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Im 19. Jahrhundert, speziell in dessen mittleren Jahrzehnten, hat sich die Kunstgeschichte als moderne Disziplin ausgeformt und etabliert. Dieser komplexe Prozess sei hier nur mit wenigen Stichpunkten angedeutet:

  • Verfestigung des Begriffs Kunstgeschichte als Name der Disziplin (Lexika)

  • Absteckung des Gegenstandsbereichs der Disziplin durch monumentale Überblicksdarstellungen (Kugler, Schnaase, Fergusson)

  • verlustreiche Ablösung der Disziplin von der philosophischen Ästhetik

  • Ausbildung wesentlicher Methoden: Stilgeschichte, Formanalyse, kulturgeschichtliche Kontextualisierung, Ikonografie, Quellen- und Realienkunde

  • Ausdifferenzierung des bis heute gängigen Systems der Epochenstile

  • Etablierung als Universitätsfach (relativ spät)

  • Ausdifferenzierung der Publikationsmedien: Überblickswerke, Handbücher, Künstlerbiografien, Werkmonografien, Tafelwerke, Zeitschriftenaufsätze, Rezensionen

  • Transformation der Bildmedien: von Zeichnung und Druckgrafik zur Fotografie (Anwendung in illustrierten Kunstbüchern)

Angesichts der unzweifelhaften Bedeutung der genannten Vorgänge erscheint es in hohem Maße verwunderlich, dass gerade die Phase der Entfaltung des Faches im 19. Jahrhundert trotz der verdienstvollen Überblickswerke von Hubert Locher, Regine Prange und Klaus Niehr bislang weitgehend unerforscht geblieben ist. Die meisten Untersuchungen zur Geschichte der Kunstgeschichte folgen entweder der Faszination des Ursprungs-Topos und widmen sich den noch recht rudimentären Anfängen des Faches bis ins frühe 19. Jahrhundert – oder sie konzentrieren sich auf die große Generation der im frühen 20. Jahrhundert wirkenden Kunsthistoriker, die sich dem heutigen Blick zurück auf die prägenden Phasen der Disziplingeschichte wie eine Barriere entgegenstellt.

Der biografische Forschungsansatz

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Zu Beginn möchte ich zwei Missverständnissen vorbeugen: Hier soll nicht die biografische Methode: Kunstgeschichte als Künstlergeschichte thematisiert werden, die bekanntlich auf eine besonders lange Tradition zurückschaut und im 19. Jahrhundert die Außenwirkung der Disziplin zeitweise stark bestimmt hat (etwa mit Carl Justi und Herman Grimm); mit diesem Ansatz befassen sich aktuelle Forschungen von Karin Hellwig, Johannes Rößler und Joseph Imorde. Auch soll es nicht darum gehen, durch chronikalische Lebens- und Werkgeschichten gleichsam eine Hagiografie der frühen Kunsthistoriker zu etablieren, um auf diese Weise die Entwicklung des Faches zu nobilitieren. Übrigens muss ich die folgende Skizze auf die Problematik der deutschsprachigen Kunsthistoriografie beschränken, da mir hinsichtlich der internationalen Situation der Überblick fehlt – in jedem Fall hat sich die Etablierung der Disziplin ganz wesentlich in Deutschland vollzogen, und manche der hier zu beobachtenden wissenschaftsgeschichtlichen Probleme zeigen sich in anderen Ländern sogar noch verschärft.

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Es sei betont, dass eine umfassendere Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte ohne biografische Forschungen nicht denkbar ist, dass aber gerade auf diesem Feld noch immer gravierende Wissenslücken bestehen. Nur über sorgfältig zu erarbeitende Biografien von Kunsthistorikern kann der gesellschaftliche, lebensweltliche und intellektuelle Kontext ihrer wissenschaftlichen Werke erschlossen werden. Bislang leiden viele Untersuchungen zur Geschichte der Kunstgeschichte darunter, dass Zitate aus älteren wissenschaftlichen Werken aus ihren Zusammenhängen gerissen, willkürlich kombiniert und einseitig aus heutiger Sicht interpretiert werden, ohne den jeweiligen biografischen und werkgeschichtlichen Kontext zu berücksichtigen. Diese vielfach verfälschenden Interpretationen sind dem Ansehen unserer Diszplingeschichte ausgesprochen abträglich.

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Von einer systematischen Aufarbeitung der Biografien der Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts sind wir noch weit entfernt. Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es dieses Forschungsziel nicht einmal im Ansatz; die einzige Ausnahme stellte Jacob Burckhardt dar, der seit langer Zeit eine Fülle biografischer Untersuchungen einschließlich Werk- und Briefeditionen auf sich zieht, jedoch nicht primär in seiner Eigenschaft als Kunsthistoriker, sondern als überragende intellektuelle Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Auch sonst gilt, dass ältere biografische Studien nur zu denjenigen Wissenschaftlern existieren, die durch andere Eigenschaften bekannt geworden sind, etwa Sulpiz Boisserée als Sammler altdeutscher Malerei und Inspirator der neugotischen Bewegung. Erst mit Heinrich Wölfflin setzte die (kleine) Reihe biografiewürdiger Kunsthistoriker ein.

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Seit einiger Zeit hat sich die Situation partiell gewandelt, da einige der bedeutendsten Kunsthistoriker inzwischen detailliert erforscht werden. Von verschiedenen Seiten wird die Lebens- und Werkgeschichte Carl Friedrich von Rumohrs untersucht (insbesondere von Enrica Yvonne Dilk), außerdem erscheint seit Jahren eine umfassende Reprint-Edition der Werke Rumohrs in der Reihe Historia Scientiarum des Hildesheimer Georg Olms-Verlags. Der Verf. hat aufbauend auf seiner (noch unpublizierten) Habilitationsschrift über Karl Schnaase mehrere Aufsätze zu dessen Werk in den intellektuellen Zusammenhängen des 19. Jahrhunderts veröffentlicht; die im engeren Sinn biografischen Forschungen stehen noch zur Publikation an. Bald soll eine Reprint-Edition ausgewählter Werke in der Reihe Historia Scientiarum erscheinen. Großer Nachholbedarf besteht noch im Hinblick auf Franz Kugler. Hier hat allerdings eine jüngst in Berlin veranstaltete Tagung (organisiert von Michel Espagne, Bénédicte Savoy und Céline Trautmann-Waller) neue Forschungen angeregt, die auch das gesellschaftlich-literarische Umfeld Kuglers in Berlin neu beleuchten werden. Ansonsten entstanden über die Jahre immerhin einzelne verdienstvolle monografische Untersuchungen, von denen hier genannt seien: aus früheren Jahren Wolfgang Beyrodt über Gottfried Kinkel und Gabriele Bickendorf über Gustav Friedrich Waagen, danach Elisabeth Ziemer zu Heinrich Gustav Hotho, aktuell Johannes Rößler zu Anton Springer und Carl Justi und Susanne Müller-Bechtel zu Giovanni Battista Cavalcaselle, im Entstehen begriffen die Dissertation von Uta Kaiser über Athanasius Graf Raczyński.

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Ein rascher bibliografischer Blick verrät bereits, dass noch immer ein krasses Missverhältnis besteht zwischen der Fülle an Studien zu Leben und Werk von Jacob Burckhardt auf der einen und zu Schnaase, Kugler, Springer und Justi auf der anderen Seite – ein Kontrast, der keineswegs vergleichbare Unterschiede hinsichtlich des intellektuellen Rangs widerspiegelt. Eher hat man es hier mit der Beharrungskraft konservativer Wissenschaftstraditionen zu tun. Darunter leiden noch stärker die Kunsthistoriker von etwas geringerem Rang, die für eine moderne Wissenschaftsgeschichte aber gleichwohl von großem Interesse sind. So fehlen weitgehend Forschungen über Eduard Kolloff, Johannes Gaye und Herman Grimm, um nur einige zu nennen.

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Eine (auch methodische) Vorbildfunktion für die biografische Erschließung der frühen Kunsthistoriker kommt der Literaturgeschichte zu, die nicht allein die Lebensläufe und Werkentwicklungen vieler Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts mit bewundernswerter Präzision erforscht, sondern damit auch die Bedeutung des biografischen Kontextes für die Interpretation der Werke vielfach mit aller Deutlichkeit demonstriert hat. Der Vergleich liegt hier sehr nahe, da die Kunsthistoriker ebenfalls Schriftsteller sind, einige sogar mit beachtlichen literarischen Fähigkeiten (Schnaase, Burckhardt, Justi). Die Literaturwissenschaft hat auch gezeigt, wie wichtig grundlegende Erschließungen von Korrespondenzen oder Tagebüchern sind – gerade hier ist im Hinblick auf die Kunsthistoriografie fast durchweg noch Pionierarbeit zu leisten. Die Untersuchungen zu den frühen Kunsthistorikern können in manchen Fällen direkt von den Forschungen der Literaturhistoriker profitieren, und zwar immer dann, wenn es eine biografische Verbindung mit einem bekannteren Schriftsteller gibt, im Fall Karl Schnaases etwa mit Karl Immermann in Düsseldorf, im Fall Franz Kuglers mit den Dichtern des Berliner »Tunnel über der Spree«, insbesondere Theodor Fontane.

Der konzeptionsgeschichtliche Forschungsansatz am Beispiel der Stilepochenbegriffe

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Neben dem skizzierten biografischen Ansatz müssen mehrere weitere Arbeitsmethoden zur Anwendung kommen, um die Prozesse der Genese und Entfaltung der Disziplin Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert in ihrer Komplexität erfassen zu können. Ein methodischer Ansatz, der bislang auffallend wenig verfolgt wurde, aber großen wissenschaftlichen Gewinn verspricht, ist derjenige der Begriffs- und Konzeptionsgeschichte, der im Folgenden am Beispiel der Stilepochen-Terminologie erläutert werden soll.

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Die heute gängigen Vorstellungen über die Stilepochen der Kunstgeschichte haben sich nahezu vollständig in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausgebildet. Dies gilt nicht allein für den populären Sprachgebrauch, dem es vor allem auf die klare Unterscheidung etwa von ›Baustilen‹ ankommt, sondern auch für die komplexen Klassifizierungen der Kunsthistoriographie. Auch wenn es zum guten Ton unter Kunsthistorikern gehört, die Existenz von Epochenstilen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, werden die entsprechenden Begriffe heute mit aller Selbstverständlichkeit in Fachdiskursen verwendet – die Anführungszeichen schwingen gleichsam im Hintergrund mit.

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Untersuchungen zur Verwendung von Stilbegriffen können prinzipiell drei verschiedene methodische Wege beschreiten:

1) Ausgehend von bestimmten Gegenstandsbereichen der bildenden Kunst oder Architektur wird deren kunsthistorische Klassifizierung nach heutigem Erkenntnisstand überprüft – in diesem Sinne ist zu untersuchen, inwiefern einzelne Stilbegriffe ihrem Gegenstand adäquat erscheinen. Dies könnte beispielsweise die Periodisierung der deutschen Sakralarchitektur des frühen 13. Jahrhunderts betreffen: Sind die Dombauten von Bamberg, Naumburg und Magdeburg der Spätromanik, der Frühgotik oder gar einem ›Übergangsstil‹ zuzuordnen, oder versagen diese Stilbegriffe im gegenwärtigen Forschungszusammenhang generell?

2) Erforscht wird die Geschichte der Stilbegriffe selbst, von der frühen Verwendung in verstreuten Texten bis zu ihrer kunsthistorischen Kanonisierung. Dieser Forschungszweig ist naturgemäß im Grenzbereich von Kunstgeschichte und Philologie angesiedelt und bringt im Resultat eine eigentümliche Chronologie der Begriffsverwendungen hervor, die in keinerlei Weise mit der zeitlichen Abfolge der Stilphänomene korreliert. So ist der Gotikbegriff nicht nur weit älter als der der Romanik, sondern weist eine weitaus komplexere Verwendungsgeschichte auf. Auf diesem Feld existiert bereits eine Reihe von Untersuchungen, unter anderem von Paul Frankl und Klaus Niehr zum Gotikbegriff, vom Verf. zum Renaissancebegriff, und die Geschichte des Barockbegriffs wird derzeit intensiv untersucht (Ute Engel, Peter Heinrich Jahn, Evonne Levy).

3) Schließlich kann man nach der Geschichte der dominierenden Vorstellungen zu großen kunsthistorischen Epochenkomplexen fragen, die sich in der wechselnden Bevorzugung einzelner Stilbegriffe äußern. So macht es einen großen Unterschied, ob die mittelalterlichen Bauten eines Landes primär übergreifenden europäischen Epochenstilen oder nationalen Stilkategorien zugeordnet werden. Dieser methodische Ansatz erscheint besonders fruchtbar im Hinblick auf eine kulturhistorisch verankerte Geschichte der Kunstgeschichtsschreibung – leider muss man feststellen, dass er bislang kaum systematisch verfolgt worden ist. Einen ersten Versuch hat der Verf. im Hinblick auf das System der Stilbegriffe zur mittelalterlichen Architektur unternommen.

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Als Perspektive für zukünftige Forschungen wird es wichtig sein, nicht allein die Verwendungen unterschiedlicher Stilbegriffe und ihre Interdependenzen zu erfassen, sondern auch die sich darin äußernden ästhetischen und weltanschaulichen Wandlungsprozesse samt ihrer politischen Hintergründe (z.B. nationalistische Konnotationen) zu erforschen. Daneben sind interdisziplinäre Wechselbeziehungen, vor allem zu den Taxonomien der Geschichtswissenschaft und der philosophischen Ästhetik, zu berücksichtigen. Der Gewinn dieser Forschungen besteht darin, dass die Genese des modernen kunsthistorischen Denkens über die Entwicklung der Begrifflichkeit relativ präzise erfasst werden kann.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Karge H.: Die Entfaltung der wissenschaftlichen Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert - biografische und konzeptgeschichtliche Ansätze der Erforschung. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-9 (urn:nbn:de:0009-23-18002).  

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