<1>

An verschiedenen Stellen, unter anderem in seinem berühmten Buch »Des lumières et des ombres« (1979), hat sich Henri Alekan zu einer bestimmten Art der Beleuchtung bekannt, die er als Effekt des ästhetisierenden Lichts (l’effet esthétisant)  [1] bezeichnet hat: »Es handelt sich um einen willkürlichen Lichteffekt, der nur dazu bestimmt ist, einen Raum auszufüllen und die Lichter und Schatten im Verhältnis zu den Personen, der Ausstattung und der Handlung in Übereinstimmung zu bringen. Bei einem willkürlichen Effekt kommt das ästhetisierende Licht nicht aus einer präzisen natürlichen Quelle, sondern nur aus den Gedanken seines Schöpfers. Den Gedanken des Künstlers, der meint, da müsse es einen Lichtfleck geben, selbst wenn er nicht logisch ist.«  [2] Im Gegensatz zum naturalistischen Licht, das den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Szenerie gehorcht, indem es etwa das durchs Fenster einfallende Tageslicht oder das Licht einer Lampe in der Dekoration durch Scheinwerfer verstärkt, verlangt das ästhetisierende Licht eine gezielte Abkehr von der ›Logik des Lichts‹, dem die Kameraleute üblicherweise verpflichtet sind.  [3]

<2>

Alekan exemplifiziert seine Überlegungen unter anderem an Standfotografien zu Marcel Carnés »Le Quai des brumes« (Hafen im Nebel, 1938), fotografiert von Eugen Schüfftan, dem Alekan die Entdeckung des Effekts ästhetisierenden Lichts zuschreibt. Die Interieurszene, der die Fotografien entstammen, spielt in einem Wirtshaus am nebeligen Hafen von Le Havre, wo der von Jean Gabin gespielte desertierte Soldat vorübergehend Zuflucht findet. An der Decke der einfachen Stube hängen vereinzelte Öllampen, welche die zahlreichen Lichtreflexe und gefächerten Personenschatten im Raum nicht erklären können. Es ist ein seitlich einfallendes Licht mit starkem Ateliercharakter; in seinen streifig-fleckigen Abstufungen verhehlt es nicht, dass jenseits des Bildrahmens Scheinwerfer im Spiel sind.  [4] Es ist ein nichtdiegetisches Lichts, das in die Diegese einbricht  [5] – ein Störmoment, das irritiert und verzaubert: Der transparente Regenmantel, den die weibliche Hauptfigur Nelly (Michèle Morgan) über ihrem Kostüm trägt, wird zum Lichtfänger, der die Figur wie einen schimmernden Edelstein in rauer Umgebung erscheinen lässt.

1 u. 2 Standfotografien von Roger Kahn zu »Le Quai des brumes«, Frankreich 1938, R: Marcel Carné, K: Eugen Schüfftan

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Die Frage nach dem Grad der naturalistischen Treue nimmt in der Diskussion um die Kunst der Filmfotografie zuweilen die Züge einer Gretchenfrage an. Ich glaube jedoch, dass dadurch wenig gewonnen ist. Filmlicht ist immer »indifferent«, um einen Begriff zu verwenden, mit dem der Kunsthistoriker Wolfgang Schöne ein Licht bezeichnet, das sich keiner naturalistischen Quelle, sei es einer natürlichen oder künstlichen, eindeutig zuordnen lässt. Für die neuzeitliche Malerei des 15. bis 18. Jahrhunderts macht er diese Indifferenz im triangulären Spannungsfeld zwischen natürlichem, künstlichem und sakralem Leuchtlicht aus. Sie besteht ihm zufolge jedoch auch dann noch fort, als das sakrale Licht aus der Malerei des 19. Jahrhunderts wegfällt und das Moment des »Künstlerischen« ihr Erbe antritt. Es ist demnach die künstlerische »Interpretation« des natürlichen und artifiziellen Lichts, die dieses vom Naturalismus abrückt.  [6]

<4>

Akzeptiert man den Gedanken einer grundsätzlichen Indifferenz des Filmlichts, schrumpft der Unterschied zwischen naturalistischem und ästhetisierendem Licht zusammen. Entscheidend ist ein anderes Argument, das sich hinter der Gretchenfrage verbirgt: das des begrenzten Spielraums, den die Konventionen der Lichtgestaltung gewähren. An diesen Konventionen hat Raoul Coutards  [7] ungeschöntes Licht der Straße genauso gerüttelt wie Vittorio Storaros  [8] artifizielles Spiel auf der Farblichtorgel. Alekans Plädoyer für ein ästhetisierendes Licht richtet sich vermutlich weniger gegen einen naturalistischen Beleuchtungsstil als gegen die gängige Praxis, das Hauptlicht an den natürlichen oder künstlichen Lichtquellen im Bild auszurichten. Stein des Anstoßes ist eine – das Spektrum künstlerischer Gestaltungsmöglichkeiten einschränkende – Normierung, Kodifizierung und Unterwerfung des Lichts unter gewisse Spielregeln. Diese Regeln stellen das Licht in den Dienst der Erzählung und weisen ihm bestimmte Funktionen zu.  [9] Dazu gehört (1) die Sichtbarmachung und plastische Gestaltung der Bildwelt; (2) die Spezifizierung von Zeit und Raum; (3) die Schaffung einer Atmosphäre oder Stimmung; (4) die Entfaltung symbolischer Bedeutungen in Anknüpfung an ikonographische Traditionen; (5) die Charakterisierung von Epochenstilen und Genres durch gewisse Beleuchtungsstile sowie (6) (in seltenen Fällen) die Teilhabe am Geschehen als Akteur. Die Frage nach einem Licht jenseits der Erzählung stellt auch an die Theorie gewisse Herausforderungen, denn sie verlangt, das Licht als ästhetische Erscheinung zu denken, als ein Präsenzphänomen, das sich nicht in der Bedeutungsproduktion erschöpft. Ihr ist mit dem geisteswissenschaftlichen Handwerkszeug der Interpretation kaum beizukommen, am ehesten wird man ihr vermutlich mit einer Form der komplexen Beschreibung gerecht, die die sinnliche Materialität der Oberflächenerscheinungen nicht allzu schnell verlässt, um zu den vermeintlich tieferliegenden Sinnschichen vorzudringen.. [10]

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Die funktionale Bindung des Lichts an die Erzählung ist eine frühe Errungenschaft des Kinos, eine Praxis, die sich bereits mit D. W. Griffith konsolidiert und das klassische Erzählkino Hollywoods über die Studio-Ära hinaus bis heute dominiert.  [11] Gerade wenn es darum geht, Perspektiven für ein Licht zu entwickeln, das mehr ist als ein Vehikel narrativer Informationen, scheinen mir Alekans Gedanken interessant. Das Ungeheuerliche des Lichts in »Le Quai des brumes« ist weniger die Befreiung von der ›Logik‹ als vielmehr die Abrückung vom Zentrum der Erzählung. Die gleiche Tendenz lässt sich am Beispiel von Wim Wenders’ »Der Stand der Dinge« (1981) beobachten, den Alekan fotografiert hat und in seinem Buch als Beispiel naturalistischen Lichts anführt. Verstreute Lichtflecken akzentuieren nicht die Gesichter der Figuren, arbeiten nicht dem Schauspiel, den Blicken und Dialogen zu, sondern beleuchten Nebensächliches am Rande, das in der Ordnung des Zeigenswerten eigentlich nichts verloren hat.

3 Standfotografie zu »Der Stand der Dinge«, BRD 1982, R: Wim Wenders, K: Henri Alekan

Während die Kadrierung die Figuren als Träger des Bildgeschehens zentriert und damit eines der wesentlichen Kriterien klassischer Bildgestaltung erfüllt, arbeitet das Licht einer Dezentrierung zu, die den Blick des Betrachters an die Ränder der Bildzone führt. Man kann die Ablenkung des Blicks von den narrativen Zentren der Szene nicht vollständig der Milieuzeichnung oder der Schaffung einer besonderen Atmosphäre zuschreiben. Auch als Aspekte des Ornaments oder Dekors scheinen die Lichtakzente unzureichend gekennzeichnet, denn ihr Beitrag erschöpft sich nicht in der Aufbrechung der einheitlichen Bildfläche. Es gilt vielmehr, nach den Implikationen zu fragen, die diese Lichteffekte über die Milieuzeichnung und Bildgestaltung hinaus für die Erzählung haben.  [12]

<6>

Sowohl die von Alekan beschriebenen naturalistischen als auch die ästhetisierenden Lichteffekte haben die Aufgabe, die homogene Fläche des Bildes zu strukturieren und zu beleben; sie setzen Akzente, deren Helligkeit oberhalb des allgemeinen Lichtniveaus liegt, um dem Eindruck einer Banalität oder Gleichförmigkeit des Bildes entgegenzuwirken.  [13] Während das Führungslicht den Blick auf das im Bild Wesentliche lenkt, zumeist die Person, die die Handlung vorantreibt, beleuchten die naturalistischen und ästhetisierenden Lichteffekte vereinzelte Elemente der Peripherie: die Nebenschauplätze der insignifikanten Raumzonen und Dekorationen. Nun können Lichtakzente, in Abhängigkeit vom jeweiligen Sujet, eine Qualität entfalten, die ihre Aufgabe der Bildbelebung übersteigt und sie in den Rang der eigentlichen Ereignisse oder Erscheinungen hebt. Sie sind in dieser Hinsicht, wie Alekan betont, »subversiv«, denn sie unterwandern die traditionelle Ordnung der Filmlichter, an deren Spitze das Führungslicht steht, das sich den Effektlichtern nun unterordnet. »Willkürliche« Lichtakzente im Raum und auf den Gesichtern bündeln vorübergehend die Aufmerksamkeit des Betrachters, ziehen sie von den Zentren des Interesses ab. Unabhängig von der Frage, ob es sich um ästhetisierendes oder naturalistisches Licht handelt, kommt es zu einer Erweiterung der Lichtpalette und folglich zu einer produktiven Spannung zwischen den hauptsächlichen Dingen und den Bildelementen von geringerem Interesse.  [14] Das Ergebnis ist eine gewisse Vernachlässigung des Erzählauftrags, den das Licht – wie die anderen Ausdrucksmittel des Films – für gewöhnlich erfüllt.

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Licht schafft Gleichheitsbeziehungen zwischen den Bildelementen; es ist, wie Alekan sagt, das Bindemittel (le »liant«), das heterogene Dinge optisch miteinander vereinigt.  [15] Es schafft aber auch Hierarchien, durch Abstufungen in der Helligkeit, welche die Dinge ihrer Wichtigkeit entsprechend ins Licht setzen.  [16] Als wichtig gelten vor allem die Figuren, wenn man die Geschichte des Filmlichts befragt, in der sich das figure lighting bereits zu Beginn der 1910er Jahre durchsetzt und mit ihm die Trennung der Dekorationsbeleuchtung von der Beleuchtung der Akteure.  [17] Das Starsystem Hollywoods hat aus dieser Konvention Kapital geschlagen, indem es die Darsteller, vor allem die weiblichen, nicht nur durch eine individuelle Beleuchtung zu wiedererkennbaren Ikonen formte, sondern sie auch aus dem Bild herausleuchten ließ.  [18] Das subversive Potential der von Alekan beschriebenen Lichteffekte besteht nun darin, diese Hierarchie zu unterwandern, Gesichter mit Schatten zu bedecken und Dekorationen zu akzentuieren, Bedeutsames zu ignorieren und Unbedeutendes hervorzuheben. Mit der Umwälzung der Hierarchien befreit sich das Licht aus einem »Regime der Repräsentation«, das es in den Dienst der Erzählung stellt, und tritt ein in ein »ästhetisches Regime« (Jacques Rancière) der Kunst, das die sinnliche Erscheinung an die Stelle der Signifikation, die Präsenz an die Stelle der Zweckmäßigkeit in einem narrativen Gefüge setzt.  [19] Es fällt aus dem Rahmen der Erzählung, indem es seine Autonomie oder Positionsfreiheit gegenüber der Forderung, Mitteilung zu machen oder Bedeutung zu stiften, behauptet. Stattdessen arbeitet es einer »vision picturale« (Henri Alekan) zu, die die Gesamtheit des Bildeindrucks über die einzelnen Träger narrativer Information stellt. Das Licht erhält den Charakter einer Signatur des Künstlers, der sein Werk als solches selbstbewusst präsentiert. Dieses Licht bedeutet nicht, es erzählt auch nicht. Vielleicht zeigt es nicht einmal etwas anderes als sich selbst.

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In seinem Buch »Über das Licht in der Malerei« aus dem Jahre 1954, das immer noch ein Standardwerk zu diesem Thema darstellt, verweist Wolfgang Schöne auf eine grundsätzliche Doppelfunktion des Beleuchtungslichts, das er als charakteristisch für die neuzeitliche Malerei erachtet. Im Gegensatz zum »Eigenlicht (Sendelicht)« der mittelalterlichen Malerei, das der Bildwelt immanent zu sein scheint, wirke das »Beleuchtungslicht (Zeigelicht)« der neuzeitlichen Malerei, als sei es von der Bildwelt geschieden. Wie die Scheinwerfer einer eingeleuchteten Szene beleuchtet es die Dinge. Es zeigt jedoch nicht nur das Dargestellte, sondern immer auch sich selbst: Es ist »nicht nur Mittel, in dem das Dargestellte sich artikuliert und erkennbar wird, nicht nur ›das allgemeine Sichtbarmachen der Gegenständlichkeit überhaupt‹ (Hegel), sondern es ist ebenfalls im eigentlichen Sinne künstlerischer Inhalt. Die Malerei veranschaulicht nicht nur die in ihr dargestellte Bildwelt, sondern mit ihr zugleich auch das Licht als ein sie zeigendes und vor ihr gezeigtes.«  [20] Man könnte auch von einem irrisierenden Effekt sprechen, in dem sich die Lichteigenschaften der Beleuchtung und des Selbstleuchtens durchdringen. Wenn es zutreffend ist, dass das Beleuchtungslicht von einer grundsätzlichen strukturellen Ambivalenz bestimmt ist, da es nicht nur die Bildwelt, sondern auch sich selbst zur Anschauung bringt, so dürfte diese Qualität des Sich-Selbst-Zeigens umso offensichtlicher zutage treten, je geringer die Bedeutung ist, welche die Erzählung den ins Licht gesetzten Dingen zuweist.

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Vielleicht könnte man die Eigenschaften des sich selbst zur Erscheinung bringenden Lichts in Analogie zum Begriff des pan fassen, den Georges Didi-Huberman in die kunsthistorische Diskussion eingeführt hat, um ein spezifisches Kriterium der Malerei zu fassen: das Sichtbarwerden der Materialursache des Bildes hinter der Darstellung.  [21] Didi-Hubermans Überlegungen sind eingebettet in eine Kritik an Svetlana Alpers’ Verständnis der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, die sie gegen die bis dahin dominierende ikonographische Methode verteidigt. Vermeers Ansicht von Delft (ca. 1660/61) ist Alpers zufolge kein Emblem irgendeines Begriffs, sondern schlicht: eine Ansicht von Delft.  [22]

4 Jan Vermeer: Ansicht von Delft, ca. 1660/61, Öl auf Leinwand, 98,5 x 115,7 cm, Mauritshuis, Den Haag

Im Hinblick auf Prousts »A la recherche du temps perdu« (1913-1922), worin Vermeers Ansicht von Delft eine Rolle spielt, stellt Didi-Huberman nun Alpers’ Sichtweise in Frage: »Endlich stand er vor dem Vermeer«, heißt es bei Proust, »endlich, die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerfeldes. Seine Verwirrung steigerte sich; wie ein Kind an einen gelben Schmetterling, den es fangen will, heftete er seinen Blick an das kostbare kleine Mauerfeld. »So hätte ich schreiben sollen«, sagte er. »Meine letzten Bücher sind zu trocken, mehrere Farbschichten hätten aufgetragen werden müssen, um meinen Satz selbst so kostbar zu machen wie dieses kleine gelbe Mauerfeld.«  [23] Didi-Hubermans Aufmerksamkeit richtet sich auf die Zweideutigkeit der Beziehung zwischen Adjektiv und Substantiv in der französischen Formulierung »pan de mur jaune«. Das Beiwort jaune, gelb, könnte sich sowohl auf la mur, die Mauer, beziehen als auch auf le pan, das Feld oder die Fläche. Während Svetlana Alpers nun eine gelbe Mauer sieht, betrachtet Didi-Huberman eine gelbe Farbfläche. Für ihn »ist das Gelb des Bildes [tableau] Vermeers als Farbe ein pan, ein verstörender Bereich des Gemäldes, das Gemälde wird als ›kostbare‹ und traumatische Materialursache betrachtet«  [24]. Didi-Huberman verdeutlicht seine Argumentation an der Spitzenklöpplerin (ca. 1669/70), einem anderen Gemälde von Vermeer, das schon aufgrund seines kleinen Formats verlangt, dass man besonders nah herantritt, um mit einer gewissen Überraschung festzustellen, dass die Fäden in diesem filigranen Bildgewebe zum Teil ihre Konturen verlieren. Zum Vorschein kommt ein »Strömen roter Farbe«, das sich als »souveräner Unfall« im Bild ereignet.  [25]

5 Jan Vermeer: Die Spitzenklöpplerin, ca. 1670/71, Öl auf Leinwand, 24,5 x 21 cm, Musée du Louvre, Paris

In dieser Hinsicht unterscheidet sich in Didi-Huberman Argumentation der pan vom Detail: Das Detail (der Faden) lässt sich aus seiner Umgebung herauslösen, in seinen Konturen bestimmen, es lässt sich identifizieren und benennen und folglich auch deuten; der pan (die rote Farbe) hingegen verwischt die Konturen und bringt die Figur tendenziell zum Verschwinden. Während das Detail »eine dargestellte Figur« voraussetzt, fördert der pan »die Darstellbarkeit selbst« zutage.  [26]

<10>

Didi-Hubermans Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf die Malerei und ihre Materialursache des Farbpigments, weshalb sie sich nicht ohne Weiteres auf den Film übertragen lassen. Das fotografische Bild erlaubt keine partielle Verwerfung des Gegenständlichen, keine Versenkung der Figur in irgendeinen ›Urgrund‹ des künstlerischen Materials. Und dennoch möchte ich behaupten, dass es in der Wahrnehmung des Films – unabhängig von den technischen Voraussetzungen der Bildproduktion – ein der Malerei vergleichbares Oszillieren zwischen Transparenz und Opazität gibt. Die Vorstellung vom Objektiv als »Glasauge der Kamera«  [27] (Clement Greenberg) hat den Blick auf die Materialität fotografischer Bilder zuweilen verstellt; als sei es gleichgültig, welche optischen Verfahren, welche Filter oder Folien zum Einsatz kommen, um das Bild zu gestalten, es mit künstlerischen Mitteln von der vorfilmischen Realität abzurücken. Die strukturelle Ambivalenz, die Alpers die gelbe Mauer und Didi-Huberman den gelben Farbfleck sehen lässt, kann auch die Wahrnehmung von Fotografie und Film prägen. Während Roland Barthes durch die Bilder hindurch die Sache sieht, die »dagewesen ist«,  [28] betrachtet Jean Epstein auf der Leinwand die Erscheinungen, die sich durch die fotografische Reproduktion selbst unähnlich geworden sind: »etwas, das zuvor nicht existent war«  [29] und das er als photogénie bezeichnet. Das Licht bringt diese strukturelle Ambivalenz fotografischer und filmischer Bilder in besonderer Weise zum Vorschein, weil es – dem Farbpigment der Malerei vergleichbar – ihre Materialursache darstellt und als solche zuweilen sichtbar wird. Das kann auch für die digital produzierten und reproduzierten Bilder gelten, die in sich die Erinnerung an die Spur des Lichts als Materialursache des belichteten Films tragen. Doch wie kann das Licht, das Hegel den »immateriellen Materialien« zurechnete, als Materialursache in Erscheinung treten? Es muss sich, auch um seine Autonomie von der Bildwelt zu behaupten, an die manifesten Dinge und Körper heften. Das Licht bedarf, wie Adolphe Appia es ausdrückt hat, »eines Objektes; d.h. einer zufälligen äußeren Erscheinung, an welcher ihre Gestaltungskraft sich zu bethätigen vermag«  [30] . Es braucht Nellys Regenmantel und die grobe Holzstruktur der Wandbretter (in: »Le Quai des brumes«), es braucht den Kristalllüster über dem Bett oder den Rauch, der aus den Löchern in der Wand dampft, als seien es die Nüstern eines großen Drachen (in: »Der Stand der Dinge«). In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Filmlicht vom Farbpigment der Malerei, dessen Sichtbarkeit auf Kosten der Gegenständlichkeit erwirkt wird.

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Ich möchte meine Überlegungen an Wong Kar-wais Film »In the Mood for Love« (2000) illustrieren, der mir in besonderer Weise den souveränen Unfall eines Lichts vorführt, das sich – obwohl es naturalistisch ist – aus dem Dienst der Narration befreit, um sich selbst zu zeigen.  [31] Der Film wurde von zwei Kameramännern fotografiert: von dem in Asien lebenden Australier Christopher Doyle  [32] – der seit »Days of Being Wild« (1990) bei allen Filmen von Wong Kar-wai die Kamera geführt hat, bis zur ›Trennung‹ der beiden im Anschluss an die fünfjährigen Dreharbeiten zu 2046 (2004) – sowie von dem taiwanesischen Kameramann Pin Bing Lee, der während der laufenden Produktion eingesprungen war, um Doyle zu ersetzen, weil dieser andere Drehverpflichtungen nicht länger aufschieben konnte.  [33] Der Dokumentation zu den Entstehungsarbeiten ist zu entnehmen, dass »In the Mood for Love« ursprünglich eine andere Geschichte erzählte.  [34] Es wurde häufig bemerkt, dass Wong Kar-wai meist nur mit einer groben Skizze der Handlung die Dreharbeiten beginnt und währenddessen an der Entwicklung der Geschichte und der Ausarbeitung des Drehbuchs arbeitet. Mitunter kommt es bei dem dynamischen Wachstum des Filmstoffs zu einer Art ›Zellteilung‹, bei der mehrere Filme (oder Filmideen) aus den Dreharbeiten zu einem Film hervorgehen. 2046 ist eine solche Abspaltung von »In the Mood for Love«, der die Geschichte eines Liebespaares erzählt, das keines ist: Su Li-zhen (Maggie Cheung) und Chow Mo-wan (Tony Leung) verbieten sich das Ausleben, ja sogar das offene Eingeständnis ihrer Liebe zueinander. In einem frühen Stadium der Dreharbeiten, in dem viel ausprobiert und experimentiert wurde, war die Beziehung zwischen den Figuren hingegen geprägt von einer ans Komödiantisch-Frivole grenzenden Erotik. Vor den Augen des Zuschauers leben die beiden ihre Affäre bei ihren heimlichen Treffen im Hotel aus.  [35]

6 Standfotografie als Dokument einer entfallenen Szene aus »In the Mood for Love«, Hongkong 2000, R: Wong Kar-wai, K: Christopher Doyle/Pin Bing Lee

Vor diesem Hintergrund erscheint der Entstehungsprozess des Films wie eine schrittweise Verdrängung des Begehrens aus den Bereichen des Dialogs und der Handlung, nicht um es gänzlich aus dem Film zu verbannen, sondern um es peu à peu in den Raum zu projizieren: Die Sinnlichkeit des Bildraums füllt die Leerstelle unterlassener Rede und Aktion. Man könnte diesen Verwandlungsprozess auch als Sublimation sexueller Energie begreifen, aus der Licht hervorgeht.

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Die mit Licht erfüllten Räume sind schwanger von den Ausdünstungen versagter Liebe. Schwer hängt die Bürde der Figuren in den Stoffen der Möbel, der Vorhänge und Kleider, deren unterschiedliche Texturen das Licht sichtbar und fühlbar machen: die edle Kühle jadefarbenen Porzellans, die matte Samtigkeit gepuderter Haut, die weiche Nachgiebigkeit eines roten Teppichs, über den ein Vorhang weht usw. Der überbordende Sensualismus, die betörende Stofflichkeit der Bilder sind zu einem wesentlichen Teil dem Einsatz des Lichts geschuldet, das den Materialcharakter der Dekorationen und Kostüme, die tastbare Oberflächenbeschaffenheit der Lampen, Telefone, Uhren, Spiegel, Vorhänge, Wandtapeten, Aschenbecher und Kleider herausarbeitet.  [36] Die sinnliche Präsenz dieser Dinge bildet auf der Oberfläche der Bilder einen zweiten ›Film‹, der gegen den Strich der Erzählung läuft: Die Textur wird opak für den Text.

<13>

Zuweilen scheint es, als gleite die Kamera, auf ihrer Zeitreise in das Hongkong der 1960er Jahre, durch ein Museum der Gebrauchskunst, das Wong Kar-wais Ausstatter und Kostümbildner William Chang eingerichtet hat (er hat den Film, wie viele andere des Regisseurs seit Fallen Angels, darüber hinaus auch geschnitten). Der Blick verliert sich zwischen den zahllosen verschiedenfarbigen und ungleich gemusterten (aber gemusterten!) Einrichtungs- und Gebrauchsgegenständen, die in ihrer Einzigartigkeit – jeder für sich – um die Aufmerksamkeit des Betrachters konkurrieren. Wie im Falle der von Alekan beschriebenen Unterwanderung repräsentativer Hierarchien durch Licht ergeben sich auch hier innere Spannungen zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Die Figuren wirken in den stark ornamentierten Kompositionen nicht wichtiger als die sie umgebende Dingwelt. Heterogenes wird auf einer Ebene, auf der des Bildes, zusammengeschmolzen. Es ist ein demokratischer Blick, der die Hierarchien zwischen Dingen und Menschen einebnet: alles ist gleich wichtig oder bildwürdig.  [37]

<14>

Diese Aufhebung der Unterschiede ist zum einen eine Leistung des Lichts, das Gleichheitsbeziehungen zwischen den Dekorationen und Figuren herstellt. Zum anderen ist sie eine Leistung des Production Designs, das ›flache‹ Figur-Grund-Kontraste schafft, indem es keinen Unterschied zwischen den Kostümen der weiblichen Hauptfigur und den Wandtapeten macht.

7 u. 8 Filmstills aus »In the Mood for Love«, Hongkong 2000, R: Wong Kar-wai, K: Christopher Doyle/Pin Bing Lee

Da Kostüm- und Szenenbild in der Hand einer Person lagen, konnte eine besonders starke Korrespondenz zwischen Figur und Raum erreicht werden, die – wenn sie ›logisch‹ wäre – den Eindruck erwecken müsste, dass Su Li-zhen ihre Kleider passend zur Tapete oder zum Lampenschirm wählt. Man mag sich hier an Interieurbilder von Matisse erinnert fühlen, in denen weibliche Figuren in Verbindung mit Pflanzen und Blumen zur femme-fleur stilisiert werden. Die Figuren heben sich optisch nicht vom Hintergrund ab, wodurch der Eindruck einer vexierbildartigen Figur-Grund-Beziehung entsteht, wie sie sich besonders augenfällig in seinem Gemälde »Das lila Gewand« (1937) darstellt.

9 Henri Matisse: Das lila Gewand, 1937, Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm, Museum of Fine Arts, Houston

»Für mich«, schreibt Matisse, »sind Gegenstände und Hintergründe in einem Bild gleich wichtig oder, um es deutlicher zu sagen, es gibt keinen Hauptgegenstand, nur auf die Anordnung kommt es an. Das Bild wird gestaltet durch die Kombination von verschiedenfarbigen Flächen, die schließlich einen ›Ausdruck‹ hervorbringen. So wie in einem Musikstück jede Note der Teil eines Ganzen ist, so will ich, dass jede Farbe ihr Gewicht als Beitrag zum Ganzen hat.«  [38] Matisse, der von sich selbst sagte, er male Bilder, keine Frauen, hat diese Eigenschaft seiner Gemälde, als Bildganzes zu wirken, in Analogie zur Musik gesetzt, so wie auch Wong Kar-wai und Christopher Doyle wiederholt auf die musikalische Gestalt ihrer Filme verwiesen haben.  [39] Ihr Insistieren auf der Bedeutung der Räume  [40] ist im Zusammenhang mit dieser Vorstellung einer Gesamtgestalt des Films zu sehen, die etwas anderes ist als die Summe ihrer hierarchisch geordneten Teile.

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In den Aussagen über seine Arbeit hat sich Christopher Doyle keineswegs als Techniker oder Handwerker zu erkennen gegeben, sondern als redseliger und etwas exzentrischer Poet – ein Poet mit der Bierflasche, den manchem frivolen Ausdruck zum Trotz eine besondere Sensibilität auszeichnet. Diese eigentümliche Mischung aus Exzentrik und Empfindsamkeit, aus Reflexion und Einfühlung, die er in Interviews zum Ausdruck bringt, haftet auch seinen Bildern an. Seine Vorliebe für eine aus ruhiger Hand geführten Kamera entspringt dem Wunsch, auf den Raum und die Personen unmittelbar reagieren zu können, dabei seismographisch aufzuzeichnen, was nicht im Vorfeld notiert war und sich augenblicklich ereignet. Es ist eine Kamera, der das Fehlen eines Drehbuchs zugute kommt, weil sie auf dieser Basis permanent Entdeckungen machen kann.  [41] Sie zeigt wenig Interesse am Offensichtlichen, weil sie Sehenswürdigkeiten andernorts aufspürt. Das von ihm gesetzte Licht reduziert die Räume nicht darauf, Behälter irgendeines Inhalts zu sein, sondern macht diese selbst zum Inhalt. Es ist ein Licht, das nicht Dinge zeigen, sondern Sehen lehren will: das die Sichtbarkeit sichtbar macht.

10 Christopher Doyle: In the Mood for Love, M. Chow (Tony Leung), 2000, Fotografie (Chromogenic Print), 16,5 x 25 cm

11 Christopher Doyle: In the Mood for Love, Mme. Chan (Maggie Cheung), 2000, Fotografie (Chromogenic Print), 16,5 x 25 cm

Es ist sicherlich nicht zufällig, dass Christopher Doyle immer wieder auch auf die Fotografie zurückgegriffen hat, um Drehorte zu erkunden und einen Blick einzuüben, der später in die Kameraarbeit einfließt. Seine Fotografien entstehen im unmittelbaren Umfeld der Dreharbeiten, meist in der Phase der Ideen- und Bildfindung oder in den Drehpausen – am Saum des Austritts aus der Illusion. Dieses im Bild festgehaltene Herausschälen des Schauspielers aus der Rolle steht im Kontext einer unabgeschlossenen Lösung der Fotografien aus dem Rahmen der filmischen Erzählung. Sie sind eigenständige Kunstwerke, aber auch Recherchen am filmischen Bild, die umgekehrt an der in ihnen ausagierten Befreiung vom Erzählerischen teilhaben soll. Seine Fotografien, bemerkt Doyle in einem Interview, bringen ihn »zu ›malerischeren‹ oder ›texturaleren‹ Überlegungen, während beim Kino die ›Farbe‹ das Licht ist, die ›Textur‹ die Gesichter«  [42] .

12 Christopher Doyle: The Space of a Kiss, Tony Leung, »In the Mood for Love«, 1999, Fotografie (35mm, R-Print), 120,7 x cm 78,7

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Der Detailfülle des Bildraums korrespondiert eine eigentümliche Entleerung der Fabel. Wong Kar-wai hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich in dieser Hinsicht bei Michelangelo Antonioni inspiriert habe, dessen Film »L’eclisse« (1962) seine Figuren zum Schluss aus dem Auge verliert, um minutenlang fotografische Eindrücke der urbanen Landschaft und ihrer Statisterie einzufangen, als würde der Film ein problematisch gewordenes Erzählen endgültig aufgeben.  [43] Es geht um die Unwiederholbarkeit des Ungeschehenen, um anwesende Abwesenheit, um verpasste Chancen und unterlassene Berührungen, um Ungelebtes und Ungesagtes; alles ist aufgeschobene Handlung, Geschehen im Potentialis. Vor dem Hintergrund dessen, was über den Entstehungsprozess dieses Films bekannt ist, kann man sich dessen Genese als eine schrittweise Ausdünnung der Fabel vorstellen, als immer mutiger fortschreitende Zurücknahme narrativer Informationen, die erst im Schnitt ihre Vollendung findet. Alle Parameter des Films spielen dieser Absicht zu: Die Kamera folgt den Figuren, obwohl sie überwiegend aus der Hand geführt wird, nicht überall hin, sondern verharrt in einer an Ozu Yasujirō gemahnenden Zurückhaltung vor der Türschwelle, wirft distanzierte oder indirekte Blicke auf das Geschehen oder fotografiert über blinde Spiegel, durch Fensterglas oder Vorhänge, so dass prismatische oder kaleidoskopisch gebrochene Ansichten entstehen – das Glasauge der Kamera wird sichtbar gemacht.  [44] Die Kadrierung spart Wesentliches aus, schneidet Dekorationen und Figuren an und schafft dadurch verschachtelte Bildkompositionen, in denen sich Rahmungen vervielfachen.

13, 14 u. 15 Filmstills aus »In the Mood for Love«, Hongkong 2000, R: Wong Kar-wai, K: Christopher Doyle/Pin Bing Lee

Die Filmmusik übertönt Dialoge bis hin zur vollständigen Auslöschung des Originaltons. Der Schnitt spart Einstellungen aus oder arrangiert sie so, dass sich keine kausallogischen Handlungsabfolgen ergeben; viel eher generiert er eine Wiederholungsstruktur von musikalischer Qualität, die an die Stelle einer Kette aufeinanderfolgender Ereignisse den Fluss eines unendlich gedehnten Ausdrucks setzt: ein in den Konturen zerfließendes Vergehen von Zeit statt isolierbarer Bausteine eines Handlungsgefüges.  [45] In dieser Neuordnung der Hierarchien dient auch das Licht nicht mehr dazu, das für die Erzählung Wesentliche sichtbar zu machen, sondern wird durch die Zurückdrängung der Fabel selbst sichtbar.

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Die Dekorationen sind förmlich übersät von Decken-, Wand- und Stehlampen aller Art, in denen sich das Licht im Bild verkörpert. Es sind Verkörperungen der subversiven und willkürlichen Lichteffekte, von denen bei Alekan die Rede war: Zonen überstrahlender Helligkeit, die den Blick fangen, ohne Bedeutung auszustrahlen.

16, 17 u. 18 Filmstills aus »In the Mood for Love«, Hongkong 2000, R: Wong Kar-wai, K: Christopher Doyle/Pin Bing Lee

Geschickt ist das Filmlicht in die Dekorationen eingebunden; Vorgaben, die der Ausstatter William Chang macht und an denen sich Christopher Doyle und Pin Bing Lee bei ihrer Lichtsetzung orientiert haben.  [46] In den halb verdunkelten Interieurs herrscht zumeist Mischlicht vor, das Kunst- und Tageslicht miteinander kombiniert und dabei reizvolle Kontraste zwischen kalter und warmer Licht- und Schattenfarbe schafft.  [47] Es wäre eine Sisyphosarbeit, alle im Bild sichtbaren Lampen zählen zu wollen. Wiederholt nehmen Einstellungen ihren Ausgangspunkt mit dem Blick auf eine Lichtquelle in der Dekoration, von der aus auf die Figuren geschwenkt wird.  [48] Ihre Prominenz im Bild erschöpft sich nicht in ihrer Funktion von Spendern naturalistischen Lichts, und ihre Omnipräsenz kann kaum als Bemühung gelten, den künstlerischen Gestaltungswillen zu kaschieren. Vielmehr bringen sie diesen umso deutlicher zum Vorschein.

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Zwischen diese Bilder, in denen sich das Licht an die Dekorationen heftet oder sich in ihnen verkörpert, mischen sich immer wieder solche, in denen das Licht aus ihnen herauszuströmen scheint. Es löst sich von der Bindung an die festen Körper, wenn es in den Regentropfen unter der Straßenlampe oder im vielfarbig aufsteigenden Zigarettenrauch als bewegliches Phänomen aufleuchtet.  [49]

19 u. 20 Filmstills aus »In the Mood for Love«, Hongkong 2000, R: Wong Kar-wai, K: Christopher Doyle/Pin Bing Lee

Hier scheint es sich von den Gegenständen zu befreien und in die Atmosphäre auszuströmen; es beleuchtet nicht mehr, sondern wirkt wie ein zum eigenen Leuchten freigewordenes Licht. In diesen Momenten ist es dem Strömen der roten Farbe am nächsten, das den Faden der Spitzenklöpplerin zum Verschwinden bringt.

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Auf diese Weise wird eine Umwertung der Handlung (mythos) vorgenommen, der in der Aristotelischen Ordnung der Vorrang gegenüber der Inszenierung (opsis) gegeben wurde.  [50] Hier nun werden die Bilder aus dem Dienst an der Erzählung befreit. In »2046«, dem Film, der unmittelbar an »In the Mood for Love« anknüpft, ohne als dessen Fortsetzung gelten zu dürfen (gemeinsam mit Days of Being Wild bilden die beiden Filme eine Trilogie), wird diese Befreiung der Bilder vom Erzählauftrag noch einen Schritt weiter getrieben. Hier lässt sich kaum noch eine Fabel extrahieren, die einen narrativen Zusammenhang zwischen lose geknüpften Stationen der im Film thematisierten Reise stiftet. Die Beziehungen eines instabilen Figurenensembles wirken lediglich noch wie Assoziationen, in denen Erinnerungen an Vergangenes und Zukunftsentwürfe in einem imaginären Raum frei zirkulieren. Und dennoch stutze ich bei der Behauptung, dass es ein Licht jenseits des erzählerischen Auftrags gibt – um nun endlich auf das Fragezeichen in der Überschrift meines Beitrags zu sprechen zu kommen. Um seine Befreiung auszuagieren und als Befreites zur Anschauung zu gelangen, braucht das Licht die Bindung an die Erzählung. Der souveräne Unfall kann sich nur inmitten eines Risses ereignen, der durch das Erzählkino hindurch geht, so wie das selbstleuchtende Licht nur aus der Beleuchtung hervortreten kann. Bezeichnenderweise hat Didi-Huberman das Sichtbarwerden des Farbpigments, der Materialursache der Malerei, auch nicht an einem abstrakten Bild von Kasimir Malewitsch, Mark Rothko oder Yves Klein aufgezeigt, sondern an den gegenständlichen Darstellungen Vermeers.

21 u. 22 Christopher Doyle: Michelle Reis in »Fallen Angels«, Fotografie

Zuweilen hat Christopher Doyle in seinen Fotografien dem Bildträger selbst Risse zugefügt, um das Offensichtliche zu durchbrechen. In seinen Filmarbeiten ist es die Erzählung, die verletzt werden muss, um den Blick auf die Bilder zu erneuern. Vielleicht ist es dieser »souveräne Unfall« in den Bildern, auf den Christopher Doyle hinweist, wenn er seine Fotografien mit einer Zeile von Leonard Cohen überschreibt: »There is a crack in everything. That’s how the light gets in.«  [51]

Bildnachweis:

Henri Alekan: Des lumières et des ombres, Paris 1984: Abb. 1, 2 und 3

Vermeer. Das Gesamtwerk, hg. v. Ben Broos/Arthur K. Wheelock, Stuttgart 1995: Abb. 4

Bob Haak: Das Goldene Zeitalter der holländischen Malerei, Köln 1984: Abb. 5

Criterion Collection, 2002, Screenshots von DVD In the Mood for Love: Abb. 6 (Photo Gallery), 7, 8, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19 und 20

Henri Matisse. A Retrospective, Ausst.kat. Museum of Modern Art, New York, hg. v. John Elderfield, New York 1992: Abb. 9

Christopher Doyle und Artnet: Abb. 10 und 11

Christopher Doyle und Howard House: Abb. 12

Christopher Doyle: Angel Talk, London 1996: Abb. 21 und 22

Zum Autor:

Fabienne Liptay, geb. 1974, seit 2007 Juniorprofessorin für Filmgeschichte an der LMU München im Rahmen des Elite-Masterprogramms „Historische Kunst- und Bilddiskurse“. Studium der Filmwissenschaft, Theaterwissenschaft und Anglistik in Mainz. 1999-2001 freie Mitarbeiterin in der Fernsehredaktion „3sat Kulturzeit“ Mainz. 2002 Promotion. 2002-2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Erzählkunst und Bildästhetik des Films sowie zu Wechselbeziehungen zwischen dem Film und den anderen Künsten, zuletzt: FilmKunst, Marburg 2010, hg. mit Henry Keazor u. Susanne Marschall. Zurzeit Arbeit an einer Monografie zur Bildlichkeit im aktuellen Erzählkino.

Kontakt:

LMU München, Institut für Kunstgeschichte, Zentnerstr. 31, D-80798 München

Email: Fabienne.Liptay@lrz.uni-muenchen.de



[1] Henri Alekan: Des lumières et des ombres, Paris 1991, S. 156: »L’effet esthétisant est arbitraire, c’est un élément subversif qui brise la monotonie des surfaces, équilibre et rhyme l’espace.«

[2] Henri Alekan im Gespräch mit Heidi Wiese: Man muß die Technik überwinden, um zur Kunst zu gelangen. Ein Gespräch mit Henri Alekan über..., in: Die Metaphysik des Lichts. Der Kameramann Henri Alekan, hg. v. Heidi Wiese, Marburg 1996, S. 22-57, hier S. 37.

[3] Wim Wenders, der bei zwei Filmen mit Alekan zusammengearbeitet hat, beschreibt die Leistung seines Kameramanns in seiner Laudatio entsprechend als Bruch mit der ›Logik des Lichts‹: »Es gab eine für das Auge unentwirrbare Vielzahl von Schatten, die jeder naturalistischen Sehweise Hohn zu sprechen schienen, Da war keine einzige Lampe so gesetzt, wie ich es gewohnt war. Da herrschte ein Licht, das ich einfach nicht verstand, das aber, durch die Kamera und durch das Grauglas gesehen, Sinn zu machen schien, allerdings einen ganz eigenen, rätselhaften Sinn. [...] Henris Licht war einfach nach anderen Kriterien als realistischen oder naturalistischen ausgerichtet [...]. Henri macht an dem Ort und den Dingen und den Menschen das sichtbar, war vorher, ohne sein Licht, nicht zu sehen gewesen war, was ohne sein Licht auch unsichtbar geblieben wäre. Henris Licht ließ das Wesen von Orten, Menschen und Dingen aufleuchten, es schuf etwas, was vorher nicht dagewesen war.« Wim Wenders: Die lebendige Poesie des Lichts. Laudatio auf Henri Alekan anläßlich der Verleihung des Friedrich Wilhelm Murnau-Preises am 9. Oktober 1993 in Bielefeld, in: Die Metaphysik des Lichts. Der Kameramann Henri Alekan, hg. v. Heidi Wiese, Marburg 1996, S. 10-21, hier S. 13 f.

[4] Vgl. Karl Prümm: Rhetorik des Lichts, in: FilmGeschichte 13, 1999, zitiert nach: Thomas Brandlmeier: Kameraautoren. Technik und Ästhetik, Marburg 2008, S. 355 f.: »Ein so gesetztes Licht erschließt keinen Raum und keinen Hintergrund. Die horizontalen Lichtachsen durchqueren als Flächenlinien das Bild, illuminieren den Bildvordergrund. [...] Seitenlicht dynamisiert das Bild, sprengt die Bildgrenzen, denn das Seitenlicht verweist auf eine Lichtquelle, auf einen Raum außerhalb des Bildes. [...] Von diesem grenzüberschreitenden Licht geht eine starke Beunruhigung aus – vergleichbar mit dem Ton, der aus dem Off in das Bild hineintönt und nicht visuell beglaubigt wird. [...] Trifft es auf Körper und auf Gegenstände entstehen Überstrahlungseffekte, die sich ausnehmen wie Einbrennungen, wie Angriffe des Lichts auf das Bild.«

[5] Vgl. Christine N. Brinckmann: Diegetisches und nondiegetisches Licht, in: Montage/AV 16/2, 2007, S. 71-91.

[6] Vgl. Wolfgang Schöne: Über das Licht in der Malerei, 8. Aufl., unveränd. Nachdr. der 3. Aufl., Berlin 1994, S. 188 ff.

[7] Vgl. Raoul Coutard. Kameramann der Moderne, hg. v. Karl Prümm/Michael Neubauer/Peter Riedel, Marburg 2004.

[8] Vgl. Vittorio Storaro: Scrivere con la Luce. Writing with Light. Immagini e scritti di Vittorio Storaro, 2 Bde., Mailand 2002.

[9] Vgl. hierzu auch Achim Dunker: »Die chinesische Sonne scheint immer von unten«. Licht- und Schattengestaltung im Film, 2., durchges. Aufl., München 1997, S. 21: »Besteht denn die Lichtlogik lediglich darin, daß jede Lichtquelle auf eine Position gestellt wird, die diese auch in der Realität hätte, und daß der Schatten nach rechts fällt, wenn die Lampe links steht? Oder liegt die Logik nicht vielmehr darin, daß das Licht sich logisch zur Geschichte und zum Inhalt verhält?«

[10] Es gibt eine Reihe von Begriffen, die zur Verfügung stünden, um die ästhetische Erscheinung des Lichts zu benennen. Man könnte (mit Martin Seel) von einem subsemiotischen »Rauschen« sprechen oder (mit Hans Ulrich Gumbrecht) von der »Produktion von Präsenz«. Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2000, S. 223 ff.; Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004. Bei Roland Barthes ist vom »dritten Sinn« des Films die Rede, von einem intellektuell nicht zu verwertenden Überschuss, der eine gewisse Indifferenz oder Positionsfreiheit in Bezug auf die Erzählung aufweist. Barthes hat diesen dritten oder stumpfen Sinn als »Gegenerzählung schlechthin« verstanden, welche die eigentliche Erzählung unterwandert, ohne sie zu zerstören. Vgl. Roland Barthes: Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins (1970), in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 47-66, hier S. 61. In Anlehnung an Barthes macht Kristin Thompson den Vorschlag, diesen von der Materialität des Film produzierten und nicht mit dem Begriff des Stils zu fassenden Überschuss als »cinematic excess« zu bezeichnen. Ein Nachdenken über die Kategorie des Exzesses könne dabei, so Thompson, nicht weniger leisten als die Eröffnung einer neuen Perspektive auf die Filmkunst – jenseits des eingeübten Blicks, der in nicht immer angemessener Weise auf die Mechanismen der Signifikation und Narration fixiert ist, wie sie im klassischen kommerziellen Kino Einsatz finden. Vgl. Kristin Thompson: The Concept of Cinematic Excess, in: Film Theory and Criticism. Introductory Readings, hg. v. Leo Braudy/Marshall Cohen, 5. Aufl., New York 1999, S. 487-498.

[11] Vgl. Wolfgang Samlowski/Hans J. Wulff: Vom Sichtbarmachen zur kunstvollen Gestaltung: Geschichte des Filmlichts, in: Licht und Leitung, hg. v. Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Weimar 2002, S. 169-184, zitiert nach der Online-Fassung: www.derwulff.de/2-114, S. 7: »Griffith verfeinerte die Annäherung der Beleuchtung an die natürlicher Begebenheiten. Griffith setzte diesen Stil zur Unterstützung der Erzählung ein, eine funktionale Bindung, in der die filmischen Mittel im Hollywood-Stil bis zum Ende des Studio-Systems bzw. sogar bis heute stehen. Die Erzählung dominiert alle anderen Komponenten des filmischen Textes, alle Ausdrucksmittel des Films dienen primär dem Zweck, die Erzählung zu transportieren.« Im Laufe der Herausbildung unterschiedlicher Beleuchtungsstile, die komplexe Beziehungen zwischen Beleuchtung und Inhalt herstellen, verstärkt sich diese Tendenz: »Die zunehmende Einbeziehung des Lichts in den Kontext des Films, d.h. in die Gesamtaussage der Handlung, ist in der Zeit nach 1920 wichtiger als diese ›kleinen‹ Neuerungen (im Gebrauch einzelner Techniken).« – Peter Baxter bringt diese Praxis der Beleuchtung Hollywoods mit dem Einfluss der Theaterreformer Adolphe Appia und Edward Gordon Craig auf den Film in Verbindung: »The American cinematographer practices as if in considered agreement with the ideals of harmony, of the subordination of light to a primary dramatic inspiration, promulgated by Appia and Craig. At a basic level, certainly, this means no more than the reproduction for the screen of the most obvious conventions of 19th century theatre – ›Comedies were bright; dramas were uncheerful. Day was yellow; night blue‹.« Peter Baxter: On the History and Ideology of Film Lighting, in: Screen 16/3, 1975, S. 83‑106, hier S. 104. – Zur Praxis der Lichtsetzung in Hollywood siehe allgemein Kris Malkievicz: Filmlighting. Talks with Hollywood’s Cinematographers and Gaffers, New York 1986.

[12] In dieser Hinsicht müssen die Überlegungen zum Filmlicht auch über diejenigen zum Licht in der Malerei hinausgehen, das nur in Ausnahmefällen einem narrativen Bildgehalt zuspielt.

[13] Vgl. Alekan 1991 (wie Anm. 1), S. 156: »Les effets ›naturalistes‹ et ›esthétisants‹ sont généralement issus d’un éclairage dont le niveau lumineux est au-dessus du niveau moyen général de l’éclairement choisi. Cela permet une rupture dans la monotonie des surfaces et justifie leur emploi. L’effet esthétisant est l’intégration arbitraire d’un plan d’éclairage parcellaire de surface et de forme variables dans un ensemble ou sur l’›objet‹. Le but de cet effet est, somme pour l’effet naturaliste, de briser l’uniformité ou la banalité des surfaces par la soudaine apparition dans le champ du regard d’élélments subversifs. Cette vision picturale ne peut néanmoins être appliquée à tous les sujets. Dans certains thèmes, elle engendre une nouvelle forme cinéplastique dans laquelle l’effet esthétisant n’est plus considéré comme un élément parmi d’autres à destiné à ›rythmer les surfaces ou les volumes‹, mais par extension devient l’élément plastique principal de toute la surface image. A ce titre, on ne peut pas plus parler de vision picturale mais d’expression originale, le vérisme de l’›objet‹ étant transposé par uns représentation graphique transcendentale.«

[14] Alekan 1991 (wie Anm. 1), S. 161: »Cette extension de la palette tonale a pour conséquence de déclasser l’ordonnancement de la structure des éclairages, à commencer par la lumière-clef qui, en ›puissance‹, alors qu’elle était première, peut se trouver inférieure à la nouvelle lumière d’›effet‹. Mais cela a peu d’importance, le résultat étant la création de tensions différencielles entre les surfaces de moindre intérêt et les centres d’intérêt privilégier.«

[15] Alekan 1991 (wie Anm. 1), S. 156.

[16] Vgl. Alekan 1991 (wie Anm. 1), S. 171.

[17] Wolfgang Samlowski und Hans J. Wulff nennen D. W. Griffiths The Threats of Destiny (1910), fotografiert von Billy Bitzer, als ersten Beitrag zum figure lighting. Vgl. Samlowski/Wulff 2002 (wie Anm. 11), S. 7.

[18] Vgl. John Alton: Painting with Light, Berkeley/Los Angeles/London 1995, S. 171 ff.

[19] Vgl. Jacques Rancière: Von den Regimen der Künste und der mäßigen Relevanz des Begriffs der Moderne, in: ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. v. Maria Muhle, 2. Aufl., Berlin 2008, S. 35-49. Die Unterscheidung zwischen einem repräsentativen und einem ästhetischen Regime wird bei Rancière auch an anderer Stelle thematisiert, unter anderem in: Die Bestimmung der Bilder, in: ders.: Politik der Bilder, 2. Aufl., Zürich/Berlin 2009, S. 7-41; oder in: Prologue. Une fable contrariée, in: ders.: La fable cinématographique, Paris 2001, S. 7-28.

[20] Schöne 1994 (wie Anm. 6), S. 167 f. Auf diese doppelte Erscheinungsweise des Lichts hat auch Rudolf Arnheim hingewiesen, wobei er sich auf die Malerei Rembrandts bezieht: »In Rembrandts Gemälden nehmen die Dinge das Licht als eine von außen kommende Kraft passiv hin, doch gleichzeitig werden sie selbst zu Lichtquellen, die aktiv Energie ausstrahlen.« Rudolf Arnheim: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, 3., unveränd. Aufl., Berlin/New York 2000, S. 320. Vgl. in diesem Kontext auch Baxter 1975 (wie Anm. 11), S. 103.

[21] Vgl. Georges Didi-Huberman: Die Frage des Details, die Frage des pan, in: Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur, hg. v. Edith Futscher/Stefan Neuner/Wolfram Pichler/Ralph Ubl, München 2007, S. 43-86, hier S. 76: »der pan, das ist das Symptom der Malerei im Bild [tableau], wobei die Malerei hier im Sinne einer Materialursache verstanden wird«.

[22] Vgl. Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, S. 25.

[23] Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1922), Bd. 10: Die wiedergefundene Zeit, Frankfurt am Main 1957, S. 187.

[24] Didi-Huberman 2007 (wie Anm. 21), S. 62.

[25] Didi-Huberman 2007 (wie Anm. 21), S. 68.

[26] Didi-Huberman 2007 (wie Anm. 21), S. 83 f.

[27] Clement Greenberg: Das Glasauge der Kamera (1946), in: ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, S. 107-113.

[28] Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 86.

[29] Jean Epstein: Bonjour Cinéma (1921), in: ders.: Bonjour Cinéma und andere Schriften zum Kino, hg. v. Nicole Brenez/Ralph Eue, Wien 2008, S. 28-36, hier S. 33.

[30] Adolphe Appia: Die Musik und die Inscenierung, München 1899, zitiert nach Samlowski/Wulff 2002 (wie Anm. 11), S. 9.

[31] Zu den Verstößen gegen die Logik des Lichts in In the Mood for Love vgl. Richard Blank: Film & Licht. Die Geschichte des Filmlichts ist die Geschichte des Films, Berlin 2009, S. 197-204.

[32] Zur Kameraarbeit Christopher Doyles vgl. unter anderem das Kapitel »Das Auge Chinas: Der Kameramann Christopher Doyle« in: Josef Schnelle/Rüdiger Suchsland: Zeichen und Wunder. Das Kino von Zhang Yimou und Wong Kar-wai, Marburg 2008, S. 148-156; Daniela Sannwald: Das Auge im Herzen. Der Kameramann Christopher Doyle, in: epd Film 2, 2002, S. 23-27; sowie das von Doyle veröffentlichte Tagebuch zu den Dreharbeiten von Happy Together (1997): Don’t Try for Me, Argentina. A Journal of the Shooting of Wong Kar-Wai’s Happy Together, London 2006.

[33] Pin Bing Lee hatte als camera operator bereits der second unit von Fallen Angels (1995) angehört und sich vor allem in der Zusammenarbeit mit dem taiwanesischen Regisseur Hou Hsiao-hsien einen Namen gemacht.

[34] Vgl. das Making-Of zum Film von Wong Kar-wai, das in der DVD-Edition der Criterion Collection zu In the Mood for Love enthalten ist.

[35] Angeblich soll Wong Kar-wai die entscheidende Szene, in der es tatsächlich zur Liebesbegegnung zwischen den beiden Figuren kommt, erst kurz vor der Pressevorführung des Films in Cannes herausgeschnitten haben. Vgl. Schnelle/Suchsland 2008 (wie Anm. 32), S. 38.

[36] Die synästhetische Filmwahrnehmung ist – wie Vivian Sobchack argumentiert – stets eine ambivalente, denn wir haben eine Sinnesempfindung und haben sie nicht. Sobchack beschreibt die Spezifik sinnlicher Filmerfahrung als »having both a ›real‹ (or literal) sensual experience and an ›as-if-real‹ (or figural) sensual experience«. Vivian Sobchack: What My Fingers Knew. The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh, in: dies.: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley/Los Angeles/London 2004, S. 53-84, hier S. 73. Diese Ambivalenz der ästhetischen Filmerfahrung korrespondiert in mancherlei Hinsicht mit derjenigen der Figuren in In the Mood for Love, die sich nahekommen, ohne einander zu berühren. Eine Atmosphäre der ersehnten Intimität und unüberwindlichen Distanz, des sich Verpassens in einem Augenblick unerträglicher Nähe schwebt über ihrer Gesten. Bereits der Zwischentitel zu Beginn des Films beschwört eine Berührung, die nur beinahe stattfindet: »Es war eine peinliche Situation. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, gab ihm aber Gelegenheit näher zu kommen. Er wagte es nicht. Sie drehte sich um und ging.«

[37] Der Gedanke eines demokratischen Blicks spielt eine zentrale Rolle bei Jacques Rancière, der den »Realitätseffekt«, welchen Roland Barthes den insigifikanten Details innerhalb der Erzählung zugesprochen hat, als »Gleichheitseffekt« deutet. Vgl. Jacques Rancière: Image, Narration. The Tensions of Fiction, Vortrag am 4. Juni 2009 im Rahmen des Workshops »Politics of Description«, Bauhaus-Universität Weimar, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. In diesem Zusammenhang von Interesse ist auch William Egglestons Konzept der »demokratischen Kamera«. Vgl. William Eggleston. Democratic Camera. Photographs and Video, 1961-2008, Ausst.kat. Whitney Museum of American Art, New York, u. Haus der Kunst, München, hg. v. Elisabeth Sussman/Thomas Weski, New Haven/London 2008.

[38] Henri Matisse: Über Kunst, hg. v. Jack D. Flam, Zürich 2005, S. 136.

[39] Vgl. hierzu unter anderem das Interview mit Christopher Doyle: Painting with the Camera. Berlinale Talent Campus, 13. Februar 2005: www.berlinale-talentcampus.de/story/96/1596.html: »I think that is a very important thing working with Won Kar-wai that all art aspires to music and music is about time, it is about ideas in time, or ideas expressed in time, it is about the space between the notes, it is about rhythm, it is about repetition, it is about changing octave, about changing speed midway through an idea in order to give the idea a different resonance and it is about jazz, which is you start together and you try to end together and in the middle you d everything you can to have some kind of rapport.« Vgl. auch das Interview mit Wong Kar-wai in: Peter Brunette: Wong Kar-wai, Urbana 2005, S. 130 f.: »I always have to look for some music before we start shooting a film [to serve as a reference point]. We build the whole rhythm of the film so Chris Doyle knows how to dance with the camera. (…) Chris Doyle is like a jazz musician. We don’t discuss the light, we don’t discuss the camera angles, and we know each other very well. For him, he needs to know the rhythm and the color of the film. The color is not actually the color red or blue, it’s his feelings toward the film.«

[40] Vgl. die Aussagen Christopher Doyles auf dem Berlinale Talent Campus zur »importance of the location« in: Doyle 2005 (wie Anm. 39).

[41] Vgl. Stephen Teo: Wong Kar-wai, London 2005, S. 44 f.

[42] Christopher Doyle: Die Farben der Emotion, in: Photo Technik International 2, März/April 2005, S. 52-57, hier S. 57.

[43] Vgl. das Interview mit Wong Kar-wai in: Brunette 2005 (wie Anm. 39), S. 119: »And I learned one thing from Antonioni, he told me, sometimes the main character is not the actors and actresses, it’s the background. Like Eclipse.«

[44] Vgl. Teo 2005 (wie Anm. 41), S. 111: »Like artists who willingly incorporate ›accidents‹ into their art, Doyle and Chang use ink blotches, smears and stains on mirrors and other props as evidence of spontaneity and as testaments to the process of making art« (über den Film Happy Together).

[45] Vgl. Brunette 2005 (wie Anm. 39), S. 97: »[…] the film’s overall structure: An extended series of short vignettes that have a cumulative effect aimed more at enhancing our emotional relation to the principal characters than our Involvement with the plot, while keeping us distances from them through other formal techniques at the same time. And so very often, as in this sequence, nothing, absolutely nothing, ›happens‹. Mo-wan, here and elsewhere in the film, sits and smokes in a dark office with a light shining on him. The camera lingers over the beautiful patterns the smoke makes, and, amazingly, it works. It works precisely because of the evocative music that accompanies the narratively ›empty‹ visuals and unleashes their expressivity. Here and in other sequences, this juxtaposition is accompanied by a slight slowing of the natural speed of the action, enough to partially transmogrify it into abstract visual expression.« In ähnlicher Weise heißt es bei Josef Schnelle und Rüdiger Suchsland: »Die ›extreme Einsamkeit‹ jedes heutigen Liebenden, von der Roland Barthes spricht, ist das gemeinsame Motiv all jener Story-Partikel, die sich zu einem einzigen Sog zusammenfügen: Wongs Filme sind wie ein einziger Bewusstseinsstrom, fragmentarisch erzählt, in losen, assoziativen, aber nuancierten Bildern, die sich gemeinsam mit der genauen Farbdramaturgie, Dialog- und Gedankenfetzen, und mit Musik zu einem dichten und genau rhythmisierten atmosphärischen Teppich zusammenfügen, wie er im gegenwärtigen Kino ohne Beispiel ist.« Schnelle/Suchsland 2008 (wie Anm. 32), S. 18.

[46] Wong Kar-wai im Interview in: Brunette 2005 (wie Anm. 39), S. 131. »So he [William Chang] creates the space and then we react to the space. The way William works, he creates all of the existing light sources of the films. So when Chris walks into the space, he knows how to play with the lights and place his cameras. It’s a very organic process.«

[47] Vgl. David Hay: An Imagist with Camera in Hand, in: The New York Times, 8. November 1998: »Mr. Doyle likes to mix artificial and natural light. His is a visual philosophy honed in Hong Kong, where neon signs, daylight and a glow from a television screen add as much light to a room as a household lamp. ›Nestor Almendros, bless his heart, says light has to have a defined and specific source,‹ Mr Doyle said. ›Sorry. Lighting sources are all mixed now. That is how people live.‹« Siehe hierzu auch das Interview mit Nestor Almendros in: Dennis Schaefer/Larry Salvato: Masters of Light. Conversations with Contemporary Cinematographers, Berkeley/Los Angeles/London 1984, S. 5-22, bes. S. 7: »I start from realism. My way of lighting and seeing is realistic; I don’t use imagination. I use research. [...] The source of the light should always be justified.«

[48] Alekan hat diese Tendenz, Lampen in der Dekoration aufzustellen, dem Effekt des naturalistischen Lichts zugerechnet, das die Vielzahl unterschiedlicher Helligkeitsnuancen durch Lichtquellen im Bild begründet. Vgl. Alekan 1991 (wie Anm. 1), S. 156. Das nichtdiegetische Licht am Drehort wird quasi in das diegetische Licht der Bildwelt eingeschmolzen. Es werden Lichtquellen ins Bild gesetzt, die den Betrachter vergessen lassen sollen, dass jenseits des Bildrahmens Scheinwerfer, Diffusoren, Folien und sonstige Hilfsmittel im Spiel sind. In Bernardo Bertoluccis Il Conformista (Der große Irrtum, 1970) motivieren Fensterlamellen das dramatische Streifenlicht, in dem das schwarz-weiß-gestreifte Kleid Giulias (Stefania Sandrelli) widerhallt; in Alfred Hitchcocks Vertigo (1958) erklärt eine grüne Leuchtreklame am Haus das monochrome Farbbad, in das Madeleine (Kim Novak) nach ihrer Rückkehr aus dem Reich der Toten taucht. Doch zeigt schon der Seitenblick auf diese zwei willkürlich herausgegriffenen Filmbeispiele, dass Lichteffekte die Erklärung ihrer Plausibilität dennoch schuldig bleiben können, weil ihre Wirkung jede im Bild angezeigte oder vom Zuschauer angenommene naturalistische Ursache übersteigt.

[49] Zum Zusammenhang von Licht und Zeit vgl. Gernot Böhme/Reinhard Olschanski: Licht und Zeit, München 2004.

[50] Aristoteles unterscheidet insgesamt sechs Teile in folgender hierarchischer Ordnung: 1. Handlung (mythos), 2. Charaktere (êthê), 3. Sprache (lexis), 4. Erkenntnisfähigkeit (diánoia), 5. Inszenierung (opsis), 6. Melodik (melopoiia). Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1993, S. 21 (1450a).

[51] Vgl. den Fotoband von Christopher Doyle: There Is a Crack in Everything, Hongkong 2003.

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Empfohlene Zitierweise

Fabienne L.: Licht, jenseits des erzählerischen Auftrags. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2010-14 (urn:nbn:de:0009-23-26635).  

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