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Im Jahre 1870 hielt Ewald Hering (1834-1918), Helmholtz' großer Rivale in der physiologischen Optik, eine seinerzeit berühmte Rede Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. Man verstehe unter Gedächtnis oft nur die Fähigkeit, Vorstellungen absichtlich zu reproduzieren, so Hering einleitend vor der versammelten Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Man könne jedoch dessen Funktion auf alle nicht gewollten Reproduktionen von Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen ausdehnen; dann erweitere sich das Gedächtnis zu einem Urvermögen, das zugleich Quell und einendes Band unseres ganzen bewußten Lebens sei.

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Es sei bekannt, so Hering, daß wiederholte sinnliche Wahrnehmungen sich dem »Sinnengedächtnis« zuweilen derart einprägen, daß sie noch nach Stunden wieder frisch ins Bewußtsein träten. Abgeschwächte Erscheinungen des Sinnengedächtnisses seien noch häufiger. Gedächtnis sei nicht eigentlich als Vermögen des Bewußtseins, sondern vielmehr des Unbewußten anzusehen.

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Zum Abschluß entwarf Hering das erhebende Kolossalgemälde einer gedächtnisdurchsetzten, fortschrittsfähigen Menschenhirnnatur: Man habe die mündliche und schriftliche Überlieferung das ›Gedächtnis der Menschheit‹ genannt, und dieser Spruch habe seine Wahrheit. Aber noch ein anderes Gedächtnis lebe in der Menschheit: das angeborene Reproduktionsvermögen der Gehirnsubstanz. Ohne dieses Reproduktionsvermögen böten Schrift und Sprache nur leere Zeichen für spätere Geschlechter.

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Untrennbare Verzahnung von Veranlagungen und Kulturleistungen also, die sogar ausdrücklich das Lamarcksche Prinzip der Vererbung von erworbenen Eigenschaften mit einschließen sollte! Es scheint zunächst kaum glaublich, daß solche Thesen vor dem höchsten Wissenschaftsgremium der Donaumonarchie auf Zustimmung stießen. Und doch entsprachen Herings Formulierungen den akzeptierten Staatsvorstellungen.

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Deren Grundlage war der Herbartianismus. Dieses ›letzte große Lehrgebäude der klassischen Philosophie Deutschlands‹ war seinerzeit auch in den Humanwissenschaften tonangebend. Johann Friedrich Herbart (1776-1841) hatte als Kants Nachfolger in Königsberg das Konzept der »Vorstellungsreihen« eingeführt und auch die mathematische Fassung psychologischer Vorgänge in Angriff genommen. Diese anti-idealistische Seelendynamik bot nicht nur naturwissenschaftlich angelegte Modelle von Individualität und Subjektivität, sondern auch Direktiven für Sozialpsychologie und Staatstheorie.

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Erst im Jahre 1904 begann sich dieses großangelegte Bild zu zerlegen, als der Biologe August Weisman in seinen Vorträgen zur Deszendenztheorie diskrete Erbinformationsträger im Keimplasma der Chromosomen identifizierte. Die bald darauf – 1909 – sobenannten Gene traten ihren Siegeszug im Rahmen einer wieder deutlich präformativ angelegten Vererbung an, die nur durch Mutationen veränderbar sein sollte. Auch gegenläufige Theorien sind damals noch publiziert worden: 1904 hat der Biologe Richard Semon (1859-1918), Hering folgend, noch einmal versucht, dessen Konzept funktioneller epigenetischer Anpassungen sowohl für die Vererbung wie auch fürs Gedächtnis mit einem gemeinsamen Prinzip zu untermauern.

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Reaktivierung von Gedächtnisspuren im Sinne Semons hat in Warburgs Mnemosyne-Projekt kulturwissenschaftliche Früchte getragen. Dessen Wortschöpfungen wie »Pathosformel« oder »Energiekonserve Symbol« sind dann auch neuerlichen Vermischungen mit der biologischen Genetik zugeführt worden. Kein Wunder, daß Semons universelle Mneme und die parzellierten Gene oft kurzerhand demselben Ideenstammbaum jener neuen virtuellen Geistlebewesen inokuliert erscheinen, deren schrittweise Emanzipation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor sich gegangen ist.

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Er denke, das eine neue Art Replikator [Vervielfältiger] in jüngster Zeit auf unserem Planeten aufgetaucht sei, schrieb 1976 der Biologe Richard Dawkins in seinem bereits in dreißigster Auflage verbreiteten Buch über Das egoistische Gen. Dieser Replikator sei zwar noch in seiner frühen Kindheit; aber er bewirke bereits derartig rasche Veränderungen, daß der bis dahin alleinherrschende biologische Replikator, das Gen, atemlos weit zurückgefallen sei. Die neue Nährlösung (»soup«) sei die menschliche Kultur.

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Die Wirkung dieser Begriffsprägung und der von ihr propagierten Vorstellungen war ungeheuer: Mittlerweile gibt es eine etablierte, wenn auch umstrittene Forschungsrichtung, Memetik (memetics) genannt, die sich mit der Verbreitung der neuen Informationseinheiten beschäftigt. Noch weitläufiger sind die stillschweigenden Anlehnungen und halbbewußten Übernahmen. – Dawkins hatte bereits 1976 typische Meme-Beispiele genannt: Melodien, Ideen, Schlagworte (»catch-phrases«), Kleidermoden, Methoden der Gefäßherstellung oder des Bogenbaus und sogar solche Gebilde wie die Gottesidee. Genau so wie Gene sich im »gene pool« verbreiten, indem sie vermittels Samen und Eizellen von Körper zu Körper übersprängen, so würden Meme von Hirn zu Hirn springen. Mehr noch: Meme sollten, darin war sich Dawkins von Anfang an mit korrekturlesenden Fachkollegen einig, als lebendige Wesen (»living structures«) angesehen werden. Wenn ein fruchtbares Meme einen Kopf besiedle, dann würde es wie ein Virus oder Parasit dieses Hirn als ›Wirt‹ für seine Vermehrung benutzen. Das sei keine metaphorische Rede, sondern physikalische Realität; in Neuauflagen seines Buchs hat Dawkins dann auch emphatisch zustimmende Befundinterpretationen von Neurowissenschaftlern zitiert.

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In Dawkins Gen-Buch war von Bildern nur mittelbar die Rede gewesen. Mit dem Aufkommen der neuen Computer-Medien in den achtziger Jahren gewann auch die Vorstellung von physikalisch realen Hirnparasiten mit visueller Gestalt neue Qualitäten. Den starren Bildern der Malerei und Photographie und den bewegten Bildern des Films waren nun die interaktiven, scheinbar eigenmächtig belebten Bilder gefolgt; und die bewegten sich in neuartigen Umwelten.

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Peter Weibel, Direktor des Karlsruher ZKM, verkündete schon vor zwei Jahrzehnten eine neue unheimliche Trinität elektronischer Bildeigenschaften: »Variabilität«, »Virtualität« und »Viabilität«. Ihre unverzügliche Variabilität mache sie so geeignet für interaktive Installationen, die auf Eingaben in Echtzeit reagieren, und für virtuelle Environments künstlicher Intelligenzen und künstlichen Lebens. Auch deren physikalische ›Umgebung‹ selbst habe sich schon längst grundlegend verändert: zu einer programmatischen ›Weltinnensicht‹, zu einem endophysikalischen Universum.

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Weibels Quintessenz: Der nichtklassische Bildbegriff der Medienkunst entspreche dem nichtklassischen Realitätsbegriff der Quantenphysik. So, wie es in der avancierten Quantenrealität fast keine Messungen mehr gebe, sondern nur mehr Korrelationen, so sei man versucht zu sagen: »Es gibt keine einzige Realität mehr, sondern nur Korrelationen von virtuellen Welten, von denen die jeweiligen Bewohner glauben, sie sei die einzige und reale.« – Damit war ein quantphysikalisches Szenario für den Auftritt von scheinbar wahrhaft lebenden Bildern abgesteckt; mit merkwürdig klaustrophobisch-geschichtsarmen Zügen.

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Im Jahr 2005 publizierte W. J. T. Mitchell, der andere der beiden hier bemühten Vordenker neuer Bildwissenschaften, ein Buch mit dem Titel What Do Pictures Want? – Aber können Bilder nicht nur Leben, sondern auch Leidenschaften oder zumindest Triebe haben? Offenbar durchaus, wenn man Dawkins memetische Betrachtungsweise weiterführt. Doch den Namen des Biologen sucht man in Mitchells reichhaltig annotiertem Buch vergebens. Gleichwohl sind die grundlegenden Übereinstimmungen deutlich.

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Der Übergang zu einer ›Biologie der Bilder‹ enthülle möglicherweise Ebenen der Bildwissenschaft, die nicht innerhalb des Bereichs der physikalischen, unbelebten Materie angesprochen werden könnten, so Mitchell. Es sei eine Art Biowissenschaft, wenn das Problem der ›Reproduktion‹ von Bildern, ihrer ›Mutationen‹ und ›evolutionären Veränderungen‹ angegangen werde. Diese Naturgeschichte sei natürlich auch eine Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte, aber sie konzentriere sich auf die ›zweite Natur‹ der Menschheit. Mitchell erschienen weder ein zukünftiger Post-Humanismus noch das digitale Bild als [Entwicklungs-]Konzepte besonders vielversprechend; sein Interesse richtete sich vielmehr auf gegenwärtige Statthalter von Geschichte: auf Klone und Fossilien.

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Im Sinne Benjamins hat Mitchell diese Stellvertreter des gestern und morgen dort in ein dialektisch stillgestelltes Bild der globalen Gegenwart buchstäblich einverleibt: Fossilien als doppelt erstarrte Zeugen der Vergangenheit; sowie das Schaf Dolly als derzeitigen Inbegriff von Klon, als leibhaftige Replik, als lebendes Bild seiner dublizierten Gen-Information – und als ominöse Erscheinung einer Bildnatur, deren Bedürfnisse und Triebe menschlichem Verstehen möglicherweise gar nicht mehr zugänglich sind. Eine irritierende Wendung, die Mitchell bewußt gegen alteingesessene Interpretationswut und Sinnzuweisungsverfahren der kanonischen Kunstwissenschaft richtete; sie bestätigt allerdings auch, daß die neue Fremdartigkeit der Bilder von jener Erosion menschlichen Selbstverständnisses herrührte, mit der Dawkins seit drei Jahrzehnten die Kulturwelt beunruhigt hat.

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Dawkins »egoistische Gene« hatten eine verstörende Sichtweise eingeführt: In uns humanen Großorganismen residiert etwas virenartig Winziges, Parasitäres, das eigenen ›Interessen‹ folgt, uns nur als Zwischenwirte benutzt und zu seinem Vorteil: zur Vermehrung und Ausbreitung steuert. Mit den neuen, noch schneller wirkenden Meme-Replikanten schien nun auch der innerste Bezirk unseres Selbstverständnisses, die Bildersphäre der kulturellen Überlieferungen und Handlungszusammenhänge, verseucht. Demgemäß fügten sich alle wesentlichen Eigenschaften der begehrlichen Bilder zusammen: Sie scheinen Gefühle und Willen zu haben, Selbstbewußtsein, Handlungsfähigkeit und Sehnsüchte; und all diese Merkmale ließen sich in der Kultur- und Kunstgeschichte an vielfältigsten Beispielen nachweisen. Im Zeitalter von Globalisierung und Gentechnik seien Konzepte wie Zirkulation oder Beweglichkeit (»mobility«) der Bilder eindeutig unzureichend, so Mitchell. Man habe stattdessen an eine regelrechte Migration der Bilder zu denken, wobei deren eigenmächtige Wanderungen unablässig durch Betrachterphantasien der Vergiftung, Seuche und Reinigung reguliert, verhindert oder beschleunigt würden. – Es fehlte nur noch der Begriff der kulturellen Replikatoren selbst, um die wörtliche Tuchfühlung zu Dawkins Meme-Theorie herzustellen.

II

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Was läßt sich als Ideen-Panoptikum bio-kultureller Vererbungstheorien festhalten? – Zunächst einmal die durchgängige Vorherrschaft hirnwissenschaftlicher und dann molekularbiologischer Leitbilder; und dann die weitgehende Umkehrung ihrer Zentrierung: Für Ewald Hering waren menschliche Hirne noch unangefochtene Ursprungs- und Reproduktionsorte von materiell organisierten Erinnerungsbildern. Mit der herbartianischen Hirnerziehung zu soziokultureller Fortbildung stand und fiel die Kontinuität humanen Fortschritts in der Funktionseinheit von Gedächtnis und Vererbung. Die Jahrhundertwende brachte dann einen tiefgreifenden Wechsel: Vererbung und Erinnerungsvermögen wurden geschieden. ›Kollektives Gedächtnis‹, die mèmoire sociale, wurde den Geisteswissenschaften, die sich abzeichnenden Molekularmechanismen der Fortpflanzung den Naturwissenschaften zugeschlagen. Querbezüge, so etwa Mutationen in Kulturprozessen, wurden nur noch in metaphorischer Rede angedeutet.

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In der zweiten Jahrhunderthälfte folgte dann eine Umpolung: Alte Wunsch- und Albträume von künstlicher Intelligenz erwachten zu neuem digitalen Leben; Vorstellungen von biologischen Computern in Menschengestalt griffen um sich. Resultat: Nicht nur der menschliche Körper, auch sein Geist und sein Bewußtsein wurden nun zu Schauplätzen und Schlachtfeldern externer, fremdartiger Agentien. Die ehemaligen Innenwelten humaner Persönlichkeiten erwiesen sich als Außenwelten kooperierender oder konkurrierender, symbiotischer oder epidemischer Informations-Parasiten, die auch als Bilder daherkamen.

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Fazit: Die Rolle von Erinnerung und Gedächtnis hat sich dramatisch gewandelt: Im 19. Jahrhundert waren es noch Inbegriffe soziokultureller Selbstbeschreibung und Erziehung, umfassende Anleitungen zum Umgang mit Bildern aus der Geschichte und für die Zukunft. In gegenwärtiger Sicht scheinen sie in unzählige generierende oder eliminierende Funktionen auf den biologisch-mentalen Interaktionsbühnen zerfallen – und tauchen als Worte kaum noch auf. Auch das läßt sich als symptomatische Veränderung unserer neuen Medienkultur verbuchen: Das Gedächtniswesen ist von Bildparasiten abgelöst worden.

 

* Kurzfassung von: Gedächtniswesen & Bildparasiten. Die Veräußerung von Erinnerungsvermögen, in: Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, hg. v. Bernd Hüppauf u. Peter Weingart, Bielefeld 2009, S. 325-338.

 

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Empfohlene Zitierweise

Clausberg K.: Gedächtniswesen & Bildparasiten. ›Lebende Bilder‹ als Weltseuche?. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-49 (urn:nbn:de:0009-23-20862).  

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