Die Austreibung der Kunst aus der Kunstgeschichte

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Durch die Umwidmung der Kunstgeschichte zur Bildwissenschaft ist eine dem Fach seit seiner akademischen Konsolidierung konzeptionell eingeschriebene Tendenz zur Entfaltung gebracht worden: die Verdrängung des Kunstbegriffs. Schon die frühen Vertreter einer wissenschaftlichen Kunsthistoriografie haben ihre Selbstbestimmung durch die »Ausrahmung« des Kunstdiskurses, durch seine Befreiung aus den produktionsorientierten Kategorien der Werkstatt gesucht. Nicht mehr die Praxis des Künstlers, sondern die Erfahrung der Kunst durch den Nicht-Künstler bildete das Kriterium für die kunsthistoriografische Theoriebildung. Diese rezeptionstheoretische Prämisse des Faches dient heute seinem Ausgreifen auf ›alle‹ Bilder. Masterstudiengänge, die auf sich halten, vermeiden in ihrer Nomenklatur den Terminus Kunst, um Anschlussfähigkeit an eine Diskussion zu signalisieren, die sich in Folge dieser radikalen »Ausrahmung« der Kunstgeschichte längst in andere Fächer hinein verlagert hat. Die Autoren bildwissenschaftlicher Grundlagentheorie sind keine Kunsthistoriker und sie entwerfen keine historisch fundierten Modelle, sondern semiotische Universalkonzepte (z.B. Sachs-Hombach) oder deskriptiv-typologische Beschreibungen (z.B. Mitchell). In beiden Fällen erscheint das Kunstbild als Exempel, nicht als historischer Gegenstand.

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In diesem Geschichtsverlust, nicht in der Verfransung der Fächer, liegt das Problem. Zumal sich der Ruf nach Interdisziplinarität bei konkreten Versuchen, ihm zu folgen, als schwer umsetzbar erweist, gerade was die Zusammenarbeit mit nächstverwandten Disziplinen wie den Film- und Medienwissenschaften betrifft. Hatten Rudolf Arnheim (Film als Kunst, 1932) und Erwin Panofsky (On Movies, 1936) als Kunsthistoriker ohne Legitimationsproblem über Film geforscht, müssen Kunsthistoriker heute ihr Forschungsinteresse an diesem Gegenstand rechtfertigen. Die Intention etwa, den Erzählfilm systematisch als Kunstform zu untersuchen und die Geschichte der Filmtheorie als spezifischen Teil der Kunsttheorie auszuwerten, stößt dort nicht auf Unterstützung, wo die Interessen der Film- und Medienwissenschaften an der Ausbildung und Verteidigung eines eigenen Fachkanons jenseits der Kunstgeschichte berührt sind. Tatsächlich ist, trotz bzw. wegen der »Ausrahmung« der Kunstgeschichte, deren Forschungsfeld und Wirkungsradius im Gebiet der modernen Kunst und Kultur geschrumpft.

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Festzuhalten sind folgende Punkte:

1. Im Rahmen der Bildwissenschaften hat das Fach Kunstgeschichte keine ›große Theorie‹ geliefert und diese Aufgabe abgegeben, da sie sich entweder auf herkömmliche Methoden (Ikonologie) oder auf Fallstudien beschränkt, die für sich stehen oder summiert und mit einer eher losen konzeptuellen Klammer verbunden werden.

2. hat die Kunstgeschichte bisher keine breit angelegte systematische Erforschung des bewegten Bildes unternommen, so dass sie nicht nur wegen der oben angemerkten Ab- und Ausgrenzungstendenzen anderer, sondern auch auf Grund eigener Enthaltsamkeit im Bereich der Film- und Medienwissenschaften nur wenig präsent ist.

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Diese Entwicklungen wären kaum kritisierbar, würden die Resultate der Bild-, Film- und Medienwissenschaften klar den Horizont der Kunstgeschichte und ihren kanonischen Gegenstandsbereich überschreiten. Wie oben schon angemerkt, steht der Kunstcharakter des Films aber spätestens seit der Untersuchung des Kunstwissenschaftlers Rudolf Arnheim, auf die sich auch heutige Filmwissenschaftler (ohne dem Kunstbegriff Aufmerksamkeit zu zollen) noch beziehen, außer Frage. Dass auch die elektronischen und digitalen Nachfolgemedien des Films Kunst hervorbringen, ist nur deshalb nicht thematisiert worden, weil die inzwischen etablierten Medienwissenschaften wenig Interesse daran hatten, ihren Forschungsgegenstand in das Erbe der Kunstgeschichte zu stellen und potentiell mit ihr zu teilen. Autonomiebestrebungen des Faches Medienwissenschaft lassen sich daran ablesen, dass sogar die historische Kontinuität der Filmästhetik bestritten wird. Im Programm-›Fluss‹ des Fernsehens werde – so eine beliebte aktuelle These – die bürgerliche Kategorie des Kunstwerks vollends außer Kraft gesetzt. Eine kunsthistorische Kompetenz wird von Film-, Bild- und Medienwissenschaftlern vor allem dort anerkannt, wo ein avantgardistischer Zuschnitt des jeweiligen Materials gegeben ist, also etwa angesichts des Experimentalfilms oder der Medienkunst.

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Dennoch ist die Einsicht, dass Kunstgeschichte, Bild-, Film- und Medienwissenschaften ein gemeinsames Forschungsobjekt besitzen, nicht ganz verlorengegangen. Sie markiert sich deutlich etwa in der Frage nach dem Verhältnis filmischer Raumkonstruktion zur Tradition der Zentralperspektive (Heath, Winkler). Hingegen wird – paradoxerweise – die historische Verbindung zwischen herkömmlichen Bildkünsten, Film und Neuen Medien verschleiert, wenn direkt auf kunsthistorische Theoriebildungen, etwa die Gombrichs (Bordwell, Goodman), Bezug genommen wird. Der Kunstcharakter von Bildern, Filmen und Neuen Medien wird durch diesen häufigen Bezug nicht verdeutlicht, sondern radikal aus der Diskussion entfernt. Gombrichs kognitionstheoretisches Konzept von bildlicher Illusion erlaubt es nämlich, den Aspekt der Werkproduktion und ihrer Geschichte zugunsten einer situativen Analyse der Wahrnehmung (Schema und Korrektur) außen vor zu lassen. Auch an Wölfflin und Warburg wird angeknüpft. Psychologische Stilbegriffe und Motivanalysen bedürfen gleichermaßen keiner Reflexion über die Kunst als historischen Gegenstand.

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Die Beliebtheit kunsthistorischer Referenzautoren bei gleichzeitiger Indifferenz der Kunstgeschichte gegenüber wirft ein deutliches Licht auf die Problematik der Kunstgeschichte im Feld der Moderneforschung. Zugespitzt könnte man resümieren – und hiermit kehre ich zum Anfang dieser Überlegungen zurück –, dass die Kunstgeschichte zwar nicht ohne Einfluss auf die aktuelle Bild-, Film- und Medienwissenschaft geblieben ist, dass sie sich aber zugleich selbst marginalisiert hat durch die systematische Negierung ihres eigenen Gegenstands, der Kunst. An deren Stelle traten, wofür übrigens ebenfalls schon Panofsky steht, die Konzepte ›Stil‹ und ›Medium‹.

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Wenn also die Beobachtung stimmt, dass in der Bild-, Film- und Medienwissenschaft an klassische Theoreme einer ›entkunsteten‹ Kunstgeschichte angeknüpft wird, folgt daraus die Notwendigkeit einer erneuten Revision dieser klassischen Methoden, welche auch durch semiotische oder systemtheoretische Ansätze nicht erfolgt ist, denn diese haben die Austreibung der Kunst fortgesetzt. Anstelle des künstlerischen Totalitätsentwurfs trat das in die Lebenswelt entgrenzte Zeichen bzw. der am Modell ökologischer Kreisläufe orientierte Systembegriff. Um ihren Gegenstandsbereich inhaltlich adäquat auszuweiten und kunsthistorische Kompetenz im Feld der bildgeschichtlichen Forschung, der Film- und Mediengeschichte zu behaupten, müsste die Kunstgeschichte ihren Gegenstand – die Kunst – wiederentdecken. Die Kunstgeschichte müsste, um sich als Schlüsseldisziplin der ästhetischen Wissenschaften neu zu positionieren, sich selbst historisieren. Hier hat die fachgeschichtliche Forschung ihre produktive Bedeutung und Aufgabe. Die »Ausrahmung« der Kunstgeschichte benötigt als Korrektiv und konzeptuelle Grundlage insbesondere die Beschäftigung mit jenen tabuisierten Ansätzen, die einst die Kunstgeschichte wieder ›einrahmen‹ wollten, nachdem, einer falschen Konsequenz aus Hegels Vergangenheitslehre folgend, ikonographische und stilgeschichtliche Modelle das »Ende der Kunst« in der methodischen Vorgehensweise ausagierten, statt es zum Thema zu machen.

Kunstgeschichte als historische Wissenschaft der ästhetischen Raumkonstruktion

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Zu befragen und neu zu bewerten ist, in kritischer Nähe zum aktuellen disziplinenübergreifenden spatial turn, der Aufbruch in eine »strenge Kunstwissenschaft«, mit dem Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die Forderung nach einer werkbezogenen Analyse und mit dieser die Thematisierung der künstlerischen Raumkonstruktion verbunden waren. Noch ohne den strengen Werkbezug hatte sich, angefangen mit Jantzens Untersuchungen zum niederländischen Architekturbild (1908) und zum gotischen Kirchenraum (1928), eine kulturhistorische Ausdeutung des Raumverständnisses angebahnt, die, so ließe sich für den damaligen methodischen Neuaufbruch des Faches verallgemeinern, inhaltliche Tiefe in den Mechanismus der Stilbegriffe bringen sollte. Panofskys berühmter Aufsatz zur Perspektive als symbolischer Form (1924/25) steht im Kontext dieser Neuorientierung deutschsprachiger Kunsthistoriografie, deren gemeinsame Intention dahin ging, das universalhistorische Modell der Ersten Wiener Schule (Riegl) zugunsten einer verstärkt deutenden Nahsicht auf die Phänomene zu korrigieren. Nicht nur der plastische, gemalte oder gezeichnete Bildraum, sondern auch der durch Architektur gestaltete topographische Raum galt als Bedeutungsträger. Jantzen hat 1938 in seiner Schrift Über den kunstgeschichtlichen Raumbegriff eine erste, bislang auch nicht durch die rezeptionsästhetische Raumforschung reflektierte historische Skizze dazu vorgelegt, wie sich der Weg von der Form- zur Inhaltsanalyse in der Modifikation des Raumverständnisses darstellt.

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Die politische Kompromittierung eines Teils der kunsthistorischen Raumtheoretiker durch deren Affinität zum Nationalsozialismus hat wohl mit dazu beigetragen, dass ein Versuch, deren Ansätze methodologisch auszuwerten, unterblieben ist, auch wenn es durchaus eine partielle Weiterführung gibt (bei Imdahl, frühen Schriften von Boehm, Kemp u.a.). Eine historisch kritische Aufarbeitung der kunsthistorischen Raumfrage steht umso mehr an, als von hier aus eine Erweiterung des kunstgeschichtlichen Kanons auf Film und Neue Medien konzeptuell zu begründen wäre, zumal die Filmtheorie das bewegte Bild bereits vielfach bezüglich seiner Realisierung eines ästhetischen Raums beschrieben und hierdurch die gemeinsame Plattform mit der Kunstgeschichte benannt hat. Diesem Aspekt film- und medienwissenschaftlicher Theoriebildung muss daher im Abgleich mit der entsprechenden kunsthistoriografischen und -theoretischen Literatur besondere Aufmerksamkeit gelten.

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Für ihre Rolle in der Bildwissenschaft bietet die Raumthematik einen historischen Ankergrund, denn sie bezeichnet die einschneidende innovatorische Rolle des ästhetischen Bildes, das zugunsten universaler Bildmodelle als solches bislang nicht ernsthaft thematisiert wird, vielleicht, weil damit die Rückkehr zu essentialistischen normativen Konzepten einer längst vergangenen Tradition des Faches vorprogrammiert scheint. Dieses aktuelle Vorurteil, dass eine hermeneutisch-werkbezogene Kunstgeschichte ahistorisch, eine kontext- bzw. rezeptionsbezogene Kunstgeschichte hingegen historisch argumentiere, ist jedoch in Frage zu stellen. Die Pendelbewegung zwischen substanzialistischen und funktionalistischen Ansätzen in der Entwicklungsgeschichte des Faches spricht eher dafür, dass das Fach grundsätzlich einer historischen Theorie der Kunst aus dem Weg ging. Wo entweder der Kontext oder das Werk favorisiert wurde, konnte die historische Dynamik der Kunst hinsichtlich ihrer autonomen und relativen Aspekte nicht systematisch ins Blickfeld geraten.

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Das rezeptionsästhetische Paradigma verhilft gegenwärtig der Relativierung aller Kategorien, seien es die der Kunst, des Werks, der Epoche oder die des Autors, zu uneingeschränkter Herrschaft. Insofern steht die Auseinandersetzung mit der historischen Autonomieprämisse der Kunstgeschichte an. Eine Aufarbeitung der frühen kunsthistorischen Raumforschung (Jantzen, Panofsky, Sedlmayr, Pächt, Badt u.a.) kann den immanenten Mangel der kunsthistoriographischen Theorie aufdecken helfen und einer Verfestigung von Disziplingrenzen im Bereich der ästhetischen Wissenschaften entgegenwirken. Dem neuen Interesse an einer Ausdifferenzierung fachspezifischer Gegenstandsbereiche, etwa zwischen bewegtem und nicht bewegtem Bild, zwischen filmischem, elektronischem und digitalem Medium etc., wird durch eine solche historische Fragestellung die sachliche Grenze aufgezeigt. Denn jedes für die Perzeption produzierte Artefakt ist eine ästhetische Raumkonstruktion und lässt sich somit im Rahmen oder vor dem Hintergrund der Kunstgeschichte analysieren.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Prange R.: Kunstgeschichte als Geschichte ästhetischer Raumkonstruktionen. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-23 (urn:nbn:de:0009-23-18091).  

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