<1>

Neue Perspektiven für die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte lassen sich gewinnen, ist man bereit, sich auf die Wissenschaftstheorie einzulassen. Mit Blick auf ihr Verhandeln von Theoriebildung und experimenteller Praxis vor allem in den Naturwissenschaften hat die Wissenschaftstheorie in den letzten Jahren eine grundsätzliche Neuorientierung erfahren, die mit einflussreichen Büchern wie Laboratory Life und Science in Action ihre Losung und Programmatik gefunden hat.  [1] Der Tradition galt das Experiment als das bloß ausführende Organ der Theorie bei der Prüfung und Rechtfertigung ihrer auf anderen Wegen gewonnenen Einsichten, und in diesem Kontext etwa der Instrumentenbau als eine Art nachgeordnete Bastlertätigkeit ohne jedwede philosophische oder epistemologische Relevanz.  [2] Dem hielt der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking bereits 1983 seine berühmt gewordene Maxime »Experimentation has a life of its own«  [3] entgegen, die zu einer angemesseneren Würdigung der faktischen Bedeutung und Eigendynamik von Experimentalprozessen in der Wissenschaftspraxis anhalten sollte.

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Dieser Ansatz, der unter den Schlagwörtern »new experimentalism« und »procedural turn« firmiert,  [4] zeichnet sich durch eine stärkere Betonung der prozeduralen, handlungsbezogenen Aspekte des Experimentierens aus. An die Stelle einer Rede von der Theoriebeladenheit der Praxis ist die These einer Praxisbeladenheit der Theorie getreten.  [5] Im Zuge dieser »›praktische[n] Wende‹«  [6] wird der epistemologische Status des Experiments reflektiert, vor allem hinsichtlich der Frage, wie in einem Experiment Daten und Fakten produziert werden. Das Experiment(ieren) wird als ein vielschichtiger, offener Prozess begriffen, der Phänomene im Labor präpariert und erst eigentlich generiert; indem es Daten erhebe, so Hacking, erzeuge das Experiment allererst jene Realitäten, auf welche die Diskurse, die sich seiner bedienen, referierten: »To experiment is to create, produce, refine, and stabilize phenomena.«  [7]

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Demgemäß gilt es, das Augenmerk verstärkt auf die experimentelle und apparative Seite des Forschungsprozesses zu richten und sich damit den materiellen Bedingungen der Wissensproduktion zuzuwenden.  [8] Zu diesen zählen auch weitgreifende kulturelle Kompetenzen wie das für die Instrumentenherstellung benötigte handwerkliche Können oder die Buchhaltungstechniken bei der Verwaltung einer Naturaliensammlung. Tatsächlich sind diese ›skills‹ und Praktiken der Aufmerksamkeit nur in Ansätzen erforscht, und da sie in der Regel zu tief internalisiert sind, um überhaupt einen Kommentar zu zeitigen, können Fragen nach ihnen nur tentativ beantwortet werden. Zu diesem Zweck betreibt die Wissenschaftssoziologie seit Ende der 1970er Jahre intensiv so genannte mikrosoziologische Laborstudien, in denen mit Notizblock, Kamera und Aufnahmegerät ausgerüstete Beobachter über Monate hinweg ethnologisch die Alltagsarbeit in Forschungslaboratorien zum Beispiel der Molekularbiologie oder Hochenergiephysik aufzeichnen.  [9]

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Mit dem wissenschaftlichen Labor widmen sich diese Studien nicht nur dem physischen Ort, an dem Experimente durchgeführt werden. Laboratorien können im Weiteren mit der Idee einer »Rekonfiguration natürlicher und sozialer Ordnungen und ihrer Relation zueinander«  [10] verbunden werden, aus der epistemischer Gewinn gezogen werden kann. Dieser Gewinn resultiert aus einer Modellierbarkeit der Untersuchungsobjekte, ihres Zeichens in der Regel Naturobjekte – oder, wie in unserem Zusammenhang versuchsweise zu denken wäre, kulturelle Artefakte. Laboratorien haben ihr Fundament in der Vorstellung, dass Objekte keine unveränderbaren Entitäten darstellen, die so, wie sie sind, untersucht werden oder sich selbst überlassen bleiben müssen. De facto wird in Laboratorien nur sehr selten mit naturbelassenen Objekten experimentiert; man arbeitet vielmehr »mit Objektzeichen, mit ihren physiologischen, chemischen, elektrischen u. a. Komponenten, mit ihren Extrakten und ›gereinigten‹ Versionen«.  [11] Karin Knorr Cetina unterscheidet mindestens drei Aspekte von Naturobjekten, mit denen sich eine Laborwissenschaft nicht abfinden muss: »Erstens muss sie die Objekte nicht so nehmen, wie sie sind, sondern kann für diese eine Vielzahl partieller und transformierter Versionen substituieren. Zweitens muss eine Laborwissenschaft einem Naturobjekt nicht dort entgegentreten, wo es ist – verankert in seiner natürlichen Umwelt. Laborwissenschaften transferieren Objekte ›ins Haus‹ und manipulieren sie unter ihren eigenen Bedingungen im Labor. Drittens muss eine Laborwissenschaft sich mit einem Ereignis nicht dann beschäftigen, wann es passiert. Sie kann sich über natürliche Zyklen des Auftretens hinwegsetzen und Ereignisse in ausreichender Häufigkeit für kontinuierliche Untersuchungen hervorbringen.«  [12]

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Zur Veranschaulichung ihrer Überlegungen führt Knorr Cetina die Astronomie an.  [13] In herkömmlichen Definitionen firmiert diese als eine klassische »Feld«-Wissenschaft, der es nicht möglich sei, ihre planetaren und interstellaren Untersuchungsobjekte aus ihrer ursprünglichen Umwelt zu lösen. In der Tat hat sich die Astronomie lange Zeit auf die Beobachtung des Nachthimmels, seit Galilei mit dem Teleskop, beschränkt. Seit mehr als einhundert Jahren allerdings bedient sie sich zusätzlich eines Aufzeichnungsinstruments, der photographischen Platte, mit deren Hilfe sie Photonen registriert und analysiert. Die Astronomie wurde damit »von einer Wissenschaft, die Naturphänomene beobachtet, zu einer Wissenschaft, die Bildaufzeichnungen dieser Phänomene verarbeitet«.  [14] Durch diesen Transformationsprozess wurden diverse Rekonfigurationen des Phänomenbereichs der Astronomie erzielt: Zum einen werden durch die Bildtechnologie die Untersuchungsobjekte aus ihrer ›natürlichen‹ Umgebung herausgelöst und im Handlungskontext des Labors kontinuierlich präsent gehalten. Zum anderen erscheinen die interessierenden Prozesse aufgrund des Übergangs zu einer Zeichen- und Bildtechnologie miniaturisiert und dadurch handhabbar. Und schließlich treten an die Stelle planetarer und stellarer Zeitabläufe die Zeitskalen sozialer Ordnungen. Astronomen weltweit können die entsprechenden Signale simultan und kontinuierlich analysieren und diskutieren.

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Die am Beispiel der Astronomie gewonnenen Einsichten gelten auch für das Labor im Allgemeinen, in dem Untersuchungsobjekte inszeniert werden, indem sie räumlichen und zeitlichen Regimes unterworfen werden. Im Labor werden von der Größe solcher Objekte über ihre interne Konstitution bis hin zu ihren natürlichen Rhythmen im Prinzip alle Eigenschaften neu verhandelt und neu definiert: »Laboratorien generieren also neue Objektkonfigurationen, die sie mit entsprechend veränderten sozialen Ordnungen in Einklang bringen.«  [15]

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Selbiges gilt, so die These, analog auch für historiographische Modellierungen der Kunstwissenschaft, verstanden als Versuchsanordnungen oder Experimente im weitesten Sinne. Im Folgenden soll mit Aby Warburg (lediglich) ein Kunst- und Kulturwissenschaftler berührt werden, der die von ihm begründete Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (K.B.W.) bezeichnenderweise wiederholt als ein »Laboratorium« charakterisiert hat  [16] und insofern als repräsentativ für unseren Kontext betrachtet werden kann. Wie ein Labor hat sich die K.B.W. der Idee einer »Rekonfiguration natürlicher und sozialer Ordnungen und ihrer Relation zueinander« verschrieben und macht Warburgs Bildwissenschaft als eine Laborwissenschaft begreifbar. Auch Warburgs Bildwissenschaft transferierte Objekte ›ins Haus‹, wo sie neuen räumlichen und zeitlichen Parametern unterworfen wurden. Sie isolierte diese Objekte, miniaturisierte sie und machte sie dadurch handhabbar, was einen ständigen wissenschaftlichen Austausch ermöglichte. Auch Warburg arbeitete nicht mit ›naturbelassenen‹ Objekten, sondern mit »Objektzeichen« – in seinem Fall hauptsächlich Pathosformeln. »Extrakte« und »›gereinigte‹ Versionen« der zu untersuchenden Bilder wurden mit Hilfe von Reproduktionen gewonnen, die wesentliche Details freizupräparieren oder mitunter störende Farbwerte zu tilgen halfen. Warburgs Laborwissenschaft kulminierte schließlich in seinem Bilderatlas, der die Untersuchungsgegenstände durch eine vielfache mediale Brechung modellierte und zurichtete: Die bereits in Leinwand, Teppich oder Sarkophag eingeschriebenen Pathosformeln materialisierten sich in photographischen Reproduktionen auf Schautafeln, die sich ihrerseits wiederum in photographischen Reproduktionen objektivierten, die sich erneut in Vorträgen oder in Publikationen zu vergegenständlichen hatten. Warburgs Forschungen zum »Schlangenritual« können in dieser Hinsicht als beispielhaft verstanden werden, vollzieht sich hier doch mit Hilfe der Photographie mustergültig die Transformation »einer beobachtenden Feldwissenschaft in eine bildprozessierende Laborwissenschaft«.  [17]

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Vor diesem Hintergrund lässt sich Warburgs »Laboratorium« K.B.W. einschließlich seiner Instrumente, Notationsgesten, Archivierungstechniken, Displays oder Benutzerströme mit Hans-Jörg Rheinberger als ein »Experimentalsystem«  [18] beschreiben. Als »die kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung«  [19] umfassen Experimentalsysteme in einer ständig variierenden und fluktuierenden Weise »das, was Historiker und Philosophen der Wissenschaft oft gerne säuberlich getrennt haben möchten im Rahmen einer Reinheitsvorstellung, die im Prozess des Machens von Wissenschaft keine Entsprechung hat«  [20] : nämlich das Forschungsobjekt genauso wie die Theorie, die Experimentalanordnung oder das Instrument samt seiner Handhabung.  [21] So eingerichtet, »daß sie noch unbekannte Antworten auf Fragen geben, die der Experimentator […] noch gar nicht klar zu stellen in der Lage ist«  [22] , sind Experimentalsysteme treibende Momente der Entwicklung der modernen Laborwissenschaften. Keineswegs seien sie, so Rheinberger, »Anordnungen zur Überprüfung und bestenfalls zur Erteilung von Antworten, sondern insbesondere zur Materialisierung von Fragen«.  [23] Fragt man nach der Rolle des forschenden Subjekts in dieser Anordnung, muss konzediert werden, dass dieses durch ein Experimentalsystem zwar nicht dominiert wird, letzteres aber eine epistemologisch maßgebliche Rolle spielt, denn: »Je mehr er [der praktisch arbeitende Wissenschaftler, T. H.] lernt, mit seiner Experimentalanordnung umzugehen, desto stärker spielt sie ihre eigenen inhärenten Möglichkeiten aus. In einem gewissen Sinn macht sie sich von den Wünschen des Forschers unabhängig, gerade weil dieser sie mit all der ihm zur Verfügung stehenden Kunstfertigkeit entworfen und eingerichtet hat.«  [24] Die Konstellation von Experimentator und Experimentalsystem pointiert Rheinberger mit einer Formulierung Jacques Lacans: »Das Subjekt ist, wenn man so sagen kann, in innerem Ausschluß seinem Objekt eingeschlossen.«  [25]

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Für die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte dürfte es sich mithin als fruchtbar erweisen, die Kunstgeschichte oder -wissenschaft als ein Experimentalsystem verstehen zu lernen.  [26] Die Beantwortung der Fragen nach dem Status jeglicher experimenteller Praktiken sowie ihrer theoretischen Konsequenzen ist auf eine Rekonstruierbarkeit der je spezifischen, meist sehr komplexen experimentellen Tätigkeiten angewiesen. Im Zuge dieser Rekonstruktionsarbeit haben Wissenschaftshistoriker und ‑theoretiker in jüngster Zeit begonnen, sich Labortagebüchern und anderen Dokumenten der Forschung zu widmen und deren produktive Funktion für die Erzeugung von Wissen zu erkennen.  [27] Im Unterschied zu den relativ standardisierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die vor-normative Spuren eliminieren, werden hier wissenschaftliche Zusammenhänge allererst ausgebildet, komponiert und strukturiert, wird hier also »Forschung als solche, d. h. als Wissenschaft im Werden«  [28] , sichtbar.

<10>

Wie der Wissenschaftshistoriker und Pionier der Genforschung François Jacob bemerkt hat, beschreiben Wissenschaftler, wenn sie an die Öffentlichkeit treten, »ihre eigene Aktivität als wohlgeordnete Folge von Begriffen und Experimenten, die in einer strengen logischen Ordnung miteinander verknüpft sind. In wissenschaftlichen Artikeln schreitet die Vernunft auf einem Königsweg von der Finsternis zum Licht. Nicht der geringste Irrtum. Nicht das kleinste falsche Urteil. Keine Verworrenheit. Nichts als eine perfekte, bruchlose Beweisführung.«  [29] Forschungsnotizen hingegen seien Residuen der »Nachtwissenschaft«, die Kehrseite der wohlgeordneten »Tagwissenschaft«: »Die Nachtwissenschaft dagegen ist blindes Irren. Sie zögert, stolpert, weicht zurück, gerät ins Schwitzen, schreckt auf. An allem zweifelnd, sucht sie sich, hinterfragt sich, setzt immer wieder neu an. Sie ist eine Art Werkstatt des Möglichen, in der das künftige Material der Wissenschaft ausgearbeitet wird. Hier bleiben die Hypothesen vage Ahnungen, undeutliche Empfindungen. Hier sind die Phänomene noch Einzelerscheinungen ohne Zusammenhang, sind die Pläne für Versuchsreihen noch nicht ausgereift. Hier arbeitet sich das Denken über verschlungene Wege vor, über verwinkelte Gäßchen, die sich meist als Sackgassen erweisen.«  [30]

<11>

Jacobs überkommener Lichtmetaphorik huldigende Einschätzung ist ohne Abstriche auf die Geisteswissenschaft übertragbar und liest sich wie eine Charakterisierung der Suchbewegungen Warburgs. Dessen Produktion von Vor-Normativem aus unzähligen »Einzelerscheinungen ohne Zusammenhang« war immens. Charlotte Schoell-Glass schätzt das quantitative Verhältnis von publiziertem Werk und unpubliziertem Material folgendermaßen ein: Jeder publizierten Druckseite stünden in Warburgs Nachlass zum Zeitpunkt seines Todes etwa 100 Manuskriptseiten, 100 Bücher in seiner Bibliothek, mindestens ebenso viele Briefe und mindestens 200 Zettel in etwa 100 Zettelkästen gegenüber.  [31]

<12>

Unscheinbar, wie Warburgs Operationen der Verzettelung auf den ersten Blick im Alltag begegnen, haben sie doch die flüchtigen Medien des Zettels, der Kladden und Kästen in einen Speicher, mehr noch: in einen Generator von Wissen verwandelt, der das Fundament einer der einflussreichsten geisteswissenschaftlichen Theorien werden sollte. Warburgs Zettelkästen, vielfältige Forschungsspuren in Form von Exzerpten, Notizen, Skizzen, Ideenfragmenten, Eintrittskarten oder Zeitungsausschnitten bergend, waren als ›Zwischenspeicher‹ keineswegs das passive, inerte Hilfsgerüst eines rein geistigen Wissensbildungsprozesses. Gerade in ihrer vorläufigen Form fungierten sie als ein integraler Bestandteil eines umfassenderen Forschungsprozesses, zumal eines Prozesses, dessen Ziel eben die Erhaltung seiner Dynamik und der seines bewegten, wandernden Untersuchungsgegenstandes war.  [32]

<13>

Vor diesem Horizont operierte auch Warburgs berühmtestes Medium: der Bilderatlas. Die unablässig von Warburg ergänzten Tafeln des Atlas überführten das noch ungebundene Erklärungspotenzial der Zettelkästen in eine Kombinatorik, die ebenfalls durch keine harten Kompatibilitätsgrenzen eingeschränkt war. Gestelle, die ein unaufhörliches Schieben der Tafeln durch den Raum ermöglichten, halfen Warburg, unzählige Neu- und Umdispositionen des Bildmaterials vornehmen zu können. Diese erkundenden Bewegungen in einem offenen Arrangement, ein Spiel mit möglichen Stellungen, erlaubte die allmähliche Verfestigung des Materials zu geklärteren Dispositionen. Gerade die generative Dimension von Warburgs Bilderarrangement wäre eliminiert, wenn man dessen aktuales Moment ausblenden würde. Warburgs Historiographie ist weniger vorgängige Theorie, sondern der Effekt eines Kartographisierungsaktes, dessen Medium der Atlas war; und selbigem war eine ihm eigene Produktivität zu eigen, indem er Bilderwanderungen nicht nur repräsentierte, sondern generierte. So entstanden durch das stete Umarrangieren Verbindungen auf den Atlastafeln, die aus historischen Quellen nicht mehr geschöpft werden konnten und die vermeintliche Evidenz der Migrationsbewegungen immer wieder neu hervorbrachten. Der Atlas führte über kontingente Festlegungen hinaus, unterbreitete Alternativen, bedeutete strukturelle Notwendigkeiten und Möglichkeiten; bereits durch bloße Kombinatorik konnten Bewegungsabläufe und Wanderstraßen entworfen werden, die keinem bekannten Muster entsprachen. Aus der Anwendung dieser Möglichkeiten ließen sich neue Konfigurationen herstellen, die Interpretationen über die neu angeordneten Objekte implizierten. Das Umformen konnte dabei bloß versuchsweise erfolgen, so dass das Produkt in überraschender Weise vor dem Auge des Betrachters erschien. In diesem Sehen-als, das einmal mehr, einmal weniger den Intentionen des operierenden Nutzers folgte, aber sich auch ohne oder gar gegen dessen Eingebungen einstellen konnte, lag ein weiteres epistemisch produktives Moment des Atlas. Und Warburg beschreibt sehr anschaulich, wie die syntaktisch kaum beschränkte Freiheit der Umstellung es ermöglichte, in einfacher Weise Konfigurationen zu erzeugen, die von sich aus semantisch gleichsam ›einrasteten‹, wo sie eine Lücke in der Überlieferung historischer Bildformeln zu füllen vermochten.  [33] Es ist, so formuliert Rheinberger mit Blick auf naturwissenschaftliche Praxis – übertragbar auch und gerade auf kunstwissenschaftliche Theoriebildung –, genau »die Anordnung dieser graphematischen Spuren oder Grapheme und die Möglichkeit ihres Herumschiebens im Repräsentationsraum, die das experimentelle Schreibspiel zusammensetzen. Diese Einheiten sind es, aus denen der Experimentator sein ›Modell‹ zusammensetzt.«  [34]

<14>

Dabei kann, um einen letzten Ausblick zu geben, die vorgeschlagene epistemologische Schärfung der Kunstwissenschaft von der medienwissenschaftlichen Einsicht profitieren, dass jene Grapheme oder Graphien als ›starke‹ Medien verstanden werden können – nicht also auf eine lediglich instrumentelle Dimension im Rahmen einer Mittel-Zweck-Relation verweisen und keinesfalls gegenüber dem zu Übertragenden bloß neutral, sinnindifferent und passive Werkzeuge oder Vehikel sind. Medien, so die Grundannahme, zeichnen sich durch eine eigene, eigensinnige und eigendynamische Dimension aus, durch die sie das zu Übertragende nicht nur transportieren, sondern auch konfigurieren und partiell konstituieren: »Nicht Leistungssteigerung [wie durch Werkzeuge, T. H.], sondern Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologien.«  [35] Hiervon ausgehend lassen sich tragfähige Brücken zwischen Kunstwissenschaft, Wissenschaftstheorie und Medienwissenschaft schlagen.

 



[1] Siehe Bruno Latour u. Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, 2. Aufl., Princeton 1986; Bruno Latour: Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge (Mass.) 1987.

[2] Eine Skizze jener theoriefokussierten Modelle der Wissenschaftsentwicklung und der Gründe für das Abgehen von ihnen gibt Timothy Lenoir: Practice, Reason, Context: The Dialogue between Theory and Experiment, in: Science in Context 2, 1988 (»Practice, Context, and the Dialogue between Theory and Experiment«, hg. v. Yehuda Elkana u. Timothy Lenoir), S. 3-22. Siehe auch Peter Galison: History, Philosophy, and the Central Metaphor, in: Science in Context 2, 1988, S. 197-212, hier S. 207 f.; und die übrigen Aufsätze in Science in Context 2, 1988; sowie den Überblick von Klaus Hentschel: Historiographische Anmerkungen zum Verhältnis von Experiment, Instrumentation und Theorie, in: Instrument – Experiment. Historische Studien, hg. v. Christoph Meinel, Berlin/Diepholz 2000, S. 13-51.

[3] Ian Hacking: Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science, Cambridge/New York/Oakleigh 1983, S. 150 sowie S. xiii, wo die Maxime ergänzt wird: »interacting with speculation, calculation, model building, invention and technology in numerous ways«.

[4] Siehe Robert Ackermann: The New Experimentalism, in: The British Journal for the Philosophy of Science 40, 1989, S. 185-190; und David Gooding: The Procedural Turn; or, Why Do Thought Experiments Work?, in: Cognitive Models of Science, hg. v. Ronald N. Giere, Minneapolis (Minn.) 1992, S. 45-76.

[5] Zur »practice-ladenness of theory« siehe David Gooding: Experiment and the Making of Meaning. Human Agency in Scientific Observation and Experiment, Dordrecht/Boston/London 1990, S. 13. – Zu Recht weist Hentschel darauf hin, dass jedes Modell eines Wechselspiels von ›Theorie‹ und ›Praxis‹ an Parametern wie Labortraditionen oder dem sozialen Kontext der Forschergemeinschaft entlang ausdifferenziert werden muss. Siehe Hentschel 2000 (wie Anm. 2), S. 21-24.

[6] Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner: Experimentalsysteme, in: Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, hg. v. dens., Berlin 1993, S. 7-27, hier S. 7.

[7] Hacking 1983 (wie Anm. 3), S. 230.

[8] Mittlerweile bereits als klassisch geltende Untersuchungen, die sich zum einen der Proteinbiosynthese, zum anderen dem genetischen Code widmen, sind Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, 2. Aufl., Göttingen 2002; und Lily E. Kay: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt/Main 2005 (engl. Originalausgabe 2000).

[9] Siehe beispielsweise Latour/Woolgar 1986 (wie Anm. 1); Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996 (frz. Originalausgabe 1993), S. 191-248; sowie Karin Knorr Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, 2., erweiterte Aufl., Frankfurt/Main 2002. – Als ein jüngeres Konzept versucht die Akteur-Netzwerk-Theorie, Wissenschaftsentwicklung als Resultat der Verknüpfung heterogener Komponenten zu Netzwerken zu erklären, wobei technische, soziale und natürliche Faktoren gleichermaßen als abhängige Variablen behandelt werden. Siehe grundlegend die Anthologie von Andrea Belliger u. David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006; sowie prägnant und kritisch Ingo Schulz-Schaeffer: Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik, in: Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, hg. v. Johannes Weyer, München 2000, S. 187-209. Eine Übertragung auf die Kunstwissenschaft versucht Thomas Hensel: Von Graphit, Graphemen und Gestellen. Aby Warburg und die Aktanten der Kunstwissenschaft, in: Akteur-Medien-Theorie, hg. v. Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz u. Peter Gendolla, Bielefeld 2009 (im Druck).

[10] Karin Knorr Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen (1999), Frankfurt/Main 2002, S. 45.

[11] Knorr Cetina 2002 (wie Anm. 10), S. 45 f.

[12] Knorr Cetina 2002 (wie Anm. 10), S. 46.

[13] Siehe Knorr Cetina 2002 (wie Anm. 10), S. 46 f.

[14] Knorr Cetina 2002 (wie Anm. 10), S. 46.

[15] Knorr Cetina 2002 (wie Anm. 10), S. 65.

[16] Aby Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, hg. v. Karen Michels u. Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg. v. Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Forster, Nicholas Mann, Salvatore Settis u. Martin Warnke, Siebte Abteilung, Bd. VII), S. 111 (Eintrag vom 1. Juli 1927); und ders., S. 540 (Eintrag vom 1. Oktober 1929). An anderer Stelle spricht Warburg von einem »Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte«. Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920), in: ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont edierten Ausgabe von 1932, neu hg. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers, Berlin 1998, (Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg. v. Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Forster, Nicholas Mann, Salvatore Settis u. Martin Warnke, Erste Abteilung, Bd. I.2), S. 487-558 und 647-656, hier S. 535. Siehe auch Tilmann von Stockhausen: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg 1992, S. 109. Warburg könnte während seiner Studienzeit in Straßburg die positivistischen Auffassungen des dort lehrenden Historikers Julius Weizsäcker kennengelernt haben, der die Ziele und Methoden seines Seminars ebenfalls mit denen eines wissenschaftlichen Laboratoriums verglich. Siehe Bernd Roeck: Der junge Aby Warburg, München 1997, S. 67. – Philipp Felsch weist darauf hin, dass das Laboratorium um 1900 als eine Schnittstelle von künstlicher Intensivierung und prozessualer Offenheit weithin zu einer einflussreichen Projektionsfläche für Vorstellungen der Moderne geworden ist. Siehe Philipp Felsch: Das Laboratorium, in: Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Alexa Geisthövel u. Habbo Knoch, Frankfurt/Main 2005, S. 27-36, insbesondere S. 30 f.

[17] Knorr Cetina 2002 (wie Anm. 10), S. 47. Zum so genannten »Schlangenritual« siehe Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin 1992; Benedetta Cestelli Guidi u. Nicholas Mann (Hg.): Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika 1895-1896, Hamburg/München 1999 (engl. Originalausgabe 1998); sowie Thomas Hensel: Kupferschlangen, unendliche Wellen und telegraphierte Bilder. Aby Warburg und das technische Bild, in: Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu’ti’kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, hg. v. Cora Bender, Thomas Hensel u. Erhard Schüttpelz, Berlin 2007 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 16), S. 297-360.

[18] Siehe Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992, bes. S. 24 f.; Rheinberger/Hagner 1993 (wie Anm. 6); sowie Rheinberger 2002 (wie Anm. 8), bes. S. 18-34. Zur Fortführung und Modifikation dieses Konzepts siehe etwa Klaus Hentschel: Feinstruktur und Dynamik von Experimentalsystemen, in: Experimental Essays – Versuche zum Experiment, hg. v. Michael Heidelberger u. Friedrich Steinle, Baden-Baden 1998 (ZiF. Interdisziplinäre Studien, Bd. 3), S. 325-354.

[19] Rheinberger 2002 (wie Anm. 8), S. 22.

[20] Rheinberger/Hagner 1993 (wie Anm. 6), S. 9.

[21] Die jüngste Akzentuierung der Materialität der Forschung äußert sich hauptsächlich in Untersuchungen zum wissenschaftlichen Instrument(gebrauch). Siehe Albert van Helden u. Thomas L. Hankins (Hg.): Osiris. A Research Journal devoted to the History of Science and its Cultural Influence 9, 1994 (»Instruments«); Thomas L. Hankins u. Robert J. Silverman (Hg.): Instruments and the Imagination, Princeton 1995; Christoph Meinel (Hg.): Instrument – Experiment. Historische Studien, Berlin/Diepholz 2000; Davis Baird: Thing Knowledge. A Philosophy of Scientific Instruments, Berkeley/Los Angeles/London 2004; sowie Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig (Hg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2006 (Theatrum Scientiarum, Bd. 2).

[22] Rheinberger 2002 (wie Anm. 8), S. 22.

[23] Rheinberger 2002 (wie Anm. 8), S. 22.

[24] Rheinberger 2002 (wie Anm. 8), S. 18.

[25] Zitiert nach Rheinberger 2002 (wie Anm. 8), S. 18.

[26] Zur Nähe von Kunstwissenschaft und Wissenschaftstheorie siehe auch Thomas Hensel: Das Bild im Spannrahmen, in: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen 20, Herbst 2008 (»Visualisierung oder Vision? Bilder (in) der Wissenschaft«), S. 36-39.

[27] Siehe etwa Frederic L. Holmes, Jürgen Renn u. Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science, Dordrecht/Boston/London 2003 (Archimedes. New Studies in the History and Philosophy of Science and Technology, Bd. 7); und Hans-Jörg Rheinberger: Zettelwirtschaft, in: ders.: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt/Main 2006, S. 350-361. Zu kulturhistorischen Aspekten siehe Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin 2002 (Copyrights, Bd. 4); Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt/Main 2006; Christoph Hoffmann (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008 (Wissen im Entwurf, Bd. 1); oder Werner Faulstich (Hg.): Das Alltagsmedium Blatt, München 2008.

[28] Rheinberger 2006 (wie Anm. 27), S. 353, bezogen auf Labortagebücher in naturwissenschaftlichen Kontexten. Allerdings unterliegen auch die Notations- und Verzettelungstechniken diversen Standardisierungen, etwa durch das Format oder das Lineament der verwendeten Notizblätter.

[29] François Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Mit einem Nachwort von Hans-Jörg Rheinberger, Berlin 1998, S. 163 f.

[30] Jacob 1998 (wie Anm. 29), S. 164.

[31] Siehe Charlotte Schoell-Glass: »Contakt bekommen«: Warburg schreibt, in: Bender/Hensel/Schüttpelz 2007 (wie Anm. 17), S. 283-296, hier S. 283.

[32] Siehe unter Rekurs auch auf die wichtigsten bildgebenden Verfahren um 1900 – Photographie, Bildtelegraphie, Kinematographie und Röntgenographie – und deren Warburgs Methodik formierende Potenz Thomas Hensel: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2009 (im Druck).

[33] Siehe beispielsweise Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (wie Anm. 16), S. 399 (Eintrag vom 28. Januar 1929).

[34] Rheinberger 1992 (wie Anm. 18), S. 30.

[35] Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat, in: Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, hg. v. ders., Frankfurt/Main 1998, S. 73-94, hier S. 85.

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Empfohlene Zitierweise

Hensel T.: Kunstwissenschaft als Experimentalsystem. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-19 (urn:nbn:de:0009-23-18066).  

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