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Vor gut hundert Jahren, am 5. August 1908, ging das Luftschiff des siebzigjährigen Grafen Zeppelin bei Echterdingen vor zehntausenden von Zuschauern in Flammen auf. Der Luftfahrtpionier hatte wegen Motorschaden seine erste große Fernfahrt vom Bodensee nach Frankfurt und retour unterbrechen müssen. Man wartete im Gasthof ›Zum Hirsch‹ in Echterdingen auf die Monteure der Firma Benz, während Neugierige in Massen aus den umliegenden Ortschaften und Stuttgart herbeiströmten. Die Szene hätte nicht besser geplant sein können. Sie wurde zur feurigen Geburtsstunde jenes industriellen Komplexes, der noch heute als wirtschaftliches Rückgrad des Bodenseeraumes erkennbar ist. Eine gewaltige spontane Spendenflut brach los; innerhalb weniger Wochen verfügte Graf Zeppelin, der so lange um Anerkennung und Fördermittel hatte kämpfen müssen, über mehr als sechs Millionen Goldmark. Der Schrecken der Brandkatastrophe hatte sich zur erhebenden Gemeinschaftserfahrung gewandelt, und die Begeisterung steigerte sich zu ungeahnten Höhen, als der Graf Anfang September 1909 die Hauptstadt Berlin ansteuerte und von Wilhelm II. empfangen wurde. Das Explosionsunglück und der nachfolgende Triumph lösten im Deutschen Kaiserreich eine geradezu religiöse Erschütterung aus, welche die Mondlandungen weit übertroffen hat. Denn der Ablauf der Ereignisse gestaltete sich wie ein mythisches Drama: Vernichtung und Auferstehung haben sich zum überwältigenden Schauspiel gesteigert. Ein Leitbild für Krisensituationen also, das über sich hinausweist?

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»Wir haben Erfindungen und Entdeckungen erlebt, die viel überraschender, viel wunderbarer sind als das lenkbare Luftschiff«, schrieb Kurd Laßwitz 1909. Etwas Unbegreiflicheres als Telephon und Funkspruch könne es kaum geben. Aber angesichts des Luftschiffs mische sich der Schauer des Erhabenen ins Staunen unmittelbarer Anschauung. Individuelle Erfahrung werde zur seelischen Bewegung, die der Menschheit insgesamt zukomme. »Und das ist das Wunder des Zeppelin.«

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Kurd Lasswitz (1848–1910) war einer der schillerndsten Literaten der wilhelminischen Ära. Zu eben jener Zeit, als H.G. Wells mit der Niederschrift seines Kriegs der Welten begann und Graf Zeppelin seine Luftschiffkonstruktion zum Patent anmeldete, also 1895, hat er seinen SF-Roman »Auf zwei Planeten« begonnen. Charakteristisch war die eigentümliche Mischung von intellektueller Ironie, bürgerlicher Betulichkeit und wissenschaftlicher Phantastik. Im Roman hat er Versuchsflüge eines von Marsianern konstruierten Luftschiffs beschrieben, das den ersten Zeppelin-Typen verblüffend ähnelte. Aber diese vor-zeppelinische Zigarre zeigte Flugleistungen, die eher denen von heutigen Düsenjägern – wenn nicht UFOs – entsprachen.

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Haben also seine früheren Privatphantasien Laßwitz bewogen, sich ganz der überwältigenden Realerscheinung des Zeppelin-Luftschiffs über der Reichshauptstadt hinzugeben? – Seine Wesensdeutung schreckte nicht vor religiösen Parallelen zurück: »Die Stimmung, in der wir diese Himmelfahrt erleben, beruht auf gleichen seelischen Erregungen wie jene Stimmung begeisterter Menschen, in der sie Wunder taten von großen Propheten und Heiligen zu sehen meinen.«

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Quintessenz dieses ›hohen Liedes‹ auf Zeppelin: »Hier er leben wir das Wunder als ein Zeugnis von der Macht der Technik, als einen Beweis vom Schaffen-Können des Menschen. Denn dies ist das Evangelium der technischen Kultur: Es ist uns die Macht gegeben, das blinde Werden der Natur umzusetzen in bewußtes Schaffen.« – Nach den ironischen Pirouetten früherer poetischer Phantastik hat Laßwitz also hier die Weihe nunmehr real existierender Flugtechnik verkündet. Damit stand er 1909 nicht allein. Es war das Jahr ungetrübter Erfolge und der höchsten Popularität des Grafen Zeppelin und seines Luftgefährts gewesen. Auch bildlich ist dieser Triumph in die zeitgenössischen Geschichtsvorstellungen eingegangen und förmlich in fiktiven Archiven des Himmels verewigt worden:

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In Bruno H. Bürgels populärer, erstmals 1910 aufgelegter Himmelskunde findet man eine ›astronomische Phantasie‹ samt Zeppelin-Luftschiff.

Astronomische Phantasie, in: Bruno H. Bürgel: Aus fernen Welten.
Eine volkstümliche Himmelskunde, Berlin 1910

Das Bild sollte laut Unterschrift die Wanderung von Lichtstrahlen durch den Weltenraum veranschaulichen. Manchen Bewohnern der Milchstraße erscheine die Erde heute in einem Licht, das vor 4000 Jahren von ihr ausgegangen sei. Vom Fixstern Wega aus sähe man jetzt den Einzug der Deutschen in Paris, von den Sternen des Siebengestirns Friedrich den Großen seine Kriege führen. Aus der Entfernung der Sterne 6. Größe erschiene die Erde heute im Zeitalter Luthers, und auf Sternen 12. Größe kämen erst heute Lichtstrahlen an, die zur Zeit der Schlacht im Teutoburger Walde von der Erde ausgingen. Sämtliche Bilder der Vergangenheit sollten also irgendwo zwischen den Sternen vorhanden sein. – Die Buchillustration des Kunstprofessors Heinrich Harder präsentierte ausgewählte Szenen verteilt auf Wolken wie in einem barocken Deckengemälde. Von links oben ließ er strahlenden Sonnenschein über bodenlos-luftige Geschichtslandschaften hinwegstreichen, um die Wanderung der Lichtstrahlen durch den Weltenraum sinnfällig zu machen. Nur ganz rechts war die Berliner Siegessäule fest auf die Grundlinie des Bildes gesetzt, während direkt zu Häupten der Viktoria Zeppelins Luftschiff für eine unumstößliche Datierung des Bildes sorgte: Der Graf hatte mit seiner berühmten Berlin-Fahrt Anfang September 1909 den Gipfel seiner Popularität erreicht, sogar den Kaiser übertroffen und war nun in die Lichtbilderannalen des Weltenraums eingetragen.

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Heinrich Harders astronomische Phantasie gehört zu den weitläufigen Echos eines kleinen, aber bedeutsamen Textes, der 1846/47 unter dem Titel »Die Gestirne und die Weltgeschichte« erschienen war. Sein Verfasser, der Berliner Jurist und Astronomie-Liebhaber Felix Eberty (1812–1884), hatte darin die höchst folgenreiche Idee von Lichtbildarchiven zwischen den Sternen entwickelt und Harders Bildentwurf vorformuliert: »Vor uns hat sich ein Gemälde ausgebreitet, welches Raum und Zeit zugleich umfasst, und beide so im Ganzen und auf Einmal darstellt, dass wir räumliche und zeitliche Ausdehnung gar nicht mehr zu trennen und zu unterscheiden vermögen.« In Harders Bild sind die Szenen aus der Vergangenheit an der Sonne ausgerichtet. Nur die preußischen Soldaten vor dem Arc de triomphe marschieren geradewegs nach vorn auf die Siegessäule zu, die den Zeppelin wie eine Monstranz auf dem Altar der Geschichte zu präsentieren scheint. Harder hat also, Ebertys Ideen visualisierend und den Zeppelin als Krönung hinzufügend, eine in den Wolken auftauchende Erfolgsgeschichte des Deutschen Kaiserreichs entworfen, die man sich in den Tiefen des Weltalls vollständig archiviert vorstellen sollte. Für Eberty war der bevollmächtigte Augenzeuge Gott gewesen, für Harder waren es nun Nation und Kaiserreich im Hochgefühl des Erreichten – und bei Walter Benjamin, der Ebertys Text und Harders Darstellung vermutlich kannte, hat drei Jahrzehnte später der Engel der Geschichte die Rolle des nun ohnmächtigen Zeugen übernommen, der rückwärts in die Zukunft segelnd nur noch Trümmer sich auftürmen sah:

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Die historische Rückschau des Benjaminschen Engels war von wilhelminischem Glanz und Gloria Welten entfernt; und doch waren in der Trümmerperspektive von 1940 immer noch die Reste eines einst zuversichtlicheren Leitbildes zu erkennen. Mit Benjamins endloser Schreckensvision kann sich der Blick aber auch speziell auf den Beginn der Zeppelin-Begeisterung richten. Die hatte mit jenem nur kurzen Moment des größten Entsetzens begonnen, der allerdings bei Laßwitz und Harder gar nicht mehr auftauchte: 1908 hatte sich das bei Echterdingen notgelandete Luftschiff vor einer riesigen Menschenmenge im Gewittersturm losgerissen und war explodiert; der Graf selbst jedoch und die übrige Besatzung blieben unversehrt. So hatte Glück im Unglück alle Voraussetzungen zur Mythenbildung beigesteuert.

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»Nichts an dieser Katastrophe mutet ›zufällig‹ an«, hat Hugo von Hofmannsthal als ergriffener, aber doch distanzierter Theaterexperte geschrieben; »der Augenblick, in dem sie hereinbricht, ihr ganzer Aufbau muß auch dem stumpfsten Sinn etwas von dem Weltgefühl vermitteln, dessen tiefes und unerschöpfliches Reservoir für jeden, der sie zu lesen versteht, die Tragödien Shakespeares sind. [...] Nie konnte irgendeine Art von ungetrübtem Erfolg das Genie dieses Mannes in solcher Weise krönen wie diese von keiner Phantasie zu überbietende Verbindung von Triumph und Katastrophe. Auf keine Art konnte das Heroische an der Figur des tapferen alten Menschen und das ganze Pathos seines Daseins so blitzartig in die Gemüter von Millionen von Menschen geschleudert werden als durch diese während einer halben Minute aufschlagende Riesenflamme. Die Materie, über die er triumphierte, hat ihm in ihrer Weise zu huldigen verstanden, man kann es nicht anders sagen.«

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Es gab noch direkter betroffene, namhafte Zeugen, deren eigener Lebensweg ganz von diesem Schauspiel bestimmt wurde: »Mein ›wahres‹ Leben begann nicht im Dreikaiserjahr 1888, [...]. Es begann vielmehr am 5. August 1908 auf den Feldern von Echterdingen bei Stuttgart.« So die ersten Worte des Flugzeugkonstrukteurs Ernst Heinkel beim Rückblick auf sein Stürmisches Leben. »Es begann angesichts des unheimlich grellen Feuerscheins, in dem das Zeppelin-Luftschiff LZ 4 vor meinen Augen verbrannte. Mir Zwanzigjährigem war die Zunge gelähmt vor Entsetzen, während das Zeppelin-Luftschiff – eben noch die strahlend schöne, so lang bezweifelte und jetzt doch Wirklichkeit gewordene Verkörperung des uralten Traumes vom Menschenflug – von einer Gewitterböe emporgerissen wurde. [...] Mit unfaßbarer Schnelligkeit ging es in einer riesigen bläulichen Flamme auf.«

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An Heinkels Jugenderinnerung beeindruckt die ungeheuer emotionale, geradezu religiöse Betroffenheit, mit der er sich angesichts der Explosionskatastrophe von 1908 zum Flugzeugkonstrukteur berufen, ja wahrhaft erst geboren fühlte. In der ersten Kapitelüberschrift ist seine atemberaubende Feuertaufe als ›Das Geschenk von Echterdingen‹ verklärt. Heinkel stand mit solch widersprüchlichen Gefühlen nicht allein. In der blauweißen Wasserstoff-Flammensäule des verglühenden Luftschiffs sind die Gefühle, Vorbehalte und Geldbörsen der ganzen wilhelminischen Nation spontan aufgegangen.

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Kritische Zeitzeugen der anbrechenden Flugepoche reagierten schroff: Der wortgewaltige Karl Kraus hat angesichts der Echterdinger Apotheose des Grafen sogar den Untergang des Abendlandes ausgerufen und Zeppelin als apokalyptischen Reiter auf dem Luftschiff-Drachen charakterisiert; Ungläubige und Ikonoklasten, Konkurrenten und Imitatoren taten das Ihrige zur Erosion der neuen Vaterfigur. Bei wieder Anderen dauerte der Umschwung länger; Aby Warburg (1866–1929) verfaßte noch 1913 eine gelehrte Studie über Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt; wohl wissend, daß die modernen Bezeichnungen eigentlich nicht zu den Unternehmen Alexanders des Großen paßten, weil sie Vergleiche mit den schon militärisch in Dienst gestellten Zeppelinen und U-Booten herausforderten. Den beliebten Alexander-Romanen zufolge hatte sich der hellenistische Weltkreiseroberer von Greifen in einem Käfig in die Lüfte tragen lassen, hatte den Meeresgrund in einem gläsernen Faß erkundet und war so auch zum friedlichen Forschungshelden avanciert. Warburgs Sinneswandel zeigte sich, als er 1923 im Kreuzlinger Sanatorium seinen legendären Schlangenritual-Vortrag hielt. Er hat darin die Symbolik indianischer Schlangentänze mit kultischen Gestalten in der Alten Welt verglichen: mit Schlangengottheiten wie Asklepios, Serapis etc. Die magische Entsprechung der Schlangenfigur war in der Neuen Welt der regenverheißende Blitz; und so nahm Warburg indianische Zickzackornamente unter diesem Vorzeichen. Daß auch die Meskalin-Visionen indianischer Peyote-Riten solche Motive in metamorphotischer Fülle lieferten, hat er, jedenfalls laut Textrekonstruktion des Vortrags, mit keinem Wort erwähnt, obwohl er von ihnen gehört haben muß. — War ihm die Evidenz vom Hörensagen zu vage, zu unwissenschaftlich? Oder wollte er nur die harte, ›konvertierbare‹ Währung der fixierten Symbole gelten lassen? Peyote-Visionäre erlebten, wie Augenzeugenberichte belegen, intensive Verwachsungen und multimodale Vermengungen mit der Umwelt; mehr noch: klare Abgrenzungen von ›Ich‹ und Außenwelt schienen aufgehoben. Die Hautnähe, ja Unabtrennbarkeit der unablässig sich verwandelnden Meskalin-Gesichte mag Warburg schon 1895 bei seiner Amerikareise bedrohlich erschienen sein. Gerade deshalb dürfte er in seinem Vortrag auch die neuen technischen Ferngefühl-Zerstörer sondergleichen – Telephon und lenkbares Luftschiff – als ›Mörder‹ des rettungsverheißenden Andachts- und Denkraums verteufelt haben.

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Damit schließt sich der Kreis: Was Laßwitz noch als Gegenpole wunderträchtiger Erfahrungen charakterisierte, wurde von Warburg schließlich in den einen Topf der Ferngefühl-Zerstörer geworfen. Denn Telephon und Luftschiff sind am Anfang tatsächlich Schrecken und Hingabe auslösende ›Nahgefühl-Erreger‹ gewesen: Unscheinbare Quellen geisterhafter Stimmen und kollektiv überwältigende Real-Halluzinationen von kirchturmgroßen, waagerecht in der Luft hängenden, massiven Körpern, deren Erscheinungen menschlicher Intuition zunächst vollkommen widersprachen. – Im Vergleich zu den sechzig Jahre später senkrechtstartenden Mondfahrzeugen der Amerikaner waren es Fliegengewichte: Buchstäblich ›leichter als Luft‹. Aber sie sind den Menschen emotional viel näher gekommen als die regulär feuerspeienden Riesenraketen, die nur aus Kilometerdistanz oder am Fernseher wahrzunehmen waren.

 

Kurzfassung von: Karl Clausberg: Das Wunder des Zeppelin; in Zeppelin 1908-2008. Stiftung und Unternehmen, Piper 2008

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Clausberg K.: »Das Wunder des Zeppelin«. Ein Leitbild in der Krise. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2010-10 (urn:nbn:de:0009-23-25349).  

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