<1>

Technische Neuerungen revolutionieren nicht nur unseren Alltag, sie verändern auch die Bedingungen der Möglichkeiten für Kunst. Als Walter Benjamin im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts seinen Beitrag zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit veröffentlichte, waren es insbesondere die Fotografie und der Film, die für ihn zum Auslöser wurden, neu über Kunst nachzudenken.  [1] Heute sind es die digitalen Medien. Es sei insbesondere die Echtheit eines Werkes, die mit ihrer Reproduzierbarkeit infrage gestellt werde. Hierin, so Benjamin, gründe jedoch die Autorität der Kunst. So vermittle sich über die materielle Dauer geschichtliche Zeugenschaft. Insofern führe der Verlust der Originalität des Werkes bzw. das Verkümmern von dessen Aura zu einer »Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe« (S.14). Benjamin selbst hat diese Entwicklung begrüßt, da sie zur Überwindung der tradierten Strukturen führe und statt der Orientierung am Einmaligen und Dauernden sich mit der Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in ihr der »Sinn für das Gleichartige in der Welt« bekunde (S. 16). Doch wie sehen wir das heute? Hat das Werk eines Künstlers mit seiner technischen Reproduzierbarkeit bzw. der Tatsache, dass es womöglich ausschließlich als ein flüchtiges, wegklickbares Objekt existiert überhaupt noch den Status eines Kunstwerks? Worin liegt der Wert eines Kunstwerks, wenn nicht in seiner Aura?

<2>

Für Benjamin ist die Beantwortung der Frage eindeutig. Statt einer Orientierung am Tradierten verliere die Kunst zwar auf immer den Schein der Autonomie (des Originalen und Einmaligen) und damit ihre Aura, sie erhalte jedoch einen neuen »Gebrauchswert«, dieser liege statt in der Fundierung auf das Ritual in der Fundierung auf Politik. So verändere sich mit den technischen Reproduktionsmöglichkeiten ihre Funktion. Insofern können die Werke weiterhin als solche der Kunst angesehen werden (S. 16-22). Nicht der Kunstcharakter habe sich verändert, sondern ihre Wahrnehmungsweise. Anlass dafür, diesen Wandel zu erkennen, geben die Reproduktionsmöglichkeiten, deren erste Ansätze sich weit in die Geschichte der Kunst z u rückverfolgen lassen. Mit dem Tafelbild im Gegensatz zum Mosaik und Fresko oder der Portraitbüste im Gegensatz zur Götterstatue lassen sich die Werke an anderen Orten und vor einem größeren Publikum ausstellen. Statt dem Kultwert des Kunstwerks gewinne dessen Ausstellungswert an zunehmender Bedeutung (S. 20). Doch auch dann bleibe das Werk an die kultische Funktion gebunden. »Nur« dasjenige, auf was sich das kultische Ritual bezieht, habe sich verändert: Statt eines magischen dann eines religiösen Zusammenhangs (S. 16) seien es das Authentische des Werks und der Künstler (S. 17, Anm. 8) bzw. der Filmstar (S. 28) und schließlich der Mensch selbst und sein technisches Vermögen (Faschismus) (S. 42-44). Erst die Reproduzierbarkeit, deren fortschrittlichste Ausformung Benjamin im Film ausmacht, ermögliche, das mit den Werken Tradierte zu überwinden und sich entsprechend »zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual« zu emanzipieren (S. 17). Hier könne das Publikum die Haltung eines Begutachters einnehmen. Indem kein persönlicher Kontakt mit dem Darsteller im Film hergestellt werde, fühle sich das Publikum in den Apparat ein: »Es übernimmt dessen Haltung: es testet. Das ist keine Haltung, der Kultwerte ausgesetzt werden können.« (S. 24)

<3>

Unabhängig davon, dass dieses dem Film zugeschriebene Leistungsvermögen bereits von frühen Medientheorien bezweifelt wurde, da dieses eher von einer Hingabe an die Illusion gekennzeichnet sei, wie Andrea Gnam herausarbeitete  [2] macht Benjamin mit seiner Unterscheidung der Wahrnehmungsweisen auf einen wesentlichen Aspekt aufmerksam, der grundsätzlich die Wahrnehmung betrifft, insbesondere die von Kunst. Demnach veranlasse die Fundierung der Kunst auf Ritual und Kult, dass keine kritische Haltung gegenüber dem mit dem Werk Repräsentierten eingenommen werden könne. Benjamin sieht daher die Notwendigkeit eines Bruches mit dieser Funktionsweise. Bereits Werke der Kunst, wie die des DADA leisten dies, indem sie öffentlich Ärgernis erregen. Insbesondere der Film werde jedoch der Aufgabe gerecht, die Massen anzusprechen und er ermögliche es auch, eine kritische Haltung einzunehmen. Die völlig neue Gesetzlichkeit, der sprunghafte Wechsel der Einstellungen und Schauplätze, die Großaufnahme und die Zeitlupe, etc. lassen von der Welt mittels der Apparatur Optisch-Unbewusstes wahrnehmbar werden (S. 35-36).  [3] Hierauf beruhe die »Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen werden will« (S. 36-39, hier S. 39). Das »beiläufige Bemerken«, zu dem die Wahrnehmung des Flüchtigen, Reproduzierten (insbesondere der Film) veranlasst, ermögliche über das Zerstreuende und die Gewöhnung hinaus, insofern eine Examination, auch wenn sie Aufmerksamkeit nicht einschließe. Der Wandel der Wahrnehmungsweisen, wie sie die Reproduktionstechniken auslösen, lässt sich mit Benjamin vor diesem Hintergrund als einer beschreiben, der von einer affirmativen, sich in das Werk versenkenden kontemplativen Wahrnehmungshaltung ausgeht, in der der Betrachter sich sammelt und in dessen Rahmen er eine Stellungnahme abgibt (S. 21, 38), hin zu einer zerstreuten, auf Gewohnheit beruhenden und dennoch kritisch wirksamen Rezeptionshaltung (S. 41). Wesentlich wird bei dieser Unterscheidung, dass durch die Zerstreuung und das zugleich Kontrollierende der Fokus auf das Einmalige und Tradierte, die Aura verloren gehe, so dass sich der Einzelne von deren Vorgaben befreien könne.

<4>

Vor dem Hintergrund, dass der Film, wie zuvor herausgestellt, ebenso wie weiterführend die digitalen Medien, trotz ihrer anfänglich ungewohnten und daher irritierenden Wirkung, diese kritische Haltung nicht zu erzeugen vermögen, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Aura, auf welche Wertvorstellungen diese dann auch immer verweist, immer erhalten bleibt. Sie geht eben nicht verloren und wird auch nicht zertrümmert. Weiterführende Überlegungen dazu von Horst Bredekamp sowie Franz Dröge und Michael Müller bekräftigen diese Annahme.  [4] Die gerade heute beobachtbare, im Gegensatz zu den Anfängen noch gesteigerte allgemeine Sogwirkung des Films und der Neuen Medien scheint dies zu bestätigen. Allerdings können wir die kultische Dimension der Werke heute mit Benjamin wohl weniger in einem magischen oder religiösen Zusammenhang ausmachen – obwohl die Werke in der Fundierung auf das Ritual diese Form, wenn auch nicht den Inhalt, annehmen – sondern in der Authentizität, dem Star, der alternativen virtuellen Welt oder anderen Ersatzformen. Die jüngsten anthropologisch fundierten Forschungen von Hartmut Böhme zu Fetischismus und Kultur betätigen diese Annahme indirekt.  [5] Weiterführend zeugt nach Benjamin dieses, dem kultisch-rituellen verpflichtete Wahrnehmungsverhalten, das in seiner unkritischen Haltung auf Genuss aus ist, von einer Selbstentfremdung des Menschen, die schließlich, wie er abschließend mit Bezug auf die Kriegsverherrlichung seiner Zeit herausstellt »ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt.« (S. 44)

<5>

Entkommen lässt sich diesem letztlich selbstzerstörerischen und, nach Benjamin, »asozialen Verhalten« (S. 38), jedoch weniger mit Hilfe des Kunstwerks und seinen Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit als den Brüchen, die dieses bewusst mit dem eigenen, affirmativ geprägten Wahrnehmungsverhalten provozieren kann. Eine Möglichkeit, die so wohl kaum von am Verkauf orientierter Werbung oder politischer-ideologisch ausgerichteter Propaganda gesucht wird. Insofern liegt mit Bezug auf die Ausgangsfrage der Wert eines Kunstwerks, in der Weiterführung der Gedanken Benjamins, in der Möglichkeit sowohl das eigene Wahrnehmungsverhalten als auch die von ihm unkritisch bestätigten Werte (die Aura) zu hinterfragen. Eine Herausforderung, die sich mit den je unterschiedlichen neuen technischen Möglichkeiten, so auch den digitalen, immer wieder neu und anders stellt.



[1] Benjamin (1936) 1977, Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M., S. 7-44. Vgl. hierzu ergänzend meine erste Besprechung der Thesen Walter Benjamins in: Sauer 2006, Faszination und Schrecken. Wahrnehmungsvorgang und Entscheidungsprozess im Werk Anselm Kiefers, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 02, 2006, S. 183-210 und weiterführend Sauer 2010, Anselm Kiefer. Deutschlandbilder. Orte kultureller Wertebildung (erscheint demnächst)

[2] Vgl. entsprechend Gnams Hinweise auf die Aussagen von Siegfried Kracauer, René Clair und Boris Ejchenbaum, in Gnam 2005, Andrea Gnam, Der Kameramann als Operateur. Benjamins Beitrag zu einer Theorie des frühen Films, in: Walter Benjamins Medientheorie, hrsg. von Christian Schulte, Konstanz, S. 171-186, hier S. 178-179. Eine Annahme, die bis heute von den vielen ebenso gesehen wird. Vgl. hierzu ergänzend Hetzel 2005, Andreas Hetzel, Ästhetische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benjamin, in: Sic et Non – Online Zeitschrift für Philosophie und Kultur, www.sicetnon.org/content/pdf/aesthetische_welterschliessung_hetzel.pdf, S. 252 ff.

[3] Andrea Gnam, (Gnam 2005, S. 182-184, wie Anm. 2) verweist in diesem Zusammenhang auf die erste Fassung des Kunstwerk-Textes von 1934, in dem Benjamin dem Film im Gegensatz zu seinen späteren Ausführungen die Möglichkeit zuschreibt, durch die unbekannten und überraschenden Perspektiven, die der Film eröffnet, das eigene Milieu zu bewältigen. Dadurch gewinne, so Gnam, der Zuschauer ein »neues ästhetisches Bewusstsein«. Erst in der späteren, hier aufgegriffenen Fassung spricht Benjamin vom »Optisch-Unbewussten«, das der Film zugänglich mache, indem etwa durch Großaufnahmen Neues erschlossen werde und verweise derart nach Gnam auf eine »psychologische Tiefendimension«.

[4] Vgl. Horst Bredekamp, Der simulierte Benjamin. Mittelalterliche Bemerkungen zu seiner Aktualität, in: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, Berlin, S. 125 ff. So belege das zweifelhafte Weiterleben der Aura in den Inszenierungstechniken der Naziherrschaft, dass die Aura mit der technischen Reproduzierbarkeit nicht verschwinden muss, sondern im Gegenteil, massenhaft hergestellt werden könne. Vgl. zudem Franz Dröge und Michael Müller, Die Macht der Schönheit, Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg, S. 55 ff. Sie vermerken, dass wenn Benjamins Annahme stimme, und die Reproduktionstechniken eine kritische Haltung ermöglichen, dass dann mit Bezug auf die Rezeptionsweisen die für die Massen charakteristische Wahrnehmung nicht nur zerstreut, sondern auch zugleich rational testend sein müsse. Eine Haltung, die so weder von den Faschisten gewollt noch von den Rezipienten eingenommen wurde. Vgl. ergänzend Anm. 2.

[5] Erkennbar wird dieser Zusammenhang, indem Böhme darauf abhebt, dass der Mensch schon immer Dinge und dazu zählen auch die Bilder, mit Bedeutung auflade, sodass sie als Fetische wirken können (bzw. mit Benjamin eine Aura gewinnen). Sie erfüllen damit, nach Böhme, eine für den Menschen existenzielle Aufgabe. So diene das Schaffen von Fetischen dazu, eine soziale Ordnung herzustellen. Es könne als »ein komplexes System der Ordnungserzeugung, der Handlungssteuerung, der Grenzbewahrung, des Schutzes, der Angstbewältigung, der symbolischen Sinnstiftung und der rituellen Integration von Gemeinschaften und Individuen« angesehen werden. Vgl. hierzu Böhme 2006, Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg, S. 185, sowie zusammenfassend die Rezension von mir dazu, in: Sauer 2007, Kunstchronik, Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege, Hg. Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, Mitteilungsblatt des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker e.V., (07/2007) und in: www.archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2009/948/pdf/Sauer_Hartmut _Boehme_2007.pdf.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Sauer M.: Benjamin revisited. Das Kunstwerk im Zeitalter der digitalen Medien. In: Kunstgeschichte.Texte zur Diskussion, 2011-07 (urn:nbn:de:0009-23-28336).  

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Artikels die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs bei dieser Online-Adresse an.

Kommentare

Es liegen noch keine Kommentare vor.

Möchten Sie Stellung zu diesem Artikel nehmen oder haben Sie Ergänzungen?

Kommentar einreichen.