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Als zentraler Teil wissenschaftlicher Bemühungen um die Geschichte der Kunstgeschichtsschreibung nimmt die Erforschung der Historiographie zur Architektur besonderen Rang ein. Sie kann sich nicht allein auf Text- und Bilddokumente seit dem 16./17. Jahrhundert stützen, sondern sieht sich darüber hinaus Vorgehensweisen der Einordnung und Interpretation gegenüber, die von teilweise über lange Zeiträume hinweg tradierten Denkmodellen geprägt wurden. Deren Wirkung war umso stärker, als – im Gegensatz etwa zur Malerei – Namen von Entwerfern oder Ausführenden für Architektur eine eher untergeordnete Rolle spielten. Dies kam einer intensiven Aufmerksamkeit für Baukonzepte und Formen zugute, die leichter als Personen miteinander zu vergleichen und in Relation zu setzen waren. Das der Baukunst gewidmete Augenmerk richtete sich infolgedessen eher auf historische Spezialitäten und auf Formulierungen, die für eine Geographie typisch erscheinen.

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Einigen der genannten Denkmodelle diente die bis in neuere Zeit hinein unwidersprochen geltende Auffassung von der Zweiteilung europäischer Kultur als Basis, deren Grundsemantik sich mit den Begriffspaaren ›Klassik – Romantik‹, ›Griechenland – Abendland‹, ›Kultur – Barbarei‹ andeutungsweise umschreiben lässt. Für die Konstruktion einer Geschichte europäischer Architektur leitete sich daraus die Gegenüberstellung ›Antike, Renaissance – Gotik, Barock‹ ab, die wenigstens bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gültigkeit besaß und als Instrument zur Veranschaulichung historischer Prozesse, zur Beschreibung stilistischer Faktizität, aber auch zur Aufdeckung von deren Bedeutung genutzt wurde.

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Dieses Dispositif lieferte die Ausgangsposition für das System eines ästhetisch-ethischen Wertekanons, der den seit dem 16. Jahrhundert aufgrund nationaler und weltanschaulicher Vorstellungen etablierten architekturgeschichtlichen Begriffen jeweils aktuelle Bedeutung und Schärfe verschafft: Besitz und Verlust, Eigenes und Fremdes stehen zur Debatte, und diese Debatte unterstützt ein wichtiges mit Architekturgeschichte verfolgtes Anliegen: Identität zu befördern. Besondere Gleichungen drücken dies aus. Aber sie wandeln sich im Laufe der Zeit und mit der nationalen Zugehörigkeit der Forscher: Antike, Renaissance = Kultur, aber eben auch heidnisch; Gotik = Barbarei, aber eben auch christlich. Weder die Begriffe, noch die mit ihnen transportierten Wertvorstellungen liegen also fest. Der Umfang und die Geschmeidigkeit ihrer Semantik macht sie zu nahezu unbegrenzt nutzbaren Instrumenten.

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Aus der hier knapp skizzierten Sachlage lassen sich Schlussfolgerungen und Empfehlungen für eine Wissenschaftsgeschichte der Architekturgeschichte ableiten. So bietet es sich an, diese Wissenschaftsgeschichte vor dem Hintergrund etablierter Denkstrukturen in ihrem historischen Wandel zu betreiben. Ästhetische Vorstellungen, vor allem aber national ausgerichtetes Denken und national bestimmte Sichtweisen auf alte Kunst sollten dabei einen herausgehobenen Stellenwert finden. Die Angemessenheit eines solchen Vorgehens ist für die Anfänge historischer und ästhetischer Bewertung von Baukunst im 16. Jahrhundert – seit Vasari – ebenso gegeben, wie für das Zeitalter der Nationalstaaten während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wo man Vasaris Gedanken den eigenen Bedürfnissen entsprechend weiterentwickelt.

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Aus den genannten Dichotomien, die auch zum Zwecke der Sichtbarmachung von Geschichte ›Klassisches‹ und ›Unklassisches‹ gegeneinander antreten lassen, sind unschwer wesentliche Stationen und ›Fortschritte‹ der Forschung zu erklären. Sie bieten folglich ein belastbares Fundament, um wichtige Erkenntnisse und Stellungnahmen über historische Architektur darzustellen und in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Position zu würdigen. Zugleich eignen sie sich auch für die Einbeziehung des jeweils aktuellen Bauens in die Überlegungen zur Geschichte der Architektur.

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Problemfelder und Forschungsgebiete innerhalb des skizzierten Komplexes könnten demnach sein:

  • die Abhängigkeit der Architekturforschung von Modellen der Historiographie

  • die besonderen Spezialitäten von Architekturforschung in einzelnen europäischen Ländern (Italien, Frankreich, Deutschland, England)

  • die Entdeckung nationaler Architektursprachen, die Konstruktion historischer Sachverhalte und Prozesse wie die internationalen Auseinandersetzungen darüber

  • der Vergleich dieser Sprachen als Mittel, nationale Partikularität zu finden und zu definieren

  • Begriffsgeschichte der Architekturgeschichte

  • der Aufstieg einzelner Baustile in den Kanon (Gotik, Renaissance, Barock), ihr Einbau in europäische wie nationale kunstgeschichtliche Konstrukte und die Widerstände dagegen

  • die erforschte und interpretierte historische Baukunst als normgebender Faktor für aktuelle Architektur

  • Architektur im Bild als konzentrierte Veranschaulichung ästhetischer und historiographischer Vorstellungen

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Niehr K.: Wissenschaftsgeschichte als Architekturgeschichte. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-11 (urn:nbn:de:0009-23-17842).  

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