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In der letzten Dekade hat die Disziplingeschichte der Kunstgeschichte eine tiefgreifende Wandlung vollzogen: Dissertationen und Habilitationen zur Fachhistorie sind keine Seltenheit mehr. Tagungen unterschiedlichster thematischer Ausrichtung erfreuen sich hoher Besucherzahlen. Das Bedürfnis nach allgemeiner Orientierung spiegelt sich in neu erschienenen Kompendien und Lexika wider, die, von großen Verlagen angeregt, oft den Wunsch nach einer Kanonbildung oder nach generalisierenden Erklärungsmustern dokumentieren. Zudem ist eine Tendenz zur organisatorischen Verdichtung erkennbar: Das seit 2005 bestehende Netzwerk zur Kunstgeschichte im Nationalsozialismus und die daran anschließende Gründung der »Gesellschaft für moderne Kunsthistoriographie« (2007), das seit 2006 auf arthistoricum.net abrufbare Themenportal »Geschichte der Kunstgeschichte« und die Gründung eines DFG-Rundgesprächs »Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte« zeugen von dem hohen Bedarf an institutionalisierter Diskussion. Kurz: Innerhalb weniger Jahre hat sich die meta-kunsthistorische ›Sekte‹ einer Handvoll eingeweihter Fachhistoriker zur anerkannten ›Disziplin in der Disziplin‹ entwickelt, deren Forschung auch von Nicht-Spezialisten registriert wird.

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Die Gründe für diese Dynamisierung liegen auf der Hand: Sie erklären sich erstens aus dem in Feuilletons oder Museen omnipräsenten Bedürfnis nach mehr Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte und zweitens aus der spezifischen Situation des Fachs, das sich der methodischen Herausforderung des iconic turn und dem daraus abgeleiteten Selbstverständnis einer bildwissenschaftlichen Leitdisziplin bewusst wird. Methodenreflexion und Standortbestimmung der eigenen Geschichte sind damit für eine Disziplin, die sich zumindest teilweise im Umbruch befindet, unumgänglich. Der große Bereich der Aufarbeitung der Kunstwissenschaft im Nationalsozialismus ist schließlich – als dritter Punkt – die Einlösung eines lange gegebenen Versprechens, der historischen Verantwortung nachzukommen. Wohl wissend um die Relevanz dieses dritten Aspekts wird er vom Verf. in den nachfolgenden Ausführungen ausgeklammert, da seine Erfahrungen vorwiegend auf der Auseinandersetzung mit den Forschungen zur Disziplingeschichte vor 1918 beruhen.

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Überblickt man die gegenwärtigen Tendenzen der Forschung, kann man in groben Zügen folgende Richtungen feststellen:

  • der institutionsgeschichtliche Ansatz, der Organisationsstrukturen der universitären wie außeruniversitären Kunstgeschichte in den Blick nimmt (Sammlungs- und Museumsgeschichte bilden selbständige Zweige, die von der engeren Disziplingeschichte eher abgekoppelt sind).

  • biographische Einzelstudien (sog. ›intellektuelle Biographie‹, ›Leben und Werk‹-Monographie), teilweise verbunden mit der Aufarbeitung unpublizierter Quellen.

  • Untersuchungen zur Bild- und Mediengeschichte, die sich auf das Arbeitsmaterial der Kunsthistoriker wie etwa Kupferstich, Photographie, Lichtbild oder auch Buchillustration beziehen.

  • Arbeiten zu einer ›epistemischen Praxis‹, d.h. zu den (performativen) Arbeitsmethoden und den Arbeitsbedingungen von Kunsthistorikern: Die Kunsthistorikerzeichnung als Forschungsinstrument; ferner: Schreiben, Exzerpieren, Kleben als Verfahren der Wissensgenerierung im Rahmen einer ›Geschichte der epistemischen Dinge‹ (Rheinberger).

  • ideengeschichtlich-philosophische Untersuchungen: Das Verhältnis von Ästhetik und Kunstgeschichte; kunst- und geschichtsphilosophische Systematisierungen und ihre Umsetzung in der Kunstgeschichte.

  • die historiographische Analyse, die sich auf Inhalte und Strukturen kunsthistorischer Sachtexte konzentriert. Darunter fallen Fragen nach Textgattungen, Publikationsbedingungen und -formen, aber auch nach den rhetorischen und sprachlichen Mitteln kunsthistorischer Sinngebung (Ekphrasis und Bildbeschreibung; Narrativität; Funktion der sprachlichen Vermittlung). – Oft in Kopplung mit dem ideengeschichtlichen Ansatz.

  • Geschichte der Kennerschaft; Spezifizierung der Methoden und Zuschreibungspraxis; teils monographisch anhand von Personen (z.B. Morelli, Berenson), teils vergleichend anhand eines Werks oder Künstlers (z.B. Rembrandt, Holbeinstreit).

Sicher kann man diese Punkte nach anderen Fragekomplexen zusammenfassen oder noch weitere methodische ›Schulen‹ hinzufügen, wie z.B. rezeptionsästhetische, ideologiekritische oder soziologische Ansätze, die gegenwärtig – aus m.E. berechtigten Gründen – eher an Attraktivität verloren haben oder in anderen Richtungen aufgegangen sind. Festzuhalten gilt es, dass viele Untersuchungen ihren methodischen Reiz aus der Verknüpfung mehrerer Aspekte beziehen.

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Eine Disziplingeschichte mit verknüpften Fragestellungen lässt sich am besten als ›Geschichte der Epistemologien‹ bezeichnen, die problemorientiert vorgeht und sich im Rahmen einer Konstellationsforschung bewegt. Derartig transdisziplinäre bzw. pluralistische Ansätze können sich von der unsinnigen Konstruktion von Teleologien der ›Verwissenschaftlichung‹ abgrenzen, indem sie sich in der Setzung von jeweils engen Zeitrahmen eine problemgeschichtliche Perspektive verordnen. In Hinblick auf die Disziplingeschichte des 19. Jahrhunderts scheinen mir deshalb folgende Korrekturen, Vertiefungen oder Erweiterungen der Fragestellungen vordringlich:

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  • Revision der Historisierungsmodelle: Es existiert eine Vielzahl thesenhafter Erklärungsmuster, welche die Kunstgeschichte bis zu Warburg und Wölfflin nach homogenen Gesichtspunkten zu erfassen suchen. Sie reichen von der Kontinuität des goethezeitlichen Ganzheits- und Organismusdenkens über die Annahme eines Primats der romantischen Bewegung und der Wirkungsmacht Hegels bis hin zur Vermutung einer kontinuierlich fortschreitenden ›Verwissenschaftlichung‹, die sich an den Naturwissenschaften anlehne. Auffallend ist an allen Deutungsmodellen die Konzentration auf die Epochenschwelle ›um 1800‹. Umgekehrt scheinen Forschungen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft ihren Schwerpunkt auf medienhistorische Aspekte zu legen, ohne inhaltlich an die ideengeschichtliche Perspektive anzuschließen (genau besehen ist z.B. die bloße Annahme des Ersatzes der Kunstbeschreibung durch verbesserte Abbildungen eine Argumentsubstitution, die weder medienimmanent noch intermedial befriedigt). Es besteht daher die Tendenz, dass die Frage nach epistemischen Brüchen nach jeweils unterschiedlichen historischen und medialen Gesichtspunkten gestellt wird. Dass ein Friedrich Theodor Vischer um 1860 oder ein Wilhelm Dilthey um 1890 vermutlich ebenso entscheidend auf die Entwicklung der Kunstwissenschaft eingewirkt hat wie zeitgleiche Medienrevolutionen oder die zuvor erfolgten Grundlegungen durch Hegel und Schelling, sollte gerade bei der Konstruktion von Globalthesen nicht vergessen werden. Angesichts der Inflation der Paradigmawechsel bzw. historischer Homogenisierungen ist die Frage zu stellen, ob die Disziplingeschichte der Zukunft einer noch stärkeren Differenzierung ihres Entstehungsprozesses bedarf: Verstärkt zu unterscheiden wäre nach Kontinuität und Diskontinuität, nach Innovationen, Revisionen und bewussten Reaktivierungen epistemischer Muster, die nicht unbedingt goethezeitlicher Provenienz sein müssen.

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  • Erforschung hermeneutischer Systeme statt begriffsgeschichtlicher Vereinfachungen: Die Kunstwissenschaft des 19. Jahrhunderts unterliegt keinem Methodenmonismus. So verbergen sich hinter Volksgeistkonzepten oft unterschiedliche systematische Ansätze und es erscheint nicht sinnvoll, hinter jeder Organismusmetapher ein romantisches Konzept zu vermuten. Eine stärker an synchronen Binnenordnungen interessierte Fragestellung kann von einer isolierend-begriffsgeschichtlichen Vorgehensweise zu einer integrativen Erfassung von Einzeltheoremen gelangen. Sie sollte verstärkt nach der Funktion und nach dem Stellenwert der Einzelaussagen innerhalb eines hermeneutischen Verfahrens oder kunsthistorischen Systems fragen und diese präzise rekonstruieren (hierbei ergeben sich Schnittpunkte zu der Frage nach epistemischen Praktiken, aber auch zu medienhistorischen und institutionsgeschichtlichen Ansätzen wie der Differenzierung nach ›Schulen‹).

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  • Transdisziplinarität statt konzeptioneller Verengung: Die Geschichte des Fachs Kunstgeschichte muss in weiten Teilen die Geschichte der Nachbardisziplinen einbeziehen. Die Wandlungen der Kunstwissenschaft im 19. Jahrhundert entstanden in enger Bezugnahme auf andere Disziplinen wie die Naturwissenschaften, die Geschichtswissenschaft, die Philologien, die Philosophie und später die Psychologie. Eine vertiefte Untersuchung zur Verbindung zwischen Kunstwissenschaft und den Philologien könnte zeigen, dass die zahlreichen Revisionen und Schärfungen in der Quellen- und Textkritik auch veränderte Rahmenbedingungen für die Kunstgeschichte schufen. Bislang unterschätzt scheint beispielsweise die Rolle der Altertumswissenschaft zu sein, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend an der Einheit von Philologie und Archäologie festhielt und auch noch nach 1850 entscheidende methodisch-operative Impulse ausgelöst hat.

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  • Hinterfragung und Neudefinition des Kanons: In Hinblick auf eine verstärkte Einbeziehung der ›Geschichte der Kunstgeschichte‹ in die universitäre Lehre scheint die Frage nach einem Kanon verbindlicher Texte oder prominenter Kunsthistoriker noch am Anfang. Nicht alle in letzter Zeit erschienenen Überblickswerke können diesen Anspruch einlösen, zumal die fachhistorische Aufarbeitung der Kunstgeschichte momentan einer starken Dynamik unterliegt. Eine Disziplingeschichtsschreibung, die mit der Auswahl von ›Klassikern‹ den Kanon vorschnell einschränkt, bildet bestenfalls den gegenwärtigen Stand der Forschung ab, entzieht sich aber der Chance auf sinnvolle Erweiterungen.

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  • Kritik der Vorläufer in der Disziplingeschichtsschreibung: Im Rahmen dieser Revision sollten auch ältere, teilweise bis jetzt fortgeschriebene Erklärungsmuster überdacht werden. Die in Waetzoldts Deutsche Kunsthistoriker gelegten Grundlagen sollten einer kritischen Aufarbeitung unterzogen werden. Sind dualistische Deutungsmuster wie etwa die Zuteilung von ›Positivisten‹ (Kolloff, Springer) und ›großen Biographen‹ (Justi, Grimm) weiterhin sinnvoll? Ist es noch notwendig, daran mit der Unterscheidung zwischen einer ›literarischen‹ und einer ›wissenschaftlichen‹ Kunstgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert anzuschließen? Oder resultieren solche Deutungsmuster nicht eher aus einer wissenschaftshistorischen Diskussion der 1920er Jahre, die selbst einer genauen Überprüfung und Kontextualisierung bedarf und selbst bereits Teil der Wissenschaftsgeschichte ist?

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Die hier skizzierten fünf Punkte sind vorwiegend aus der ideen- und historiographiegeschichtlichen Perspektive formuliert. Sie resultieren aus dem Umstand, dass die Forschung des Verf.s viele Denkanstöße auch anderen Disziplinen verdankt (z.B. Philosophiehistorikern wie Annemarie Gethmann-Siefert, Lambert Wiesing oder Stephan Nachtsheim; Historikern wie Jörn Rüsen und Wolfgang Hardtwig). Soweit noch nicht geschehen, sollte eine Disziplingeschichte der Kunstgeschichte nicht nur ihre bildwissenschaftlichen Ansätze fortführen, sondern komplementär dazu offen bleiben für die Impulse aus den anderen Wissenschaften. So ist z.B. die jüngst vollzogene Re-Philologisierung der Germanistik ähnlich wie die Bildwissenschaft eine Antwort auf die kulturwissenschaftliche Verunsicherung der 1990er Jahre, indem sie sich bei Ausweitung des thematischen Spektrums auf ihre philologische Kernkompetenz rückbesinnt. Sie kann als Wissenschaft von den historischen Textsorten die bildwissenschaftliche Perspektive sinnvoll ergänzen. Die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte stünde auf diese Weise in engem Kontakt zu den Nachbarwissenschaften: Als repräsentativer Teil der Bildwissenschaft einerseits, als eine für andere Strömungen offene und transdisziplinär operierende Plattform andererseits, die als methodischer ›Seismograph‹ auf die gesamte Kunstgeschichte zurückwirkt. Institutionalisieren ließe sich eine solche ›Geschichte kunsthistorischer Epistemologien‹ in Form eines Jahrbuchs zur kunsthistorischen Wissenschaftsgeschichte – ein Organ, das die Methodenvielfalt bündeln könnte und dem spezialisierten, nicht allein aus Kunsthistorikern bestehenden Fachpublikum neue Denkanstöße vermittelt (bis hin zur Publikation archivalischer Miszellen etc.). Wie längst in anderen Fächern auch, könnte zudem an einer außeruniversitären Institution (z.B. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg) eine Koordinationsstelle für kunsthistorische Wissenschafts- und Disziplingeschichte eingerichtet werden.

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Die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte ist keine eigenständige Disziplin. Dieser Fakt ergibt sich aus der Pluralität der Ansätze wie auch aus der Verschiedenheit ihrer Gegenstände. Die Aufrechterhaltung, ja Verstärkung transdisziplinärer Ansätze nach allen Seiten hin erscheint ebenso vordringlich wie eine Diskussion über methodische Standards und die für die universitäre Lehre notwendige Bildung eines mehr oder weniger verbindlichen Kanons. Um einem selbstreflexiven Reduktionismus oder ideengeschichtlichen Gemeinplätzen langfristig zu entkommen, sollte sich die Disziplingeschichte nicht nur durch die Attraktivität der Themen, sondern auch durch die reflektierte Anwendung ihres Methodenpluralismus und die damit verbundene Differenzierungsbereitschaft auszeichnen.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Rößler J.: Jenseits der großen Erklärungen. Für eine Geschichte kunsthistorischer Epistemologien. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-15 (urn:nbn:de:0009-23-17692).  

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