt ist jedoch, dass das Kunstsystem, das heute in wesentlichen Bereichen globale und transnationale Strukturen aufweist, gleichwohl nur von wenigen Ländern dominiert wird, während alle anderen eine relativ marginale bis gar keine Rolle spielen. Auf Basis der Kunstkompass-Rankings und bestätigt durch eine Reihe von weiteren Analysen wie der Kunstmesse Art Basel und der Zusammensetzung des FNAC – Fonds National d’Art Contemporain, der mit 70.000 Werken größten öffentlichen Sammlung in Frankreich, konnte Quemin zeigen, wie die Macht der Länder im Feld der Gegenwartskunst verteilt ist.

<45>

In den Jahren von 1991 bis 2004 hat der französische Sammlungsfond FNAC zwar Werke von Künstlern aus 55 verschiedenen Nationen angekauft und damit dem verstärkten multikulturellen und pluralistischen Denken der Zeit Rechnung getragen, zugleich aber konzentriert sich die überwiegende Zahl der Ankäufe in diesem Zeitraum auf einen nur sehr kleinen Kreis von Nationalitäten. Die von Quemin ausgearbeitete Statistik zeigt eine deutliche Häufung von Ankäufen aus den USA, Deutschland, Italien, Großbritannien und der Schweiz, gefolgt von einigen weiteren westlichen Ländern sowie Japan und Israel. Während die Kunst der westlichen Länder auf diese Weise mit einer vergleichsweise großen Vielfalt in der Sammlung präsent ist, wird die künstlerische Produktion in Osteuropa, dem Nahen Osten, Asien, Afrika und Lateinamerika zwar sehr wohl von jeweils mehreren Ländern dieser Weltregionen abgedeckt, aber immer nur durch die Repräsentanz von wenigen, oft einzelnen Werken. Im von Quemin untersuchten Zeitraum von 1991 bis 2004 zeigt die Sammlung also eine zunehmende Diversität der Nationalitäten, die im Gesamten aber nach wie vor von einigen wenigen westlichen Ländern dominiert wird.

3 Zusammensetzung der Ankäufe des FNAC – Fonds National d’Art Contemporain
nach Zeiträumen und Ländern geordnet

<46>

Quemin entlarvt mit dieser Analyse die Behauptung, dass in der Welt der Gegenwartskunst die Nationalität eines Künstlers kein Kriterium für seine Beurteilung durch die Kunstkritiker, Kuratoren und Sammler sei, als uneingelösten Idealismus. Die Realität ist, dass die soziale Hierarchie in der Kunstwelt leichtfertig verdrängt wird und daher in einem großen Ausmaß unbewusst wirksam ist. Quemins Feststellung einer bis dato extremen Dominanz der reichsten Länder der Welt macht offenbar, dass einer der Gründe für das Ungleichgewicht in der Kapitalgebundenheit der globalen Kunstindustrie besteht. In Zusammenhang damit kommt auch der medialen Präsenz und der Sichtbarkeit in den Informationskreisläufen des Kunstfeldes eine zentrale Bedeutung für die Karriere von KünstlerInnen zu. Quemins Analyse, dass die Rankings einzelner Künstler von einem Jahr zum anderen stark variieren können, sich der Anteil der Länder im Kunstkompass-Ranking aber über die Jahre kaum verändert hat, verweist darauf, dass die mit einer Nationalität verbundenen Vor- oder Nachteile wesentliche strukturelle Machtfaktoren in den verschiedenen Märkten der internationalen Kunstwelt sind.  [56] So ist es auch kein Zufall, dass bis in die jüngste Vergangenheit die meisten der nicht-westlichen KünstlerInnen, die es im internationalen Feld der Gegenwartskunst zu Ruhm und Anerkennung gebracht haben, in den großen Metropolen des Westens leben oder lebten, wie etwa Nam June Paik, Ilya Kabakov, Yayoi Kusama, Rasheed Araeean, Shirin Neshat oder Mona Hatoum. Erst in jüngster Zeit gibt es vereinzelt Gegenbeispiele zum westlichen Erfolgsversprechen wie etwa den in Mexiko City lebenden Belgier Francis Alÿs und den in Istanbul lebenden Deutschen Lukas Duwenhögger.

<47>

Quemins Analyse der Kunstkompass-Klassifikation, die den Zeitraum von 1970 bis 2004 abdeckt, unterscheidet sich hinsichtlich der strukturellen Hierarchie der Länder kaum von jener der Sammlung FNAC. Der Vergleich der Anzahl der Künstler pro Land, die im Kunstkompass in den Jahren 1979, 1997, 2000 und 2004 gelistet sind, macht zunächst die anhaltende Spitzenposition der USA offenkundig, auch wenn die Zahl von renommierten Gegenwartskünstlern aus diesem Land über die Jahre geringer geworden ist. Die zweite Stelle nimmt Deutschland ein, wobei die Zahl der deutschen Künstler – und in der Bewertungsbasis die Zahl und der Einfluss der deutschen Kunstinstitutionen – deutlich zugenommen haben. In den Ranglisten von 1997, 2000 und 2004 folgen mit einigem Abstand die Länder Großbritannien, Frankreich, Italien, Schweiz, Belgien, Niederlande und Österreich. In der Kunstkompass-Rangliste von 2008 dominieren im Wesentlichen dieselben Länder, auch wenn Deutschland die USA knapp überholt und Großbritannien wieder etwas zugelegt hat. Der Status von Frankreich, Italien, Kanada, der Schweiz, Österreich, Belgien und der Niederlande ist praktisch gleich geblieben. Weiters sind zwölf Länder gelistet, die jeweils mit nur einem einzigen Künstler verzeichnet sind, neun davon sind nicht-westliche Länder. Aufgrund ihrer marginalen Stellung können sie auch leicht wieder von der Liste verschwinden, in den großen Pool jener Länder, die in dieser Bestenliste nicht mehr vertreten sind oder noch nie vertreten waren.

4 Anzahl der Künstler pro Land in den Kunstkompass-Rankings
der Jahre 1979, 1997, 2000, 2004 und 2008

<48>

Der Vergleich der Kunstkompass-Ranglisten von 1979, 1997, 2000, 2004 und 2008 zeigt, dass das internationale Feld der Gegenwartskunst trotz einer Tendenz zur Diversifikation immer noch von einer klaren Trennung zwischen Zentrum und Peripherie bestimmt ist.  [57] Auch wenn die emanzipativen Diskurse rund um Postkolonialismus, Multikulturalismus und Globalisierung einen Machtausgleich zwischen den Ländern fordern, weist die Kunstkompass-Liste der »100 ›größten‹ Künstler« von 2004 89 Künstler aus Westeuropa und Nordamerika auf und jene von 2008 sogar wieder 91. »Es sind«, stellt Quemin fest, »die Künstler aus diesen Ländern, die die dominanten Positionen in der internationalen Szene der Gegenwartskunst besetzen.«  [58]

<49>

Quemins Diagnose einer bipolaren, von Westeuropa und Nordamerika bestimmten Kunstwelt bedarf allerdings einer Erweiterung. Zum einen muss seine Analyse um die Entwicklungen der vergangenen drei bis fünf Jahre ergänzt werden, zum anderen bleibt sie gerade aufgrund des von ihm ausgewählten Datenmaterials selbst einseitig. Rankings, Repräsentationssammlungen und der Mainstream-Kunstmarkt zeichnen überwiegend ein strukturkonservatives Bild der Kunstwelt und blenden emanzipative bzw. alternative Stimmen tendenziell aus. Die folgende Feststellung von Quemin in seiner Studie von 2006 ist daher nur zum Teil zutreffend:

<50>

»Obwohl die reichsten Länder es zugelassen haben, dass in Ländern der Peripherie Biennalen eingerichtet werden, können diese nicht wirklich mit den einflussreichsten Ausstellungen der westlichen Welt konkurrieren. Weiters ist der Markt – bestehend aus einflussreichen Auktionshäusern, Messen und Galerien – keineswegs für potentielle Rivalen offen, sondern bleibt hauptsächlich in Großbritannien, der Schweiz und Deutschland sowie den USA konzentriert.«  [59]

<51>

Ein genauer Blick auf das internationale Biennale-Wesen und die neuesten Zahlen des Kunstmarkts widerspricht dieser Aussage. Die Kunstwelt ist heute nicht mehr zweipolig, sondern multipolar strukturiert. Nordamerika und Westeuropa zählen sicherlich immer noch zu den mächtigen Regionen, es hat sich jedoch eine Reihe weiterer gewichtiger Zentren im internationalen Kunstfeld etabliert. So nähern sich die Biennalen in São Paulo (seit 1951), Sydney (seit 1973) und Gwangju (seit 1995) in ihrer regionalen und internationalen Bedeutung zunehmend der Biennale von Venedig (seit 1895) und der Documenta in Kassel (seit 1955) an. Und verschiedene Biennalen wie jene von Havanna (seit 1984), Istanbul (seit 1987), Dakar (seit 1992), Sharjah (seit 1993), Taipeh (seit 1998), Shanghai (seit 1996), Singapur (seit 2006) und noch einige andere gewinnen kontinuierlich an Gewicht. Die Kunstkompass-Rankings haben der Entwicklung des Biennale-Wesens von Beginn an nie wirklich Rechnung getragen – ein Faktor, der folglich auch in Quemins Kunstkompass-basierter Analyse fehlt. Weiters sind, vor allem was den Kunstmarkt betrifft, folgende relevante und zahlenmäßig belegbare Entwicklungen zu ergänzen: der rasante Aufstieg von China seit 2004, von Russland seit 2004/05, von Indien seit 2005/06 und den Vereinigten Arabischen Emiraten seit 2006/07 sowie die bedeutende Marktstellung von Taiwan, Singapur und Japan. Eine gegenüber Quemins Ausgangsbasis aktualisierte und erweiterte Datengrundlage, beispielsweise durch eine Erhebung der bedeutendsten Biennalen, Museen  [60] , Kunstzeitschriften und Auktionen weltweit, ergibt nicht das Bild einer bipolaren, sondern einer multipolar strukturierten Kunstwelt.

5 Preisentwicklung der Auktionsverkäufe in China 2000-2008

6 Verkäufe von russischer Kunst in den Auktionshäusern
Christie’s und Sotheby’s 2000-2008

7 Verkäufe von indischer Kunst bei Sotheby’s und Christies’s 2000-2008

8 Die wichtigsten Märkte für Gegenwartskunst, geordnet nach Gesamtauktionsverkäufen

<52>

Wie die verschiedenen marktbezogenen Statistiken und Indikatoren zeigen, geht die Entwicklung des Kunstfeldes zu einem multipolaren System, das von gemeinsamen globalen Strukturen wie dem Biennale- und Auktionswesen und der transnationalen Interaktion von KünstlerInnen, GaleristInnen, SammlerInnen, KuratorInnen, KritikerInnen etc. geprägt ist, zu einem wesentlichen Teil auf den globalen Expansionsschub der informationell-kapitalistischen Ökonomie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zurück. In diesem Bereich sind heute deshalb auch die Wurzeln der sozialen Ungleichheit im Kunstsystem angesiedelt. Für das globalkulturelle System ›Gegenwartskunst‹ gilt, wie Quemin formuliert, dass die Hierarchie der Länder nicht das Resultat einer »zynischen Machtausübung« ist, sondern die Konsequenz von territorialen Mechanismen, die nicht bewusst wahrgenommen werden.  [61] Die Suche nach den Ursachen dafür, dass das offenkundige Interesse an kultureller Diversifikation und globaler Vernetzung bislang nicht zu einem Machtausgleich zwischen den Zentren und den Peripherien geführt hat, führt zur Basis der Kunstindustrie, ihrem informationellen Charakter, zurück. Die Kunstindustrie ist kein Feld reiner Kreativität, sondern ein grundsätzlich kapitalgebundenes System. Die hohe Konzentration von öffentlichen und privaten Institutionen in einigen wenigen Ländern – und vor allem Städten –, verleiht diesen ein außerordentliches institutionelles, kommerzielles und technologisches Potential. Zugleich ist damit eine Form von selbstverstärkender Informationsballung verbunden, die nach dem Prinzip der Sichtbarkeit abläuft: Über das, was näher liegt, wird unwillkürlich ein Mehr an Information produziert und verbreitet. Die Partizipation am System der Gegenwartskunst setzt daher im Gesamten einen vehementen Einsatz von Kapital, Institutionen und Technologie voraus. Die Beispiele Abu Dhabi mit Saadiyat Island, Kiew mit dem Pinchuk Art Center usw., wo aktuell neue Zentren der Kunstwelt eingerichtet werden, zeigen das sehr genau. Manuel Castells führt dies in einer soziologischen Untersuchung auf die Bedingungen der informationellen/globalen Ökonomie zurück:

<53>

»Unter dem Informationalismus gerieten die Schaffung von Reichtum, die Ausübung von Macht und Schöpfung kultureller Codes in Abhängigkeit von der technologischen Kompetenz der Gesellschaften und Individuen, und im Zentrum dieser Kompetenz steht die Informationstechnologie. [...] Die Kapital-, Arbeits-, Informations- und Marktnetzwerke verbanden durch Technologie wertvolle Funktionen, Menschen und Lokalitäten auf der ganzen Welt miteinander, schalteten aber diejenigen Bevölkerungen und Territorien von ihren Netzwerken ab, die für die Dynamik des globalen Kapitalismus keinen Wert und kein Interesse mehr besaßen.«  [62]

<54>

Die mit dem Informationalismus verbundenen Mechanismen von Konzentration und Ballung, Ungleichheit und Hierarchie, Inklusion und Exklusion bilden eines der zentralen und langfristigen Problemfelder der Informationsgesellschaft im Allgemeinen und im Speziellen der Kunstindustrie. Castells prognostiziert daher: »Nach der neuen Produktionslogik ist eine beträchtliche Anzahl von Menschen, vermutlich ein zunehmender Anteil, sowohl als Produzenten wie als Konsumenten aus Sicht der Systemlogik irrelevant.«  [63]

Artprice

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Artprice ist einer der weltweit größten Online-Informationsdienstleister im Bereich des Kunstmarkts.  [64] Das Unternehmen mit Sitz in Frankreich sammelt systematisch und umfassend die Auktionsergebnisse von KünstlerInnen, ohne Einschränkung auf bestimmte historische Epochen oder regionale Gebiete. Die Informationen bezieht Artprice nach eigenen Angaben derzeit von knapp 3.000 Auktionshäusern weltweit und aus etwa 270.000 Auktionskatalogen der bildenden Kunst seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts. In weiteren Datenbanken wird dieses Material von Bildarchiven und kunstmarktrelevanten Künstlerbiographien mit Angaben über Geburtsort und -jahr, die Ausstellungs- und Sammlungsgeschichte und Bibliographien ergänzt; derzeit sind etwa 25 Millionen Auktionsergebnisse und Preisindikatoren von 405.000 KünstlerInnen (Stand: 16.05.2009) in den Artprice-Datenbanken gelistet.  [65] Das ständig anwachsende Material wird von Artprice mit Hilfe von Informations- und Datenverarbeitungsprogrammen ausgewertet, mit dem Ziel, die Entwicklungen des Kunstmarktes in ökonometrischen Indizes, Kursen und Ranglisten darzustellen. Anhand der jeweiligen Wert- bzw. Preisentwicklung lassen sich die Verläufe von Künstlerkarrieren ebenso nachverfolgen und vergleichen wie länderspezifische oder zeitbezogene Markttrends. Die Informationen zu den einzelnen KünstlerInnen sind gegen Bezahlung über das Internet zugänglich. Darüber hinaus bedient Artprice sowohl die internationale Presse als auch Versicherungen und Banken mit aktuellen ökonometrischen Analysen.

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Auf der Basis der erhobenen Auktionserlöse publiziert Artprice jährlich verschiedene Versionen von Artist Rankings. So differenziert Artprice beispielsweise zwischen Artist Rankings für Gegenwartskunst und Gesamtrankings, die alle historischen Epochen umfassen. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Für 2008 erstellte Artprice im Bereich der Gesamtrankings eine Rangliste von Künstlern nach den 100 höchsten Zuschlagspreisen  [66] sowie eine Top 500-Rangfolge, die die Künstler nach ihren jeweiligen Gesamterlösen auf Auktionen in diesem Jahr reiht, erweitert durch einen Vergleich mit den Ergebnissen aus dem Jahr 2007.  [67] Für den Bereich der Gegenwartskunst fertigte Artprice im Jahr 2008 ein Top 500-Artist Ranking an, das die Auktionserlöse von lebenden Künstlern im Zeitraum von Juli 2007 bis Juni 2008 umfasst.  [68] Darüber hinaus erstellt Artprice länderspezifische Rankings, die Rückschlüsse auf die Entwicklungen der nationalen Märkte zulassen, sowie Analysen der Preisentwicklung und der Marktanteile von einzelnen Künstlern oder von ›peer groups‹ nach verschiedenen Kriterien und je nach Anforderung der Investoren.

9 Artprice Top 500-Rangfolge, Auktionserlöse von lebenden Künstlern
im Zeitraum von Juli 2007 bis Juni 2008, Rang 1 - 50

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Als Dienstleistungsunternehmen steht Artprice paradigmatisch für die Industrialisierung des Kunstfeldes durch die Instrumente und Möglichkeiten der Informationstechnologie. Das Unternehmen selbst bezeichnet seine Verfahrensweise als »industriellen Prozess der Informationssammlung, der flächendeckenden Marktinformation und Datenverarbeitung«.  [69] Was die Vorgangsweise von Artprice kennzeichnet und die soziale Entwicklung des Systems ›Kunstindustrie‹ im Allgemeinen wesentlich mitbestimmt, sind die Losungen der ›Transparenz‹ und der ›allgemeinen Zugänglichkeit‹ des Kunstmarktes. Die Devise einer umfassenden Öffnung des Kunstmarktes durch flächendeckende Information ist für das Unternehmen von zentraler wirtschaftsstrategischer Bedeutung. Die Kunstmärkte, die bis in die 1960/70er Jahre nur für wenige Akteure einsichtig waren, sollten durch eine neue, umfassend ausgerichtete Informationspolitik für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um ein möglichst breites Verkaufspotential für die gesammelte und aufbereitete Information zu schaffen. Über die Unternehmensphilosophie der Server Group, einer 1987 von Thierry Ehrmann gegründeten IT-Holding, zu der auch Artprice gehört, ist Folgendes nachzulesen:

»Die Gruppe ist ein Hauptsammler und -lieferant von Rechts- und Wirtschaftsdatenbanken. Eine ihrer wichtigsten Entwicklungsrichtlinien ist es, bisher undurchlässige Märkte mit Hilfe ihres umfassenden juristischen und medientechnologischen Wissens zu öffnen. Ihre Philosophie besteht darin, Informationstransparenz und Zugang für alle durch die neuen Informationstechnologien zu fördern und zu bewerben.«  [70]

Der Leitspruch der Transparenz des Marktes, und damit verbunden auch von weiteren breiten Bereichen des Kunstfeldes, der sich als Kerngedanke im Übrigen auch dezidiert in der Unternehmensphilosophie von Artfacts findet, basiert auf der strategischen Überlegung, dass kunstmarktrelevante Informationen in einem großen und technologisch steuerbaren Ausmaß erst dann nachgefragt werden, wenn der Markt allseitig zugänglich und kalkulierbar ist. Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass IT-Unternehmen wie Artprice, Artfacts, ArtTactic etc. mit ihrer kommerziell ausgerichteten Informationspolitik den Kunstmarkt und in weiterer Folge auch die soziale Struktur des Kunstfeldes seit den 1990er Jahren grundlegend umgeordnet haben, und zwar mit der Zielsetzung, sich einen ausgedehnten Kundenstock für den Informationspool zu schaffen, den sie jeweils bei sich zentralisieren.

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Die Verbindung zwischen den Problemfeldern und den allgemeinen sozialen Potentialen, die sich in diesem Wandel verbergen, ist äußert eng und komplex. Einerseits lässt sich von einer größeren Offenheit für Partizipation am Kunstsystem, von einer größeren Transparenz des Marktes sprechen, andererseits folgt die Informationspolitik dieser kunstindustriellen Unternehmen rein ökonomischen und keineswegs im eigentlichen Sinne demokratischen und kulturellen Prinzipien. Es wird nur jene Information gesammelt und verarbeitet, die der Kalkulierbarkeit des Marktes und der Risikominimierung im Kunstinvestment dient. Alle Informationen, die über die KünstlerInnen und deren Werke gesammelt werden, unterziehen diese einer nach ökonomischen Leitlinien ausgerichteten Systematisierung und Objektivierung. Während das Kunstfeld durch die neue industrielle Informationsökonomie einerseits berechenbarer, profitabler und produktiver wurde, erfuhr es auf der anderen Seite eine umfassende Hierarchisierung der KünstlerInnen. In den umfangreichen Datenbanken werden die KünstlerInnen und die künstlerische Produktion zu Informationseinheiten objektiviert und einer umfassenden ökonometrisch vergleichenden Ordnung unterzogen.

Artfacts

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Das in London ansässige IT-Unternehmen Artfacts des deutschen Multimedia-Unternehmers Marek Claassen hat seit seiner Gründung im Jahr 2001 eine der weltweit größten kommerziellen Datenbanken über das internationale Feld der Gegenwartskunst aufgebaut. Die online zugänglichen Informationsdatenbanken von Artfacts beinhalten derzeit mehr als 200.000 Biografien von lebenden Künstlern sowie von Künstlern, die wie Andy Warhol, Pablo Picasso und Joseph Beuys früher oder später im 20. Jahrhundert gestorben sind, aber immer noch eine zentrale Rolle im institutionellen Feld der Gegenwartskunst spielen. Von den verzeichneten Künstlern sind etwa 140.000 in einem umfassenden Ranking gelistet (Stand: 20.4.09).  [71] Weiters sind rund 18.000 Galerien, Museen, Biennalen, Auktionshäuser und sonstige Kunstinstitutionen unter der Rubrik ›Aussteller‹ registriert. Das Unternehmen arbeitet mit Redakteuren, Administratoren, Marketingfachleuten und IT-Entwicklern in mehr als 25 Ländern zusammen und publiziert die gesammelten und ausgewerteten Informationen in den Sprachen Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch und Italienisch. Ein Großteil der Informationen ist über das Netz frei zugänglich. Die Profite von Artfacts basieren zum einen auf den angebotenen Analysen von Künstlerkarrieren und des Auktionsmarktes sowie zum anderen auf den Beiträgen von Galerien und Institutionen, die dafür bezahlen, dass sie selbst fortlaufend Informationen über die von ihnen repräsentierten KünstlerInnen in die Datenbank eingeben können.

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Im Zentrum der Unternehmensstrategie von Artfacts steht das Artist Ranking. Die Qualität des Rankings, das für den Erfolg des Unternehmens in einem großen Ausmaß mitverantwortlich ist, hing von Anfang an davon ab, wie stark es sich im Kunstfeld positionieren und vor allem gegenüber den Investoren legitimieren konnte. Artfacts versuchte daher den Zugang der Kunstkompassmacher durch veränderte Kriterien, komplexe algorithmische Verknüpfungen und eine radikale Ausweitung der Datenbasis grundlegend zu objektivieren. Der enorme Umfang der Datenbank von rund 140.000 KünstlerInnen scheint dem Unternehmen eine Reihe von Vorteilen zu bringen: eine große Zahl an Zugriffen, einen hohen Grad an Objektivität hinsichtlich der nach bestimmten Kriterien erfolgenden Messung und Bewertung, einen hohen Anspruch auf Gültigkeit und Legitimität der Ergebnisse und damit letztlich den Gewinn der Aufmerksamkeit der Kunstwelt.

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Was das Ranking konkret misst, ist, ähnlich wie das Vorbild Kunstkompass, die Anerkennung beziehungsweise die Aufmerksamkeit, die ein Künstler von den Kunstinstitutionen erhält. Die kommerzielle Informationspolitik von Artfacts, die sich zum einen an die allgemeine Öffentlichkeit, letztlich aber vor allem an die verschiedenen Investoren richtet, fokussiert auf die Karriere eines Künstlers, und diese hängt, wie das Unternehmen formuliert, vom »Erfolg seiner Ausstellungen« ab.  [72] Die für das Artist Ranking ausschlaggebenden Informationen basieren auf folgenden Faktoren: die Anzahl der Galerienverbindungen eines Künstlers, die Anzahl der öffentlichen Sammlungen, in denen er vertreten ist, die Anzahl seiner Einzel- und Gruppenausstellungen in Kunstinstitutionen – bei Gruppenausstellungen wird die Summe des Rankings aller beteiligten Künstler durch die Anzahl der Beteiligten dividiert und dann aufgeteilt – sowie die Anzahl der Länder, in denen ein Künstler institutionell präsent ist. Mit dem letzten Punkt legt Artfacts einen besonderen Schwerpunkt auf die internationale Präsenz von Künstlern.

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Da sich im Ranking die Ausstellungen und Institutionen, mit denen ein Künstler verbunden ist, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ niederschlagen sollen, verwendet Artfacts eine Netzwerkarithmetik, in der sich alle beteiligten Faktoren wiederum gegenseitig Punkte vererben. Ein Künstler sammelt nicht nur Punkte aufgrund jeder Institution, in welcher er vertreten ist, er gibt seine Punkte auch an diese weiter. Jede Galerie, jede Sammlung, jede Ausstellung und sonstige Kunstinstitution und schließlich sogar Städte erhalten die Summe aller Punkte der Künstler, die mit diesen in Verbindung stehen.  [73] Mit steigendem Datenumfang ergibt sich daraus eine zunehmend starke Gewichtung von Galerien, Museen, Biennalen, Städten und Ländern, welche wiederum ihre in Punkten gemessene Bedeutung an die Künstler weitergeben. Mit dieser Netzwerk-Methode, in der das Ranking eines Künstlers in Relation zu allen verzeichneten Künstlern und Institutionen berechnet wird, ist Artfacts in der Lage, subjektive Bewertungen wie im Kunstkompass-Ranking auszuschließen, zugleich jedoch auch Gewichtungen von Institutionen und Ausstellungen vorzunehmen und mit einzubeziehen. Artfacts beschreibt seine Rankinganalyse folgendermaßen: »Die Kurve zeigt an, wie stark der Künstler in die Kunstwelt eingebunden ist. Die Rangposition wird nach der Anzahl und ›Qualität‹ der Ausstellungen im Vergleich mit allen anderen von Artfacts.Net aufgelisteten Künstlern errechnet. Je höher die Rangposition, desto präsenter – im Vergleich zu anderen Künstlern der Artfacts.Net-Datenbank – ist auch der Künstler in den Kunstinstitutionen.«  [74] Die Artfacts-Methode lässt sich daher auf folgende Kurzformel bringen: Je größer und vernetzter die Datenbasis desto ›objektiver‹ spiegelt das Ranking den Konsens über die Bedeutung eines Künstlers. Diese Form der Objektivierung und Rationalisierung der Kunstwelt durch eine arithmetisch komplexe Quantifizierung entspricht in jeder Beziehung der informationellen Struktur der Kunstindustrie. Es handelt sich um ein System, das den ideologischen Umgang mit Information, wie ihn Manuel Castells charakterisiert, verinnerlicht hat: »Informationalismus ist auf technologische Entwicklung hin ausgerichtet und damit auf die Akkumulation von Wissen und auf höhere Komplexitätsniveaus in der Informationsverarbeitung.«  [75]

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Die Verfahrensweise von Artfacts trägt zwar der eminenten Bedeutung des Netzwerks in der Kunstwelt Rechnung, verstärkt aber andererseits das im Kunstsystem bereits bestehende Problem von um sich selbst kreisenden Szenen und Milieus. Ein Künstler, der in einer renommierten Institution ausstellt, begründet und stärkt sein eigenes Renommee und in weiterer Folge das Renommee der anderen Institutionen, mit denen er in irgendeiner Form verbunden ist. Eine Institution, die mit renommierten Künstlern arbeitet, forciert die eigene Reputation und damit die Reputation der anderen Künstler, die dort ausstellen, und so weiter. Das Prinzip der Anerkennung, das solchen Entscheidungsprozessen zugrunde liegt, führt zu einem Zirkel, der weniger anerkannte Künstler, Institutionen, Länder und Regionen eher ausschließt. In die starre Hierarchie dieses strukturkonservativen Zirkelsystems kommt immer nur dann Bewegung, wenn sich emanzipative und experimentelle Impulse dezidiert dagegen richten. Ein Problem der Kunstindustrie besteht darin, dass solche Impulse von Einzelinitiativen abhängen oder auf ›off-spaces‹ abgeschoben werden, die chronisch unterfinanziert sind und selbst Teil des Kampfs um Anerkennung sind.

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Wie bei den Informations- und Bewertungssystemen von ArtTactic, Artprice und Kunstkompass zeigt sich auch am Zugang von Artfacts, dass die kommerziellen Quantifzierungsmethoden zur Ordnung des Kunstfelds eine einseitige Reduktion einführen. Diese Einseitigkeit hat sich in den letzten Jahren zu einem dauerhaften Problem ausgewachsen, weil die kommerziellen Informationssysteme gemeinsam mit der ansteigenden Autorität des Marktes eine zunehmend dominante Position einnehmen, wenn es um die Bewertung von Kunst geht. So wird die Kunstwelt zwar geordnet, aber auf der Basis von Kriterien, die nicht in der Lage sind, künstlerische und kulturelle Aspekte einzubeziehen.

Allgemeine Charakteristiken: Die ›High-End‹-Repräsentation

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Da sich die Informationssysteme von Kunstkompass, Artfacts, Artprice und ArtTactic primär an eine kaufkräftige Klientel richten, ist eines ihrer brisantesten Kennzeichen, dass sich ihr Hauptaugenmerk auf den oberen Teil der Anerkennungspyramide richtet. Allen Informationssystemen, die auf den Verkauf von produktivitätssteigernder Information ausgerichtet sind, ist zu eigen, dass sie die aus verschiedenen Gründen ›unteren‹ sozialen Ebenen des Kunstfeldes schlicht ignorieren, weil diese für die Investoren irrelevant sind. So erklärt Artfacts dezidiert, dass für die Ranking-Analysen, die es anbietet, nur jene Künstler in Betracht gezogen werden, die international anerkannt sind und »in etablierten Strukturen operieren«.  [76] Damit werden auch alle in der Kunstwelt üblichen territorialen, geschlechtsspezifischen und kapitalgebundenen Hierarchien, Dominanzen und Ungleichheiten nicht nur reproduziert, sondern aufgrund des Einflusses von solchen Bewertungssystemen noch wesentlich verstärkt.

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Die ›High-End‹-Fokussierung der Kunstindustrie spiegelt sich beispielhaft in der Trendanalyse von Artprice und Fiac über die finanzielle Strukturierung des Auktionsmarktes für Gegenwartskunst in den Jahren 2007 bis 2008:  [77] Der mit 51% größte Anteil an den Auktionsverkäufen in diesem Zeitraum entfällt zwar auf den Bereich der sogenannten ›leistbaren Kunst‹, der Werke mit Preisen von bis zu knapp 5.000 Euro umfasst. Die weiteren Verkäufe belaufen sich auf 37% für den Bereich von 5.000 bis 49.999 Euro, auf 11% für den Bereich von 50.000 Euro bis zu einer knappen halben Million Euro und 1% für Auktionsverkäufe über einer halben Million Euro. Signifikant ist nun jedoch, dass die 51% der ›leistbaren Kunst‹ auf dem Auktionsmarkt in den Jahren 2007 bis 2008 weltweit von nur 3.000 Gegenwartskünstlern abgedeckt wurden, und zudem häufig von jenen Künstlern, die zugleich für ihre hochpreisigen Verkäufe bekannt sind wie Jeff Koons, Keith Haring, Damien Hirst, Takashi Murakami oder Yoshitomo Nara.

10 Verkäufe von Gegenwartskunst im Zeitraum 2007/2008 – Darstellung in Preisstufen

11 Verkauferlöse von Takashi Murakami im Zeitraum 2007/2008 – Darstellung in Preisstufen

Dieselben Künstler, die hochpreisige Unikate verkaufen, bedienen mit massenproduzierten Multiples, mit Prints und Kleinplastiken in hohen Auflagen auch den Bereich der ›leistbaren Kunst‹. Zwischen ökonomischen Strategien und sozialen Überlegungen lässt sich dabei nicht mehr differenzieren. Langfristig erwächst aus dieser ›High End‹-Fokussierung des Kunstmarktes und der tonangebenden Player im internationalen Ausstellungs- und Museumswesen die angesprochene Situation einer Kunstwelt, die unablässig um sich selbst kreist. Um die verschiedenen Märkte zu bedienen, wird zwar Fülle produziert, zugleich aber wird jene Form der Qualität, die aus einer echten Vielfalt entstehen kann, strukturell ausgedünnt.

<67>

Die Vorgangsweise der kommerziellen Informationsdienstleister bei der Strukturierung und Ordnung der bestehenden Informationsfülle, die sie durch ihre Expansionsbestrebungen selbst auch mitproduzieren, stellt das Gegenteil eines integrativen Zugangs dar. Sie decken ›einen‹ Bereich der Kunstwelt sehr wohl systematisch ab – das ist eine Grundvoraussetzung für die Relevanz der Information, die sie anbieten –, allerdings handelt es sich dabei nur um den ›High End‹-Bereich der internationalen Gegenwartskunst, und dabei lediglich um eine Quantifizierung dieses Bereichs. Obwohl sie mit ihren Datenbanken und Rankingsystemen danach streben, bisher unterbewertete Märkte zu entdecken und neue KünstlerInnen in ihre Listen aufzunehmen, wirken die kapitalfokussierten Informationssysteme durch ihre Zielsetzung und ihren Aufbau als Verstärker des herrschenden Systems: Es sind immer wieder jene KünstlerInnen in den Rankings vorne zu finden, die sich in den vorherrschenden institutionellen Strukturen erfolgreich bewegen.

Allgemeine Charakteristiken: Situation und Problem der Relationalität

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Bei allen in und mit der Öffentlichkeit operierenden gesellschaftlichen Berufs- und Tätigkeitsfeldern ist es üblich und zweckmäßig von der Allgemeinheit bewertet zu werden, auch wenn diese Bewertung nicht in einem idealen, herrschaftsfreien Diskurs erfolgt. Das gilt für das Feld der bildenden Kunst ebenso wie für die Literatur und das Theater, für die Popmusik oder die Politik. In kaum einem gesellschaftlichen Feld wird jedoch die Arbeit von ProduzentInnen in universalen Ranglisten dargestellt. In dieser Hinsicht ist die Kunst nur mit dem Spitzensport vergleichbar. In beiden Bereichen bildet bereits seit den antiken Gesellschaften das Leistungs- und Wettbewerbsdenken einen wesentlichen Teil der öffentlichen Wahrnehmung und Wertschätzung. Das Rankingsystem von Artfacts unterscheidet sich von den Ranglisten des Spitzensports vor allem hinsichtlich des umfassenden Zugangs. Während gewöhnlich nur einige hundert Spitzenathleten gelistet und verglichen werden, umfasst die Artfacts-Datenbank derzeit knapp 200.000 KünstlerInnen. Sie zentralisiert damit eine außerordentliche Menge an Informationen, die nicht nur einige KünstlerInnen, beispielsweise 100 oder 1.000 beinhaltet, sondern in absehbarer Zukunft zumindest all jene KünstlerInnen verzeichnet, die jemals in einer der weltweit tausenden Kunstinstitutionen ausstellen. Was damit geschaffen wird, ist eine umfassende Relationalität und eine Vergleichbarkeit, die zwar immer schon im Öffentlichkeitscharakter der Kunst angelegt war, hier jedoch auf eine drastische Weise ausgedehnt wird.

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Auch wenn der fortwährend erweiterte Informationspool von Artfacts nicht alles lückenlos erfasst, so setzt das Ranking doch fast alle KünstlerInnen mit Ausstellungstätigkeit weltweit auf eine vergleichende und hierarchisierende Weise zueinander in Beziehung. Daraus ergibt sich eine Reihe von Faktoren, die sich langfristig auf die soziale Struktur und Dynamik der Kunstwelt auswirken können. Ein Beispiel ist die am nächsten liegende Frage, die sich aus der Selbstbeobachtung der Ranglistenplatzierung durch die Künstler und die Fremdbeobachtung des Rankings durch verschiedenste Akteure ergibt, nämlich: Wer ist erfolgreich, wer nicht, und warum? Die zunehmende Transparenz, die sich aus einer auf diese Weise geprägten langfristigen Selbstbeobachtung der Kunstwelt ergibt, ist zweischneidig: Einerseits mündet sie in einen hohen Druck zur Anpassung an sich zunehmend einschleifende Erfolgsfaktoren, andererseits ermöglicht sie in Form von kritischen Sekundäranalysen aber auch, zumindest bestimmte Problemfelder im Kunstsystem zu erkennen und zu erklären. Auch wenn das Ranking nur ein Baustein der Kunstindustrie ist, so lässt sich, wenn es als Symptom für das größere Ganze genommen wird, doch daran ablesen, dass die KünstlerInnen, wie auch die anderen Akteure im Kunstfeld, in Zukunft noch mehr als bisher dazu gezwungen sein werden, als »unternehmerische Subjekte«  [78] (Ulrich Bröckling) zu agieren. Mit der Foucaultschen Terminologie lässt sich das Rankingsystem als eine Form der Disziplinierung von Künstlern bestimmen, als ein Machtsystem, das die Kunstwelt gänzlich durchzieht und das kein Außerhalb zulässt, insofern alle wesentlichen Institutionen der internationalen Gegenwartskunst selbst Bestandteile des relationalen Netzwerks dieses Systems sind. Das Außerhalb ist gleichbedeutend mit Exklusion und Unsichtbarkeit.

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Auch wenn die Ranglisten wahrscheinlich von den meisten KünstlerInnen nicht als unmittelbarer Einflussfaktor wahrgenommen werden, darf die Macht solcher Bewertungssysteme nicht unterschätzt werden, zumal sie in der Öffentlichkeit breit rezipiert werden und für die Investoren wichtige Entscheidungsgrundlagen darstellen. Castells erklärt die Relevanz solcher Informationssysteme folgendermaßen: »In einer informationellen Gesellschaft wird [Macht] grundlegend in die kulturellen Codes eingeschrieben, mittels derer Menschen und Institutionen das Leben abbilden und Entscheidungen, auch politische Entscheidungen fällen.«  [79] Das Ranking ist ein Code der Kunstindustrie, der die Arbeit und das Leben von KünstlerInnen abbildet und der insofern eine enorme Macht ausübt, als er zumindest eine wichtige Referenz für ökonomische, politische, kulturelle und soziale Entscheidungen darstellt.

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Der universelle Charakter des Disziplinierungssystems lässt sich an einem Ranking ablesen, dass Artfacts und der Kunstkompass-Herausgeber, das Wirtschaftsmagazin Capital, 2008 gemeinsam publiziert haben: eine Rangliste von 100 KünstlerInnen, die gerade aufgrund ihrer gesellschaftlich engagierten und kritischen Kunst institutionell anerkannt sind. Auf der Ebene des Rankings, das hier stellvertretend für die Kunstindustrie insgesamt steht, wird das gesellschaftliche Engagement der KünstlerInnen verflacht, von Ideen, Überzeugungen und Inhalten entleert und auf die Kurzformeln von Anerkennung, persönlichem Erfolg und kalkulierbarer Marktposition gebracht. Umso wichtiger ist die kritisch-analytische Nutzung von Instrumenten, die wie das Ranking das Leben und die Arbeit von Menschen zugleich repräsentieren und ordnen.

Zusammenfassung

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Das Rankingsystem ist das Hauptinstrument der Informationsindustrie, die das Kunstfeld durch eine universale, hierarchisierende Ordnung transparent und durchlässig zu machen versucht. Es bildet das analytische, ökonometrische Gegenüber des ›Gossip‹, des informellen Informationsaustausches im Beziehungsnetzwerk der Kunstwelt. Das Wesentliche am Rankingsystem ist, dass der für verschiedene kulturelle Entwicklungen des 20. Jahrhunderts so wichtige soziale Impuls zur Überbrückung der Kluft zwischen dem Elitären und Populären hier mit ökonomischen Überlegungen zusammenspielt. Mit ihrer Strategie, den Kunstmarkt allgemein zugänglich zu machen und die Kunstproduktion nach nachvollziehbaren, einsichtigen Kriterien zu bewerten, verfolgen Kunstkompass, Artfacts, Artprice, ArtTactic und ähnliche Unternehmen das Ziel, Informationen zu verkaufen – an Sammler, Galeristen, Auktionshäuser und andere Akteure der Kunstwelt. Informations- und Bewertungssysteme wie Künstlerranglisten dienen dazu, die Fülle der globalisierten Kunstwelt durch eine quantifizierende, hierarchisierende und vergleichende Ordnung übersichtlich darzustellen. Statistisch erfassbare und auswertbare Kriterien wie Auktionspreise und Ausstellungen sollen es ermöglichen, den Investoren eine stimmige und möglichst risikofreie Kalkulationsgrundlage anzubieten. Zugleich reproduzieren die auf solchen Kriterien basierenden Rankingsysteme die vorherrschenden Mechanismen der Inklusion/Exklusion, der Konzentration und Hierarchisierung in der Kunstwelt. In einer Art Umkehrprozess ist es aber auch möglich, die bestehenden Datenbanken für kritische Sekundäranalysen heranzuziehen. Auf Basis des Datenmaterials lässt sich das Ungleichgewicht in der Kunstwelt belegen und innerhalb der gegebenen Parameter offenlegen.

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Die Künstler-Rankings sind strukturkonservativ, da sie viel eher eine Situation, eine Stimmung wiedergeben, als dass sie neue Impulse in das System bringen. Indem die Rankings die im System vorherrschenden Strukturen abbilden – unter dem Vorzeichen der angewendeten Kriterien und der kommerziellen Zielsetzung –, bestätigen und verstärken sie den Status Quo. IT-Unternehmen wie Artfacts und ArtTactic widmen sich zwar auch neuen, aussichtsreichen Märkten: Das Prinzip der globalen Expansion war immer ein wesentlicher Teil der Strategie von multinationalen Unternehmen, insbesondere auch von IT-Unternehmen, um ihre Reichweite und ihr wirtschaftliches Potential auszudehnen. Aber auch wenn dies als Chance gesehen werden kann, ist zugleich zu bemerken, dass die Auswahl der in den Fokus genommenen Länder keineswegs ausgewogen ist. Langfristig sind von der Informationsindustrie daher keine Impulse einer echten Vielfalt, des emanzipativen Ausgleichs, des sozialen Engagements und der Qualitätssteigerung im Kunstfeld zu erwarten. Die von ihr angewendeten Bewertungsmechanismen repräsentieren vielmehr die beschränkte ökonomisierende Perspektive, die für das gegenwärtige System der Kunstindustrie charakteristisch ist. Partizipation an diesem System ist möglich, aber nur zu den herrschenden Bedingungen, und diese sind stark an ökonomische, institutionelle und technologische Ressourcen und Kompetenzen gebunden. In die starre Hierarchie dieses strukturkonservativen Zirkels kommt immer nur dann Bewegung, wenn sich dezidiert emanzipative und integrative Impulse dagegen richten. Aus der Sicht einer emanzipativ eingesetzten Informationstechnologie sind in diesem Zusammenhang Projekte beispielgebend wie GAM – Global Art and the Museum, ein aktuelles Forschungsprojekt des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, das die globalen Veränderungen in der Institutionenlandschaft der Gegenwartskunst sichtbar machen will, oder Universes in Universe  [80] , eine umfangreiche nicht-kommerzielle Online-Informationsplattform, die die aktuellen Entwicklungen der internationalen Gegenwartskunst insbesondere in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika verfolgt und dokumentiert.

 

Bildnachweis

ArtTactic, Art Market Newsletter, Februar 2009, S. 11 = Abb. 1

Contemporary Art Market 2007/2008. The Artprice annual report, Paris 2008 = Abb. 8-11.

McAndrew 2009 (wie Anm. 31), S. 44 = Abb. 5, S. 89 = Abb. 7, S. 122 = Abb. 6.

Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 37 = Abb. 3.

Statistik der Jahre 1979, 1997, 2000 und 2004 auf der Basis von Quemin 2006 (wie Anm. 33), ergänzt durch Daten des Kunstkompass-Rankings 2008 = Abb. 4.

www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,590528,00.html (Zugriff am 20.07.2009) = Abb. 2.

 

Zum Autor

Jürgen Tabor, Mag. Dr. phil., geb. 1976, Studium der Kunstgeschichte sowie Anglistik und Amerikanistik. Lebt und arbeitet in Innsbruck als Kunsthistoriker und Kurator (Galerie im Taxispalais, Galerie des Landes Tirol). Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck und Graz, Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Globalisierung in Kunst und Kunstdiskursen, inter- und transkulturelle Phänomene in Moderne und Gegenwart, performative Kulturen, Verbindungen von Psychoanalyse, Kunst und Kultur. Buchpublikation Tabu und Begehren. Metaphern einer Revolte, Passagen Verlag, Wien 2007. Derzeit Ausarbeitung des Forschungsprojekts »Das Zeitalter der Kunstindustrie. Charakteristiken, Problemfelder, Potentiale«.

Postadresse: Jürgen Tabor, Höhenstraße 28, 6020 Innsbruck, Österreich
Email: juergen.tabor@uibk.ac.at

 



[1] »War der ›Kunstbetrieb‹ schon dem Namen nach bislang einzelhändlerisch organisiert, so hat er sich inzwischen in das verwandelt, was ich als eine Visualität und Bedeutung produzierende Industrie bezeichne.« Isabelle Graw: Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity-Kultur, Köln 2008, S. 11. – Wie anschließend ausgeführt wird, ist die Bildung des Begriffs ›Kunstindustrie‹ und ähnlicher Begriffe, die sich auf das Industrielle in der Kunstwelt beziehen, das Ergebnis eines Diskurses, der die Erfahrung vieler Akteure im Kunstfeld beschreibt. Der Begriff beschreibt einen Eindruck, der in unterschiedlichen Formen und Intensitäten im künstlerischen Feld seit der Mitte des 19. Jahrhunderts existiert, der jedoch gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund technologischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche eine enorme Verstärkung erfahren und dadurch das Gefühl eines Wandels in Richtung eines neuen Zeitalters begründet hat.

[2] Vgl. Theodor W. Adorno, zit. n. Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno, Hamburg 2005, S. 150.

[3] »Der zentral entscheidende historische Faktor, der das informationstechnologische Paradigma beschleunigt, gelenkt und geprägt hat und der zu den damit einhergehenden gesellschaftlichen Formen geführt hat, war und ist aber der Prozess der kapitalistischen Neustrukturierung, der sich seit den 1980er Jahren vollzieht. Aus diesem Grund lässt sich das neue techno-ökonomische System adäquat als informationeller Kapitalismus bezeichnen.« Manuel Castells: Das Informationszeitalter I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, S. 19.

[4] Vgl. Castells 2001 (wie Anm. 3).

[5] Castells 2001 (wie Anm. 3), S. 83.

[6] Manuel Castells: Das Informationszeitalter III: Jahrtausendwende, Opladen 2003, S. 401.

[7] Castells 2001 (wie Anm. 3), S. 20.

[8] Vgl. Simon Nora u. Alain Minc: Die Informatisierung der Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1979.

[9] Vgl. Texte zur Kunst, Heft Nr. 61, März 2006, Themenheft zur Rolle des ›Gossip‹ in der Kunstwelt.

[10] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst, Frankfurt a. M. 2001, S. 26.

[11] Gustave Flaubert, zit. n. Bourdieu 2001 (wie Anm. 10), S. 26.

[12] Vgl. Bourdieu 2001 (wie Anm. 10), S. 26.

[13] Friedrich Pecht: Kunst und Kunstindustrie auf der Weltausstellung von 1867: Pariser Briefe, Leipzig 1867, S. V (Vorwort).

[14] Pecht 1867 (wie Anm. 13), S. 232.

[15] Alois Riegl: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern, Wien 1901.

[16] »Der Ausdruck, den das spätrömische Kunstwollen auf dem Gebiete der Kunstindustrie, das ist gebrauchszwecklichen Schaffens, mit Ausschluss der Architektur, gefunden hat, soll seine Darlegungen wesentlich bloß an der Hand von Metallarbeiten empfangen.« Riegl 1901 (wie Anm. 15), S. 139.

[17] Okwui Enwezor: Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form, Berliner Thyssen-Vorlesung zur Ikonologie der Gegenwart, Bd. 1, hg. v. Gottfried Boehm u. Horst Bredekamp, München 2002, S. 30.

[18] Enwezor 2002 (wie Anm. 17), S. 31.

[19] Enwezor 2002 (wie Anm. 17), S. 10, Anmerkung Nr. 2.

[20] Daten von http://www.expo2000.de/expo2000/geschichte/index.php, Zugriff am 27.05.2009.

[21] Bourdieu bezieht sich in Die Regeln der Kunst (Paris 1992, S. 134-140) auf das literarische Feld um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Mehrere AutorInnen, unter anderen Isabelle Graw in Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity-Kultur (Köln 2008), übernehmen und adaptieren die sozioökonomische Analyse Bourdieus jedoch auch für das Feld der visuellen und performativen Kunst.

[22] Artforum International, 46. Jahrgang, Heft Nr. 8, April 2008, Heft zum Thema »Art and Its Markets«.

[23] Die weiteren Teilnehmer waren Thomas Crow, Professor für Moderne Kunst am Institute of Fine Arts an der New York University; Donna de Salvo, Chefkuratorin am Whitney Museum of American Art in New York; Dakis Joannou, Sammler und Präsident der Deste Foundation for Contemporary Art in Athen; Robert Pincus-Witten, Kunsthistoriker und Kritiker in New York, sowie Tim Griffin, Herausgeber der Zeitschrift Artforum.

[24] James Meyer: Art and Its Markets, in: Artforum International, 46. Jahrgang, Heft Nr. 8, April 2008, S. 293-303, hier S. 293.

[25] »The history of modernism is in part a history of the marketing of the new.« Meyer 2008 (wie Anm. 24), S. 293.

[26] Vgl. zu diesem Thema Castells 2003 (wie Anm. 6), S. 5-72.

[27] Amy Cappellazo: Art and Its Markets, in: Artforum International, 46. Jahrgang, Heft Nr. 8, April 2008, S. 293-303, hier S. 293-294.

[28] Zu den Märkten der Kunstwelt vgl. Graw 2008 (wie Anm. 1), bes. S. 68-71.

[29] Cappellazo 2008 (wie Anm. 27), S. 298.

[30] Cappellazo 2008 (wie Anm. 27), S. 296f.

[31] Quelle der folgenden Daten: Clare McAndrew u. The European Fine Art Foundation (TEFAF) (Hg.): Globalisation and the Art Market. Emerging Economies and the Art Tade in 2008, Helvoirt (Niederlande) 2009.

[32] Ai Weiwei: Art and Its Markets, in: Artforum International, 46. Jahrgang, Heft Nr. 8, April 2008, S. 293-303, S. 294-295.

[33] An dieser Stelle sei bereits auf folgende Studie verwiesen: Alain Quemin: The Hierarchy of Countries in the Contemporary Art World and Market. An Empirical Survey of the Globalization of the Visual Arts, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 17, 2006, Heft 2 & 3, S. 35-57.

[34] McAndrew 2009 (wie Anm. 31), S. 115.

[35] Die sogenannten ›High End‹-Ebenen der sozialen Struktur der Kunstindustrie sind besonders stark an die Macht und die Fluktuierung des Kapitals gebunden. Das lässt sich unter anderem daran ablesen, wie sich die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 unmittelbar auf die Spitzenstrukturen in der Kunstindustrie auswirkt, insbesondere dort, wo in der Vergangenheit private Investoren als die wesentlichen Geldgeber auftraten. Der Kunstmarktdienstleister Artprice beschreibt im April 2009 die Situation des Kunstmarktes folgendermaßen: »Since the financial crisis began, the art market has taken a series of severe blows and is now subject to various external and internal pressures. In the United States, for example, the fall in private subsidies to the Arts has led to significant personnel reductions at some of the most prestigious museums (the Detroit Institute of Arts and the Museum of Contemporary Art in Los Angeles have both cut staff by 20%). At the same time, an enormous volume of cash that was fuelling the market has literally disappeared as the new ultra high net worth individuals in Russia, India and Turkey have seen their fortunes substantially diminished (by the end of Q1 2009, the world counted 300 less billionaires) and the banks have stopped financing acquisitions of art works: the giant UBS has closed down its art advisory pole dedicated to buying and selling artworks.« Artprice.com, »First quarter of 2009: an ailing art market«, web.artprice.com, 27.4. 2009, Zugriff am 16.05.2009. [ http://web.artprice.com/AMI/AMI.aspx ]

[36] Isabelle Graw: Art and Its Markets, in: Artforum International, 46. Jahrgang, Heft Nr. 8, April 2008, S. 293-303, S. 294. Weiter: »Für manche Teile der Kunstwelt galt dies bereits in früheren Jahrzehnten, aber dieser Zugang hat sich in der jüngsten Zeit zu einem starken gemeinsamen Ideal entwickelt, mit nur relativ wenigen Skeptikern. [...] heute leben wir in einer Art Netzwerkkapitalismus, in dem jeder gezwungen ist, zu kooperieren. Das mag erklären, warum der Markterfolg heute eine solche Autorität besitzt. Der finanzielle Druck ist gestiegen, und die ökonomischen Zwänge reichen unmittelbarer in alle Aspekte unserer Leben hinein.«

[37] »Heute stellen Medien- und Markterfolg nach meiner Beobachtung keine Gefährdung des künstlerischen Renommees mehr dar. Ganz im Gegenteil: Sie sind inzwischen sogar in der Lage, Reputationserfolg zu generieren. Selbst Insider/innen, die es eigentlich besser wissen sollten, können nicht umhin, den Arbeiten von markterfolgreichen Künstlern auch in künstlerischer Hinsicht etwas abzugewinnen. Diese Bereitschaft, den ›Börsenwert des modernen Künstlers zum Qualitätssignal zu überhöhen‹, wie es der Soziologe Pierre-Michel Menger treffend ausdrückte, ist mittlerweile selbst in der Fachpresse recht ausgeprägt.« Graw 2008 (wie Anm. 1), S. 45.

[38] Graw 2008 (wie Anm. 1), S. 163.

[39] Graw 2008 (wie Anm. 1), S. 163.

[40] Graw 2008 (wie Anm. 1), S. 24.

[41] Vgl. dazu Wolfgang Ulrich: Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik, Berlin 2006.

[42] Vgl. dazu Graw 2008 (wie Anm. 1), insbesondere S. 24-28.

[43] Artfacts.Net, »Das Künstler-Ranking«, www.artfacts.net , Zugriff am 20.4.2009.
[ http://www.artfacts.net/marketing_new/de/?Leistungen,Artist_Ranking ]

[44] Vgl. Graw 2008 (wie Anm. 1), insbesondere S. 24-28.

[45] »ArtTactic believes that the opinions of a small group of carefully selected ›art insiders‹ (the sample is currently around 160 individuals), being collectors, auction houses, advisors and other art professionals provide a valuable insight into the future direction of the art market.« www.arttactic.com , Zugriff am 18.05.2009.

[46] Willi Bongard, zit. n. Margret Baumann: Die Entstehung des Kunstkompass, in: Kunst = Kapital. Der Capital Kunstkompass von 1970 bis heute, hg. v. Linde Rohr-Bongard, Köln 2001, S. 10-15, hier S. 11.

[47] Vgl. Linde Rohr-Bongard: Die 100 Größten, in: Manager Magazin 11/2008, S. 200. Als PDF-Download unter
http://service.manager-magazin.de/digas/servlet/pdf?PDF_REQUEST=SINGLE_DOC&DID=61426379 .

[48] Linde Rohr-Bongard: Kriterien für Ruhm und Rang, in: Kunst = Kapital. Der Capital Kunstkompass von 1970 bis heute, hg. v. ders., Köln 2001, S. 134-141, hier S. 134.

[49] Rohr-Bongard 2001 (wie Anm. 48), S. 134.

[50] Vgl. dazu beispielsweise die Analyse von Quemin 2006 (wie Anm. 33).

[51] Vgl. Rohr-Bongard 2008 (wie Anm. 47), S. 201.

[52] Rohr-Bongard 2008 (wie Anm. 47), S. 200-201.

[53] Vgl. auch die Analyse von Ulf Wuggening: Das Empire, der Nordwesten und der Rest der Welt. Die ›internationale zeitgenössische Kunst‹ im Zeitalter der Globalisierung, in: transversal – eipcp multilingual webjournal, September 2002, Zugriff am 05.07.2009.
[ http://eipcp.net/transversal/0303/wuggenig/de ]

[54] Quemin 2006 (wie Anm. 33).

[55] Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 35 u. 48.

[56] Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 48.

[57] Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 54.

[58] Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 54.

[59] Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 55.

[60] Vgl. dazu das Projekt »GAM – Global Art and the Museum« am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, www.globalartmuseum.de .

[61] Quemin 2006 (wie Anm. 33), S. 56.

[62] Castells 2003 (Anm. 6), S. 387.

[63] Castells 2003 (Anm. 6), S. 395.

[64] Die folgenden Angaben über Artprice stammen von der Website des Unternehmens. web.artprice.com: »The art market becomes transparent«, Zugriff am 16.05.2009 [ web.artprice.com/corporate/EN ].

[65] Vgl. Artprice u. Fiac (Hg.) : Le marché de l’art contemporain/Contemporary art market 2007/2008. Le rapport annuel Artprice/The Artprice annual report, Saint-Romain-au-Mont-d’Or, Lyon/Paris 2008. Als PDF-Download unter imgpublic.artprice.com/pdf/fiac08en.pdf .

[66] Artprice (Hg.): Art market trends 2008, Saint-Romain-au-Mont-d’Or, Lyon 2009, S. 22-23, als PDF-Download unter
img1.artprice.com/pdf/trends2008_en.pdf , Zugriff am 16.05.2009.

[67] Artprice 2009 (wie Anm. 66), S. 24-33.

[68] Vgl. Artprice u. Fiac 2008 (wie Anm. 65).

[69] »Through the main website www.artprice.com and 900 other owned web addresses, artprice benefits from a position of world leader, reinforced by an industrial process of information-collecting, exhaustive art market intelligence, data processing and value-adding to almost every art auction from over 2,900 auction houses in 40 countries.« web.artprice.com/corporate/EN/index.htm , Zugriff am 16.05.2009.

[70] serveur.com/EN/index.html , Zugriff am 18.05.2009.

[71] Für die Daten zum Unternehmen siehe www.artfacts.net, Zugriff am 20.4.2009. [ www.artfacts.net/about_us_new/?Company,Introduction ]

[72] www.artfacts.net , Zugriff am 20.4.2009.

[73] Vgl. Capital.de: Zahlreiche Investoren flüchten in die Kunst, 2008, www.capital.de/guide/kunstmarkt-kompass/100015888.html ,
Zugriff am 20.4.2009.

[74] Artfacts: »Career Analyser«, www.artfacts.net , Zugriff am 24.05.2009.

[75] Castells 2001 (wie Anm. 3), S. 18.

[76] »The Artist Ranking Tool places great importance on the international representation of artists. Only artists operating in established structures will be chosen as a primary value source. The reason why the Artist Ranking Tool has been built this way is because we at Artfacts.Net™ recognise the value of mutual knowledge in the art world.« www.artfacts.net , Zugriff am 17.05.2009. Vgl. dazu auch folgende Passage aus dem Kunstmarkt-Newsletter von ArtTactic vom Februar 2009: »Where do you see buying opportunities in the Chinese contemporary art market in the short and long-term?
In the short term—the next 12 to 18 months—there will be good opportunities to buy works by top-tier artists in both painting and photography. By top tier, I mean the 40 or so who have gained art-historical recognition, have been internationally exhibited, and are being acquired by museums in the West as well as Asia. Historical works by these individuals—the first generation of Chinese contemporary artists, from 1989 through early 2000s—are relatively scarce and will continue to gain value. The global downturn has yielded some attractive pricing, particularly in comparison to top contemporary artists in the West, creating smart buying opportunities. In fact, art funds focusing on Chinese contemporary art have been formed to take advantage of this moment. Museums are also acquiring for their collections.
Chinese contemporary photography is a buying opportunity. It’s still undervalued relative to painting, which was the focus for collectors for many years. Quality works will become increasingly scarce, particularly as China develops as a consumer society with its own collector base. The Chinese audience with disposable income is growing, and a consistent percentage of those people will become art advocates and collectors.« Alessandro Lorenzetti: Rawfacts Newsletter, Februar 2009, hg. v. Anders Petterson, ArtTactic, London 2009, S. 7.

[77] Vgl. Artprice u. Fiac 2008 (wie Anm. 65), S. 22. Als PDF-Download unter imgpublic.artprice.com/pdf/fiac08en.pdf .

[78] Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Subjekt. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007.

[79] Castells 2003 (wie Anm. 6), S. 398. Weiters: »Macht als die Fähigkeit, Verhalten zu erzwingen, liegt in den Netzwerken des Informationsaustauschs und der Symbolmanipulation, die soziale Akteure, Institutionen und kulturelle Bewegungen durch Ikonen, Sprecher sowie intellektuelle Verstärker miteinander in Beziehung setzen.« Castells 2003 (wie Anm. 5), S. 399.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Tabor J.: Zur sozialen Logik der Kunstindustrie. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-50 (urn:nbn:de:0009-23-20915).  

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