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Lassen sich Kunstwerke oder wissenschaftliche Forschung zielgerichtet nach einem zuvor gefassten Plan durchführen? Fragen der Entstehung von Kunstwerken werden von Kunsthistorikern häufig angegangen, indem Kompositionsskizzen und Vorstudien, Bozzetti oder Modelle in Entwicklungsreihen verfolgt werden; viel seltener aber beziehen sie dabei die Produktionsbedingungen, Materialien, Werkzeuge und die ihnen inhärenten Möglichkeiten mit ein. Die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte ist analog dazu traditionell Institutionen, Forschungsgebieten, der Ideengeschichte oder ›Altmeistern‹ auf der Spur. Ein breiterer Horizont wäre gegeben, wenn man Kunst und Wissenschaft erst einmal zu den Arbeiten zählte, die zu ihrer jeweiligen Zeit unter bestimmten Konstellationen gemacht werden. Für die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte hieße dies, die Bedingungen und Logiken ihrer jeweils zeittypischen Wissensproduktion zu untersuchen.

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Berühmte Dispute über Zuschreibungen oder Fälle von Kunstfälschungen wie der des holländischen Vermeer-Forschers Han van Meegeren verweisen unmissverständlich auf die Zeitverhaftetheit der getroffenen Urteile und der Diskurs- und Objektlogiken von Replik, Kopie und Fälschung. Die zur Forschung verwendeten naturwissenschaftlichen und technischen Hilfsmittel und Untersuchungsmethoden haben eine eigene Geschichte, die bisher kaum Thema der Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte geworden ist. Herman Grimms berühmte Plädoyers für die Diaprojektion in den 1890er Jahren sind andererseits ein Beispiel dafür, dass ein Bildmedium einem Kunsthistoriker zu neuen Einsichten in die (im Lichtbild stark vergrößerten) Werke verhalf, gar ihm, so Grimm selbst, erst die Augen für sie öffnete. Er unterzog akzeptierte Werturteile mit Hilfe des Projektors quasi-experimentellen Revisionen. Nicht wegen dieser Bildtests, sondern aufgrund der Gleichzeitigkeit von Vortrag und Projektion sowie der vielfachen Parteinahmen ihrer Befürworter setzte sich die Diaprojektion in den neunziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts langsam in der Kunstgeschichte durch. Richard Hamann und seine Fotografen von Foto Marburg waren der Meinung, erst durch die Linse der Kamera Objekte wirklich zu ›sehen‹. Jedoch wurde diese Ansicht innerhalb der Disziplin nicht konsensfähig; das eigene Fotografieren galt im Fach nie als Grundlage der Forschung.

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Materialien sind widerständig, Instrumente und Medien durchaus so eigenwillig wie es den Resultaten zugeschrieben wird, die sie produzieren, Etablierungsprozesse sind Ergebnisse von Aushandlungen. Die Beobachtung, dass das Experimentieren, Schreiben, Modellbauen, Zeichnen, Fotografieren usw. als wissenschaftliche Praktiken großen Einfluss auf die Formierung von Wissen haben – dass Wissenschaft keine Angelegenheit nur von Theorien oder Konzepten ist –, findet in den letzten Jahren Eingang in die Kunstgeschichte und in die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte. Andere Disziplinen verfolgen diese Überlegungen bereits seit längerem und haben wiederholt versucht, aus Einzeluntersuchungen Schlüsse im Sinne von Ansätzen zu Theorien der Praxis zu ziehen.

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Der practical turn der Geschichte der Naturwissenschaften und Technik nahm seinen Ausgangspunkt gemeinsam mit Bestrebungen, den Einfluss von Dingen wie etwa Werkzeugen auf wissenschaftliche Forschungen und ihre Ergebnisse zu untersuchen. Darauf zielt beispielsweise die Actor-Network-Theory ab, wenn sie beim Verfolgen einer Science in Action (Bruno Latour) komplexe Systeme von Akteuren, Arbeitsmaterialien und Kontexten in ihrem Zusammenspiel in den Blick nimmt. Die Dynamiken und Konflikte in der Arbeit von Einzelforschern sowie der Ausbildung von Wissenschaftlernetzwerken und ihr Zusammenspiel mit den Handlungen mitbestimmenden Dingen, Instrumenten oder Untersuchungsobjekten werden hier seit den 1980er Jahren vor allem in ethnographischen Untersuchungen beobachtet. Nahe liegend ist hier der Rekurs auf jeweils zeittypische, nicht verschriftliche Übereinkünfte des Wissenschaftsbetreibens wie Formen eines händischen Wissens (»gestural knowledge«) und anderen »impliziten Wissens«. Vorteil dieser soziologischen Ansätze sind die in ihnen enthaltenen Kontextualisierungen in Richtung von Politik, Wirtschaft, Recht, Technik und/oder Kultur, die auch die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte vor einer Reduktion etwa auf Bild- und Medienformen bewahren könnten.

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Bei all dem kann es aber nicht darum gehen, den wissenschaftshistorischen Agenden anderer Fächer zu folgen und neue ›Altmeister‹ zu küren – und wenn es Dinge sind –, sondern nur darum, fruchtbare Ansätze an eigenen Objekten und Kontexten auszuprobieren, ihre Tragfähigkeit zu prüfen, sie neu zu adjustieren und weiter zu treiben. So beschäftigt sich etwa die Naturwissenschafts- und Technikgeschichte in den seltensten Fällen mit der Ästhetik der in ihnen produzierten Wissensformen und Medien, dem Kernarbeitsfeld der Kunstgeschichte. Durch fächerübergreifende Untersuchungen ließe sich jedoch auch an einer allgemeineren Geschichte, Theorie und Ästhetik des Wissens und Wissenserwerbs arbeiten. Die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte hätte damit neue Anschlusspunkte zur Geschichte anderer Kulturwissenschaften, aber auch der Naturwissenschaften und Technik gewonnen.

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Die Materialästhetik oder seit neuestem begonnene Forschungen zum Atelier als Produktionsort von Kunst liefern hier für die Erforschung der Kunst sehr sinnvolle Beiträge, die durchaus auf die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte übertragen werden können, indem man ihre Materialien, Medien, Produktionsorte und -formen problematisiert und historisiert. Dazu zählen die Materialien und Medien der Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte und die ihnen immanenten Logiken ebenso wie die der verschiedenen Praktiken des Fachs – von den Forschungs- und Präsentationstechniken wie der (vergleichenden) Werkbetrachtung, den (Lichtbild- bzw. Powerpoint-)Referaten und anderen performativen Akten über verschiedene Publikationsmodi bis hin zu den bisher entwickelten Möglichkeiten des E-Learning und ihren Konsequenzen.

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In diesem Sinne betrieben wäre die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte nicht nur eine Geschichts-, Buch- oder Bildwissenschaft, sondern wie die Kunstgeschichte selbst vor allem auch eine Objektwissenschaft, die auch die Entstehungsbedingungen, Gebrauchslogiken oder die eigenen Ästhetiken der Materialien und Medien, mit und an denen sie arbeitet, berücksichtigt und kontextualisiert.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Matyssek A.: Beim Arbeiten. Für eine Geschichte von Theorien und Ästhetiken der Praxis. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-20 (urn:nbn:de:0009-23-18042).  

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