I.

<1>

Gut ein Jahrzehnt ist es her, dass der Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin eine existentielle Krise attestiert wurde: Unter dem Druck der mit Macht etablierten und institutionalisierten Visual Culture Studies griff Hal Foster 1996 zu einer besonders alarmierenden Metaphorik: »One thing is certain: […] art history departments […] are in flames, and the inferno is not only epistemological.«  [1] Hans Belting hatte ein Jahr zuvor seine 1983 geäußerte Frage nach einem »Ende der Kunstgeschichte« ausdrücklich bejaht und festgestellt, dass der »Rahmen«, der die Einheit und den Zusammenhang der Disziplin bislang gesichert habe, zerbrochen sei.  [2] Die großen Erzählungen, die dem Fach zugrunde gelegen hätten, etwa das Konzept der Kunstautonomie oder das stilgeschichtliche Paradigma, seien sowohl durch die ›globalisierte‹ Gegenwartskunst als auch durch die jüngere Entwicklung des Fachdiskurses nachhaltig in Frage gestellt worden. Mag das Fach Kunstgeschichte vor dem Hintergrund dieser Diagnosen beinahe als intellektueller Bankrotteur erscheinen, so dass sich die Frage stellt, was aus der Konkursmasse zu retten ist, so hatte indes W. J. T. Mitchell, einer der Vordenker der Visual Studies und ihrer akademischen Institutionalisierung, kurz zuvor die Möglichkeit erwogen, dass »sich die theoretische Marginalität der Kunstgeschichte durchaus in eine intellektuell zentrale Position wandeln« könne, da man von ihr Antworten auf den pictorial turn, die neue, herausfordernde Bedeutung der visuellen Kultur, erwarte.  [3]

<2>

Schon die wenigen hier zitierten Stimmen lassen keinen Zweifel daran: Die Debatte um das Verhältnis von Kunstgeschichte, ›Bildwissenschaften‹  [4] und Visual Studies impliziert unvermeidlich auch Erzählungen von der Geschichte der Disziplin Kunstgeschichte. Wie immer das Verhältnis der aktuellen ›bildwissenschaftlichen‹ Studien zur Kunstgeschichte bestimmt wird – als Fortführung einer implizit bereits in der Kunstgeschichte angelegten Forschungsarbeit, als Ablösung eines überholten Paradigmas oder schlicht als Konkurrenz –, in jedem Fall liegt solchen Bestimmungen ein Bild von der Geschichte des Fachs Kunstgeschichte zugrunde. Drei Erzählmuster bestimmen derzeit die impliziten, oftmals aber auch expliziten Bezüge auf die Geschichte des Fachs:

<3>

1) Um die neue Konzentration auf die Frage nach der Bedeutung und ›Macht‹ der Bilder markant von der bisherigen kunsthistorischen Forschung abzusetzen, wird die Geschichte der Disziplin kritisch als Verkettung problematischer Prämissen, verengender Schwerpunktsetzungen und einseitig orientierter Methoden rekonstruiert. Hans Belting unterzog in diesem Sinne zentrale Konzeptionen der Kunstgeschichte seit Vasari einer grundsätzlichen Kritik;  [5] und Georges Didi-Huberman analysierte in seinem Buch Devant l’image – weitaus differenzierter als Belting – die systematischen Blickverengungen bei Vasari, Winckelmann und vor allem Panofsky, die das Nachdenken über Bilder, Kunst und Kunstgeschichte lange bestimmt haben.  [6] Die Entwicklung des kunsthistorischen Diskurses sowie des aus ihm erwachsenen Fachs erscheint aus dieser Perspektive vor allem als verhängnisvolle Geschichte eines fehlgeleiteten Blicks auf Bilder.

<4>

2) Teils in Abgrenzung zu diesen kritischen Rekonstruktionen der Fachgeschichte, teils aber auch in Anknüpfung an sie vollzieht sich die Arbeit an der Wiedergewinnung von historischen Positionen, die sich im disziplinären Diskurs der Kunstgeschichte nicht hatten durchsetzen können oder nach verheißungsvollen Anfängen in Vergessenheit geraten sind. Ihre eindrucksvollste Manifestation hat diese Sichtung von marginalisierten Alternativen in der Renaissance von Aby Warburgs Kunst- und Kulturgeschichte gefunden.  [7] Sowohl Warburgs Interesse an Bildern jenseits der Kunst als auch seine konzeptionellen Leitideen – etwa der Begriff des »Nachlebens« der Bilder – scheinen einen Weg zu heutigen ›bildwissenschaftlichen‹ Fragen zu weisen und zugleich die aktuellen Bemühungen in der Tradition einer anderen Kunstgeschichte zu verankern. Einen ähnlich perspektivierten Rückblick auf die Geschichte der Kunstgeschichte hat Horst Bredekamp unternommen, als er bereits in der Frühzeit der Disziplin Vorläufer ›bildwissenschaftlicher‹ Forschungen auszumachen versuchte, um auf eine »neglected tradition« aufmerksam zu machen.  [8]

<5>

3) Auch wer das Fach gegenüber der Infragestellung durch Visual Studies oder ›Bildwissenschaften‹ stärken will, greift implizit auf Erzählmuster zur Fachgeschichte zurück: Jenen Verteidigern des Fachs, die die Hinwendung zur visual culture und zum Bild kritisch sehen, erscheint die Entwicklung der Disziplin weitgehend als eine Fortschrittsgeschichte, die sich durch aufeinander folgende Paradigmen auszeichnet und dabei zu einem adäquaten wissenschaftlichen Umgang mit Kunstwerken gefunden hat. Viele der kritischen Stimmen, die sich 1996 in der Zeitschrift October gegen die Herausforderung durch die Visual Studies wandten, rekurrierten ganz in diesem Sinne nicht nur auf intellektuelle Errungenschaften der jüngeren Kunstgeschichte (New Art History), sondern auch sehr allgemein auf fachspezifische Qualifikationen und Kompetenzen, auf »skills«  [9] , die sich der geschichtlich gewachsenen akademischen Disziplin verdanken.

<6>

Die wissenschaftshistorische Forschung zur Geschichte der Kunstgeschichte hat von der skizzierten Entwicklung, mithin vom verstärkten Einsatz historischer Rückbezüge für aktuelle Interessen zweifelsohne profitiert. Sie ist aus ihrer marginalen Stellung am Rande der kunsthistorischen Forschung gerückt und hat zahlreiche Anregungen zur Revision unseres Blicks auf das Fach erhalten. Doch sieht sich die fachhistorische Forschung damit zugleich verschärft einem grundlegenden Problem gegenüber: Der Zugewinn an Relevanz ist nicht unerheblich mit einer erhöhten Gefahr der ›politischen‹ Instrumentalisierung erkauft, dient doch die Fachgeschichte vielfach als Legitimationsinstanz, um eine Fundamentalkritik oder Verteidigung der Disziplin zu begründen. Es wäre naiv, diese enge Kopplung von wissenschaftshistorischem Rückblick und aktuellen Debatten um die Weiterentwicklung des Faches gänzlich lösen zu wollen und eine vermeintliche Unabhängigkeit der Fachgeschichte gegenüber den gegenwärtigen Diskussionen einzufordern. Dennoch sollte die Fachgeschichte der Kunstgeschichte Wege suchen, ihre eigene Agenda, Fragen und Erzählmuster zu entwickeln und zu behaupten, ohne sich deswegen der Einmischung in aktuelle Debatten gänzlich zu enthalten.

II.

<7>

Sieht man in den gegenwärtig diskutierten Grundfragen nach der Spezifik des Bildes, seinen Voraussetzungen, seiner ihm eigenen ›Logik‹, seinen Leistungen und Grenzen tragfähige Ausgangspunkte für die zukünftige Forschung, so gibt es tatsächlich gute Gründe, die Geschichte der Kunstgeschichte auf Versäumnisse, Blindstellen und problematische Verengungen hin zu befragen. Zwar war die Kunstgeschichte immer mit Bildern befasst, so dass sie hochgradig differenzierte Formen ihrer Analyse entwickeln konnte. Dennoch stand das Fach von Beginn an unter Voraussetzungen, die sowohl der Vielfalt bildlicher Erscheinungsformen als auch bestimmten fundamentalen Eigenschaften des Bildes kaum gerecht werden konnten.  [10] Als »historische Theorie der Kunst« war die junge Disziplin, wie zuletzt Hubert Locher gezeigt hat,  [11] in ästhetische Fragen verstrickt, die den Gegenstandsbereich und die Perspektive des Fachs unvermeidlich einschränkten. Insbesondere die Vor- und Frühformen des Faches Kunstgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts sicherten die Einheit und Konsistenz des disziplinären Diskurses, indem das ›Ganze der Kunst‹ gewissermaßen morphologisch, d. h. analog zu naturgeschichtlichen Konzeptionen, beschrieben wurde.  [12] Diese ›Naturalisierung‹ des Kollektivsingulars Kunst hatte nicht nur zur Folge, dass das einzelne Bild – unabhängig von seiner Entstehungszeit – immer schon als Kunstwerk galt, vielmehr wurde es auch weitgehend von allen subjektiven Erfahrungsdimensionen entkoppelt. Phänomene, die heute im Zentrum ›bildwissenschaftlicher‹ Fragen stehen, wurden auf diese Weise systematisch ausgeblendet. Angesichts der Einordnung des Kunstwerks in eine Kunstgeschichte, die analog zur Naturgeschichte konzipiert wurde, konnten etwa konstitutive raum-zeitliche Komplikationen im Verhältnis zwischen Bild, Bildgenese und Bildrezeption nicht in den Blick kommen.  [13] Das als Kunstwerk verstandene Bild wurde gleichsam ›gebändigt‹, indem alles, was zu befremden oder verstören vermochte, historisch abgeleitet und in eine linear und homogen konzipierte Geschichte eingeordnet wurde. Nur auf diese Weise konnte die frühe Kunstgeschichte dazu beitragen, einen fragwürdig gewordenen Begriff von Kunst zu sichern. Die Etablierung eines historischen Kontinuums der Kunstgeschichte ermöglichte es, den Kollektivsingular Kunst zu stabilisieren. In ihrer weiteren Entwicklung ist die Disziplin zweifelsohne nicht gänzlich in dieser frühen Konzeption verhaftet geblieben und hat – insbesondere im 20. Jahrhundert – zeitweilig den Bezug auf einen starken Begriff von Kunst regelrecht verdrängt, dennoch sind in der Frühzeit des Faches Eingrenzungen des Gegenstandsbereichs und Perspektivierungen etabliert worden, die grundsätzlich wirkmächtig blieben.

<8>

Insbesondere mit Blick auf ihre Wurzeln erweist sich die Kunstgeschichte daher keineswegs problemlos als eine Bildwissenschaft avant la lettre, doch ist damit ihre Produktivität für die Annäherung an bildwissenschaftliche Probleme nicht zwingend in Frage gestellt. Konzentriert man sich nicht allein auf die Resultate der Kunstgeschichte, um das Fach daran zu messen, inwieweit es die Arbeit späterer Forschungen über das Bild begünstigt oder gar vorweggenommen hat, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Kunstgeschichte in ihrem praktischen Vollzug als höchst aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Bildern zu verstehen. Gerade auch dort, wo die Disziplin dem Bild in seiner Spezifik und in seinen zahlreichen Erscheinungsformen nicht gänzlich gerecht werden konnte, kann der Rückblick auf die Fachgeschichte der Kunstgeschichte heute wichtige Erkenntnisse über das Bild gewinnen. So sehr die Kunstgeschichte lange Zeit weite Bereiche der Bildproduktion ausgeblendet hat (freilich wohl nicht in dem Maße, in dem es ihr vielfach unterstellt wird), hat sich das Fach dennoch von Beginn an in ungewöhnlicher Breite und Detailliertheit einer Fülle historisch außerordentlich unterschiedlicher Werke zugewandt. Die Abkehr von der Orientierung am Meisterwerk zugunsten des Versuchs, das normative Kunstideal der älteren Kunsttheorie im historisch entfalteten Kollektivsingular Kunst aufzuheben, machte es geradezu notwendig, sich anhand möglichst vieler unterschiedlicher Bilder die unerschöpfliche Potentialität von Kunst vor Augen zu führen. Zugleich aber hielt die Disziplin – nicht zuletzt aufgrund ihrer Verhaftung in ästhetischen Prämissen – daran fest, dem einzelnen Bild als Kunstwerk eine besondere Dignität beizumessen, so dass im Zuge der Erschließung eines vielfältigen, umfangreichen und dichten historischen Materials immer auch die Einzigartigkeit des einzelnen Werkes akzentuiert wurde. Obwohl die Kunstgeschichte Bilder vornehmlich unter dem Leitbegriff der Kunst analysiert hat, hat sie auf diese Weise eine systematische Komplexität des Bildes erschlossen. Denn in ihrer eigenen Arbeit mit Bildern hat die kunsthistorische Forschung eine fundamentale Spannung zwischen allgemeinen Verfahren zur Produktion oder Rezeption von Bildern einerseits sowie der nicht substituierbaren Singularität jedes einzelnen Bildes andererseits nachvollzogen. Angesichts dieser Spannung zwischen allgemeinen Bestimmungen des Bildes und seiner jeweiligen Singularität scheint es plausibel, die Verschiedenheit seiner historischen Erscheinungsformen nicht nur als Resultat äußerer, sekundärer Einflüsse zu verstehen, sondern dieser Verschiedenheit eine systematische Relevanz zuzusprechen.

III.

<9>

So sehr der Fachdiskurs der Kunstgeschichte wesentliche Qualitäten des Bildes ausgeblendet haben mag, hat er doch – eher indirekt und implizit – zu Beobachtungen und Überlegungen angeregt, die in den aktuellen Debatten als Widerstand gegen voreilige allgemeine Bildtheorien und gegen zweifelhafte bildhistorische Erzählungen fungieren können.  [14] Während sich Teile des bildwissenschaftlichen Diskurses auf einen auffällig engen Kreis von Bildern beziehen und dabei bisweilen eine teleologisch gerichtete Geschichte des Bildes zugrunde zu legen scheinen, kann der kunsthistorische Diskurs gegen Blickbeschränkungen und entwicklungsgeschichtliche Zurichtungen auf die historisch beobachtbare Komplexität des Phänomens Bild aufmerksam machen. Zu zeigen ist, dass in dieser historischen Komplexität der Erscheinungsweisen des Bildes zugleich seine systematische Komplexität fassbar wird. Die dem Bild eigene Historizität wäre vermutlich erheblich unterschätzt, wenn man Bildgeschichte als einen Prozess beschreiben wollte, in dem das Bild – etwa im Zuge einer Entwicklung hin zu Autonomie, Autoreferentialität und ›metapikturaler‹ Reflexivität – gleichsam zum Bewusstsein seiner selbst kommen würde.

<10>

In die gegenwärtigen ›bildwissenschaftlichen‹ Diskussionen ist die Kunstgeschichte daher vielleicht weniger als Leitdisziplin oder als überholtes Paradigma, sondern als ein Unruhestifter einzuführen. Stellt sich der wissenschaftshistorische Rückblick auf das Fach Kunstgeschichte den aktuellen Fragen nach der ›Macht‹ und Bedeutung der Bilder, so kann er grundlegende Potentiale des Bildes vor Augen führen, indem er zeigt, wo die diskursive Annäherung an das Bild an Grenzen stößt. In einem etwas gewagten Vergleich ließe sich die kunsthistorische Forschung der letzten zwei Jahrhunderte daher als ein ›bildwissenschaftliches‹ Experiment verstehen, dessen Ertrag gerade nicht in bestimmten Resultaten, sondern in einem fortwährenden Aufschub einer allgemeinen Theorie des Bildes zu suchen wäre.

<11>

Der Vorschlag, das Fach Kunstgeschichte und insbesondere Forschungen zu seiner Geschichte als Unruhestifter in ›bildwissenschaftlichen‹ Diskussionen zu verstehen, kann sich allerdings nicht darauf beschränken, Einsprüche gegen Theorien und Bestimmungen des Bildes zu formulieren, die von anderer Seite erarbeitet werden. Vielmehr gilt es, genauer zu untersuchen, warum nicht bereits die Kunstgeschichte selbst die gegenwärtig diskutierten Grundfragen zum Bild befriedigend beantwortet hat. Warum und wie hat sich das Bild einer restlosen Aufklärung und Erhellung durch die kunsthistorische Forschung entzogen? Sind dafür allein Defizite des kunsthistorischen Fachdiskurses geltend zu machen, oder zeigt sich in diesem Umstand ein Charakteristikum des Bildes?

<12>

Die Fachgeschichte der Kunstgeschichte könnte Wege weisen, um ausgehend von diesen Fragen einen eigenständigen, (selbst-)kritischen Beitrag zur ›bildwissenschaftlichen‹ Diskussion zu leisten. Sie müsste dazu weniger auf programmatische Positionen der Kunstgeschichte als vielmehr auf deren vielfältige Praxis blicken. Die Entwicklung des Fachs wäre zu diesem Zweck nicht als Abfolge großer Forscherpersönlichkeiten und ihrer Werke, sondern als Geschichte hoch entwickelter Kulturen im Umgang mit Bildern zu beschreiben. All das ist in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte mit guten Gründen und ersten vielversprechenden Ergebnissen verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Diese neueren wissenschaftshistorischen Studien, die sich auf Praktiken und materiale Kulturen konzentrieren, bieten eine gute Basis, um die Fachgeschichte reflektiert auf die derzeit diskutierten ›bildwissenschaftlichen‹ Fragen hin zuzuspitzen. Forschungen zu den ästhetischen Strategien, derer sich das Fach selbst bedient hat, um seinen Gegenstand ›wissensförmig‹ zu machen (z. B. Untersuchungen zur zeichnerischen Tätigkeit von Kunsthistorikern, zur Nutzung und Gestaltung von Reproduktionen, zur Arbeit mit Sammlungen etc.), könnten in besonderer Weise dazu beitragen, die Geschichte der Kunstgeschichte als ›bildwissenschaftlich‹ aufschlussreiches Experimentierfeld zu profilieren, in dem zugleich über Bilder nachgedacht und mit Bildern gearbeitet wurde. Jede kunsthistorische Praxis ist bereits durch ein implizites Vorverständnis des Bildes disponiert, doch kann die praktische Arbeit mit Bildern auf derartige Konzeptionen des Bildes zurückwirken, sie bestätigen, revidieren oder unterlaufen. Indem die Fachgeschichte Einblicke in das spannungsvolle Verhältnis zwischen historischen Auffassungen des Bildes und materialen Praktiken im Umgang mit Bildern gewinnt, kann sie eine Dynamik freilegen, die das Bild möglicherweise prinzipiell charakterisiert. Nicht weil sie uns auf einzelne historische Positionen aufmerksam macht, sondern weil sie eine fortwährende Arbeit am Bild rekonstruieren kann, verdient die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte erhöhte Aufmerksamkeit in den aktuellen ›bildwissenschaftlichen‹ Debatten.

<13>

Mit Blick auf die fundamentalen Schwierigkeiten, die jeder Versuch, das Bild allgemein zu bestimmen, aufwirft, hat Louis Marin in einem Gespräch auf die eigentliche Produktivität historischer Studien hingewiesen. Die Arbeit des Historikers, so Marin, ist »weit davon entfernt, die Opazität transparent zu machen. Sie entfaltet vielmehr deren Reichtum […].«  [15] Die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte könnte ein Ort sein, an dem dieser »Reichtum« auf seine Relevanz für ein allgemeines Verständnis des Bildes hin befragt wird. Die Kunstgeschichte wäre zu diesem Zweck nicht an ihren Ergebnissen, sondern an ihren Vollzügen, an ihrer unabschließbaren Arbeit mit Bildern zu messen.



[1] Hal Foster: The Archive without Museums, in: October, Nr. 77, 1996, S. 97-119, hier S. 100.

[2] Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, 2. Aufl. München 2002, S. 23.

[3] W. J. T. Mitchell: Pictorial Turn [1992], in: ders.: Bildtheorie, hg. v. Gustav Frank, Frankfurt/Main 2007, S. 101-135, hier S. 106.

[4] Im Folgenden setze ich den Terminus ›Bildwissenschaften‹ in einfache Anführungszeichen, um anzuzeigen, dass mein Gebrauch des Begriffs nicht auf eine institutionalisierte Disziplin zielt. So skeptisch ich gegenüber ersten Bemühungen zur Etablierung eines Faches Bildwissenschaft(en) bin, scheint es mir doch einen hinreichend klar umschriebenen Kreis von Fragestellungen zu geben, der es erlaubt, von einer aktuellen wissenschaftlichen Debatte um das Bild zu sprechen. Freilich entsprechen die Begriffe des Bildes, die diese Debatte prägen, nicht fraglos dem Bild-Begriff der Kunstgeschichte, die sich vor allem picturae, nicht so sehr anderen Formen von imagines widmet.

[5] Belting 2002 (wie Anm.  [2]).

[6] Georges Didi-Huberman: Devant l’image. Question posée aux fins d’une histoire de l’art, Paris 1990.

[7] Aus der Fülle der neueren Warburg-Literatur sei erwähnt: Horst Bredekamp, Michael Diers und Charlotte Schoell-Glass (Hg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991 (Schriften des Warburg-Archivs, Bd. 1); Georges Didi-Huberman: L’image survivante. Histoire de l’art et temps de fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002.

[8] Horst Bredekamp: A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft, in: Critical Inquiry 29, 2003, S. 418-428.

[9] Thomas Crow, [Statement zum Visual Culture Questionnaire], in: October, Nr. 77, 1996, S. 34-36, hier S. 36; Rosalind Krauss: Welcome to the Cultural Revolution, in: October, Nr. 77, 1996, S. 83-96, hier S. 91. Für differenziertere Überlegungen zum Verhältnis von kunsthistorischen Kernkompetenzen und der Öffnung des Fachs für theoretische Neuorientierungen vgl. Werner Busch: Mittelfristige Entwicklung. Kunstgeschichte und Wissenschaftsorganisation, in: Texte zur Kunst 16, 2006, Nr. 62, S. 87-95.

[10] Um die gebotene Kürze des Textes zu wahren, kann hier nur schlagwortartig ein stark simplifizierender Blick auf die Frühzeit des Faches geworfen werden, der wichtige Differenzierungen ausklammert und die Vorgeschichte des Fachs Kunstgeschichte gänzlich ausblendet; zu dieser Vorgeschichte vgl. Gabriele Bickendorf: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1998.

[11] Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, München 2001; vgl. auch Regine Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004.

[12] Vgl. Johannes Grave, Hubert Locher und Reinhard Wegner (Hg.): Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, Göttingen 2007, (Ästhetik um 1800, Bd. 5).

[13] Vgl. Johannes Grave: Postscriptum. Ein Ausblick auf die Folgen organischer Metaphorik im Diskurs der Kunstgeschichte, in: Grave/Locher/Wegner 2007 (wie Anm.  [12]), S. 219-229.

[14] Die jüngsten Entwicklungen sowohl der Diskussion um die Visual Studies als auch der bildwissenschaftlichen Debatten lassen tatsächlich befürchten, dass diese zunächst als provokante Herausforderung angetretenen Forschungsdiskurse nun ihrerseits zu fragwürdigen Schließungen tendieren; zu diesem Problem vgl. etwa Mieke Bal: Visual Essentialism and the Object of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 2, 2003, Nr. 1, S. 5-32; und Susanne von Falkenhausen: Verzwickte Verwandtschaftsverhältnisse: Kunstgeschichte, Visual Culture, Bildwissenschaft, in: Philine Helas u.a. (Hg.): Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 3-13.

[15] Louis Marin: Über das Kunstgespräch, Freiburg i. Br. 2001, S. 64.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Grave J.: Die Kunstgeschichte als Unruhestifter im Bilddiskurs. Zur Rolle der Fachgeschichte in Zeiten des Iconic Turn. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-6 (urn:nbn:de:0009-23-17889).  

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Kommentare

  1. Hahn, Werner | 27.04.2009

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