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Es gibt in der Kunstgeschichte – und nicht nur in der Kunstgeschichte – seit Neuestem die Tendenz, dem fast generell akzeptierten und praktizierten Nominalismus der letzten drei Jahrzehnte mit extremen Realismusbekenntnissen entgegenzutreten. Bilder gewinnen ihre Bedeutung nicht mehr aus der Rekonstruktion ihrer Entstehungs- oder Rezeptionsbedingungen, sondern haben, wie zum Beispiel jüngst bei W. J. T. Mitchell, ein eigenes Wesen mit Willen und Begierden. Auch die Blicke auf die Bilder werden mit einer ähnlichen Sehnsucht nach essentiellen Realitäten behandelt. Statt Michael Baxandalls Bestimmung eines Epochenauges, dem »period eye«, geht es neuerdings darum, die neuronalen Aktivitäten im Gehirn zu identifizieren, die universell beim Betrachten von Bildern stimuliert werden. Das eine Extrem fordert natürlich das andere heraus und nötigt zum Überziehen. Doch dabei sollte es nicht bleiben.

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Sehen und gesehen werden ist eine unauflösliche Wechselbeziehung und an ganz konkrete Orte gebunden. Sich diesen je besonderen Wahrnehmungs- und Handlungsräumen zuzuwenden, ermöglicht eine Blickökologie, mit der die Scylla des Nominalismus und die Charybdis des extremen Realismus umschifft werden können. Es ermöglicht auch, die entweder ahistorisch phänomenalistische oder stark nominalistisch bestimmte Diskussion um den spatial turn der letzten Jahre an die historisch wandelbare Welt der Dinge und ihrer Wahrnehmungen zurückzubinden. Bereits 1992 hat Reinhart Koselleck jene historische Kategorie des Erfahrungsraumes (im Bezug zu den Erwartungshorizonten einer Zeit und Kultur) eingeführt, in der sich für ihn gesellschaftliche Praktiken verdichten. Bis heute aber fehlt noch eine konzertierte Forschung zur Geschichte der anschaulich sinnlichen Erfahrung von Räumen, mit der erst eigentlich eine historisch ausgerichtete Blickökologie begründet werden könnte. Hier ist allemal die Kunstgeschichte gefragt.

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Konkret heißt das, dass man zum Beispiel anhand des Wandels von Ausstellungsräumen eine Geschichte der sinnlichen Erfahrungen schreiben kann, die nicht eine bloße Institutions- oder Rezeptionsgeschichte ist. Durch die historisch bedingte Veränderung von so sinnfälligen Dingen wie Wandfarben, Tapetentexturen und Hängungsschemata wird jedes Mal neu ein gemeinschaftlicher Erfahrungsraum eingegrenzt und abgesteckt, der die Sinne der Betrachter in ganz eigener Weise habitualisiert und damit bestimmte und nicht andere Wahrnehmungen möglich macht oder doch machen soll. Die Analyse dieser intendierten Sinnlichkeit ist aber nur eine Seite der Medaille. Umgekehrt verweisen Erfahrungsräume immer auch auf allgemeine anthropologische Zusammenhänge.

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Ein Blick in die zentralen Erfahrungsräume der Moderne, zum Beispiel die hoch technisierten Transportmittel, zeigt, dass nie ein neuer Ort breitenwirksame Akzeptanz finden konnte, der nicht auch tiefere und ältere Erfahrungsschichten mobilisiert hätte. Anthropologische Grundkonstanten wie Sicherheitssehnsucht und Risikobereitschaft werden hier in je spezifischer Weise ins Gleichgewicht gebracht. Wenig kann so konkret wie die Ausstattung der Eisenbahnwagons, Autoinnenräume und Flugzeugkabinen Auskunft darüber geben, wie in der westlichen Welt seit Beginn des 19. Jahrhunderts Vertrauen in die modernen Technologien trotz uneinschätzbarer Risiken geschaffen werden konnte.

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Die Kunstgeschichte sollte sich der Analyse solcher Alltagsorte nicht verschließen. Überlegungen zum erweiterten Bildbegriff der letzten Jahre aufgreifend, sollte sie fragen, was diese für die Gestaltung und Erfahrung von Räumen bedeuten. Entscheidend dabei ist aber, dass weder der Ort der sinnlichen Erfahrung noch die Wahrnehmung selbst verabsolutiert werden, dass sie in Wechselbeziehung zueinander gesehen und verstanden werden.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Klonk C.: Erfahrungsräume. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-10 (urn:nbn:de:0009-23-17759).  

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