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Verschiedene Beiträge zu diesem Diskussionsforum sehen »seit einigen Jahren« eine »Bildwissenschaft« entwickelt, bemerken einen »erweiterten Bildbegriff der letzten Jahre« (Matthias Bruhn, Charlotte Klonk). Mit »bildwissenschaftliche[n] Ausweitungstendenzen der 1980er/90er Jahre« soll die kunsthistorische Fachgeschichte konfrontiert werden, »um mit Blick auf jüngste wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Positionen neu befragt bzw. hinterfragt zu werden« (Hubert Locher u. Lena Bader). Das erinnert an das von Boris Lossky überlieferte Bonmot: ›Neu ist nur, was vorher vergessen worden war‹. Denn am 11. Januar 1969 diskutierten in Bonn drei studentische Fachschaften über eine Flugschrift mit der Forderung nach dem »Beginn einer Transformation der Kg zur allgemeinen kritischen ›Bildwissenschaft‹«. Der Terminus bezeichnete einen damals intensivierten Trend, der auch heute als eine Komponente von ›Bildwissenschaft‹ gilt: eine Erweiterung des Blicks über die Themenfelder der Kunstgeschichte hinaus, auf Gegenstände, denen der Rang bedeutender Kunst noch nicht zugeschrieben worden ist oder nicht zukommt. Beispiele waren Horst Bredekamps Referat »Das Tier in der Werbung« bei einem Seminar der Technischen Universität Berlin 1970, Hermann K. Ehmers Aufsatz über eine Doornkaat-Reklame in der 1971 erschienenen Sammelschrift Visuelle Kommunikation […] und Norbert Müller-Dietrichs Vortrag für eine Arbeitsgruppe »Werbung und Kunst« im Alternativprogramm des 13. Deutschen Kunsthistorikertags 1972.

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Im Rückblick zeigt sich eine Vielfalt jeweils leitender Beweggründe statt nur interesseloser Gedankenflüge. Bilder jenseits der anerkannten Kunst interessierten auf Grund von mindestens sieben unterscheidbaren Zielvorstellungen, die nur teilweise überholt sind:

1. Rundumblick: Bereitschaft, sich mit allem Sichtbaren zu beschäftigen, gerade als Kunsthistoriker nicht nur von Kunstwerk zu Kunstwerk zu pilgern, sondern eine Aufmerksamkeitserweiterung auch im Alltag zu erleben, statt nur von ›Bewusstseinserweiterung‹ zu hören.

2. Hierarchieabbau im Bereich der Gegenstände als Impuls gegen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, gefordert in studentischen Beiträgen zu Seminaren der 1970er Jahre.

3. »Grenzgänge«. Sie wurden von Martin Warnke als eine Rubrik vorgeschlagen, mit der sich die seit 1973 erscheinende Zeitschrift Kritische Berichte gegen eine starre Begrenzung bedenkenswerter Stoffe wenden sollte.

4. Auswertung verräterischer Abwehrparolen des ›Establishments‹, zum Beispiel der Empfehlung in einem Bericht der Kunstchronik vom 14. Deutschen Kunsthistorikertag 1974, »daß all das wieder ausgemerzt wird, was der Urstruktur eines wissenschaftlichen Kongresses widerspricht«.

5. Bezugnahme auf die Lebenswelt von zunächst kunstfernen Jugendlichen, Vorbedingung für die Reformziele des Kunstpädagogik-Modells »Visuelle Kommunikation«.

6. Abbau von »Berührungsängsten« gegenüber »festgefügten Wissenstraditionen«. Die erste Nummer der Zeitschrift Querformat (2008) wendet sich unter anderem an KunststudentInnen zum Beispiel mit dem Nachweis, dass eine Verflechtung von ›High and Low‹ schon in früheren Jahrhunderten vorkam.

7. und unvermindert aktuell: Gemeinsamkeiten von Kunstwerken und anderen bildlichen Kommunikaten, die auch ohne eine so genannte Aura einen hohen Grad formschaffender Intelligenz verwerten, großenteils die Effektivität von Teamarbeit beweisen und als Machtmittel erkannt werden müssen. Denn Durchschauen ist zwar noch keine Abwehr, aber Abwehr ohne Durchblick geht leicht fehl.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Mittig H.: Kommentar zu Hubert Locher und Lena Bader: »Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte« - Grenzen und Möglichkeiten eines Rahmenwechsels (Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-1). In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-26 (urn:nbn:de:0009-23-18149).  

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Artikels die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs bei dieser Online-Adresse an.

Kommentare

  1. Bruhn, Matthias | 29.04.2009
  2. Bader, Lena | 18.10.2013

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