I

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Die Geschichte der Disziplin Kunstgeschichte hat eine intensive Aufarbeitung ihrer geistesgeschichtlichen Wurzeln und Leitmotive, Institutionen und Medien erfahren und einen intellektuellen und materialen Reichtum sichtbar gemacht, der für die Synthese unterschiedlichster Ansätze aus Ästhetik, Morphologie, Historiographie, Archäologie und vielen anderen Bereichen steht.

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Was sich seit einigen Jahren als ›Bildwissenschaft‹ zu konstituieren versucht oder transdisziplinär artikuliert – sei es im Sinne einer theoretischen Erforschung oder im Sinne einer praktischen Bewältigung neuer Bildmengen –, reicht teilweise noch gar nicht an die in der Kunstgeschichte eingeschlossene Verzahnung von Praxis und Theorie heran, selbst wo es technisch avancierte Objekte berührt oder sich explizit auf jene Denktraditionen bezieht. Die visuellen Praktiken der Architektur und Plastik, der Industriegestaltung, der Hochkunst und der Massenmedien vom Flugblatt bis zur Computergrafik wären heute gar nicht Gegenstand einer Bildwissenschaft, wären sie nicht seinerzeit schon als Kunstgeschichte, d. h. als bildgewordenes Kulturerbe wahrgenommen worden.

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Kunstgeschichte befindet sich daher auch nicht in Opposition zu Fächern wie Philosophie, Psychologie oder anderen, sondern hat von diesen selbst einmal den Auftrag erhalten, unter dem Begriff der ›Kunst‹ Kriterien und Techniken für eine qualitative und quantitative Bestimmung des Visuellen zu entwickeln. Dies führte bekanntlich schon um 1900 zu einer Welle von Publikationen, die auf das veränderte Bildverständnis der Moderne ebenso reagierten wie auf den Aufstieg neuer Medien und neuer Disziplinen und die versuchten, Kunst als Gegenstand einer ›Kunstwissenschaft‹ anders anzusprechen.

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Als eine solche Wissenschaft entwickelte die Kunstgeschichte, angesichts der Ortsbindung und Spezifika ihrer Objekte, die intellektuellen wie logistischen Techniken zu deren Verwaltung, Reproduktion und Vergleichung stetig weiter. Die moderne Archiv- und Datenbanksortierung von Bildern nach Herstellern, Themen oder Orten ist das direkte Produkt solcher biographischer, stilkundlicher und ikonographischer Methodenfragen. In einer theoretisch ausgerichteten Bildwissenschaft, die sich aus wohlsortierten Diatheken bedient, werden die entsprechenden bildhistoriographischen Anstrengungen aber immer noch als trivial-technischer Aspekt abgetan.

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Dennoch war die jüngste bildwissenschaftliche Neuverhandlung schon deshalb hilfreich und erforderlich, weil intellektuelle Traditionen gewaltsam unterbrochen worden sind, gesellschaftlich-technologische Veränderungen Berücksichtigung finden müssen, Begriffe wie Kunst und Bild dem Bedeutungswandel unterliegen und damit auch Abgrenzungen von Fächern (etwa bezüglich ›bildender‹ und ›darstellender‹ Kunst) beweglich bleiben. Die Diskussion hat außerdem Gelegenheit geboten, daran zu erinnern, dass sich selbst eine historisch unreflektierte Bildwissenschaft nicht nur darüber definiert, jenseits der Hochkunst zu agieren, und es somit auch in der Geschichte der Kunstgeschichte weit mehr zu erkunden gibt als die Frage, ob namhafte Protagonisten wie Aby M. Warburg auch Briefmarken oder Plakate zur Kenntnis genommen haben – das sollte vielmehr ›understood‹ sein.

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Die Kunstgeschichte hat unter anderem auf die Herausforderung reagiert, indem sie in den letzten Jahren in direkter Umkehrung eine ›Kunstgeschichte der Wissenschaften‹ formuliert hat, welche die Bedeutung ästhetischer Praktiken für die Generierung von Wissen vor Augen führt. Aus ihr geht z. B. hervor, welche wissenschaftliche Bedeutung der Kenntnis von Darstellungstechniken (von der Farbpalette oder dem Werkstoff über die Perspektivzeichnung bis hin zur druckgrafischen Reproduktion) zukommt, welchen Anteil der Bildungsgedanke für den Aufstieg der neueren Wissenschaften hatte und inwieweit Kunst und Naturwissenschaft als techné vor und im Zeitalter der Industrialisierung zusammenhingen. Eine solche Kunstgeschichte der Wissenschaften nimmt aus ästhetischer Perspektive deren Stufen der Bildentstehung als einen Modellbildungsprozess wahr, welcher auch für das vermeintlich autonome Kunstwerk überhaupt erst entdeckt werden musste; ebenso, wie für das naturwissenschaftliche oder massenmediale Bild der Verlust an Qualität und Autorschaft behauptet worden ist, haben auch viele der heute kanonischen künstlerischen Medien vom Kupferstich bis zur malerischen Wanddekoration ihre Anerkennung erst schrittweise erfahren, indem Kunst als Kriterium sui generis auf sie angewandt wurde.

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Die wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung des Faches Kunstgeschichte und seiner Entwicklungen kann erkennen lassen, in welchem Maße Kunstgeschichte insbesondere Bilder gemeint hat, wenn sie Kunst sagte; sie zeigt aber auch, wie sehr die aktuelle Frage nach dem ›Bild‹ und seiner Definition eine Fülle visueller Konkretionen außer Acht zu lassen droht; wie sehr sie – ungeachtet der gemeinsamen Wurzeln von Zeichnen, Schreiben und Zählen oder der Multimedialität äshetischer Produktion – einen wenig hilfreichen Paragone konstruiert; oder inwieweit sie ungewollt das Verhältnis von Bild und Wissenschaft in eine Dichotomie bringt, in der das Bildliche auf die nachrangige Funktion massentauglicher Vermittlung reduziert ist. Im Vergleich mit den Fragestellungen einer jüngeren Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts wird außerdem deutlich, wie entpolitisiert und technokratisiert bildwissenschaftliche Diskurse geraten können.

II

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Mit derselben Regelmäßigkeit, mit der dem Fach Kunstgeschichte aufgrund seines vermeintlich engen autonom-künstlerischen Gegenstandes Sichtbeschränkungen vorgeworfen wurden, wurde auch seine ›Disziplinlosigkeit‹ immer wieder beklagt. Die Außenwahrnehmung der Kunstgeschichte ist gleichermaßen gekennzeichnet durch publizistische Ausschlachtung populärer Motive und Themen wie durch elitäre Zirkel und Diskurse; sie verhält sich normativ und entwickelt dabei zugleich ungeahnte berufs- und schichtenübergreifende Breitenwirkungen. Der Entwicklungsgang der Kunstgeschichte an Universitäten und Museen zeigt innerhalb ihres umfassenden Horizonts deutliche Spezialisierungen und Fraktionierungen an, die sich wiederum von einem historisch gewachsenen Kunstverständnis herleiten. Wenn es jedoch zwischen Phänomenologie und Stilgeschichte, Biographik und Sozialgeschichte, Denkmalschutz und Ausstellungswesen eine ungeteilte Kunstgeschichte nie gegeben hat und auch nicht geben muss, so lässt sich sehr wohl ein intensives ›fachliches‹ Selbstverständnis erkennen, da es oft gerade die konfligierenden Methoden sind, die ein solches erzeugen.

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Kunstgeschichte ist aus ihrer Entstehung heraus ein Prozess der Reflexion über Formen und ihre Produktion, Beschreibung und Bedeutung. Sie verwaltet nicht nur Bilder, sondern bestimmt darüber die Gründe, sich mit ihnen zu befassen. Ihr Blickwinkel ist daher mindestens so breit wie derjenige von Kulturwissenschaft oder Systemtheorie, und sie kann nach wie vor Themen identifizieren, die mit dem Begriff der ›Kunst‹ verbunden bleiben und dennoch nicht nur ein engeres Kultursystem meinen. So lassen sich auch in einer Zeit der globalisierten Märkte und mit kritischem Blick für ökonomisch, politisch oder geschlechtlich dominierte Sehweisen historische Bezüge freilegen, die von politischen Bildthemen der Antike über die naturwissenschaftliche Bildgestaltung der Frühen Neuzeit bis hin zum modernen Urheberrecht als einem Produkt der europäischen Kulturgeschichte reichen. Selbst die globalen ökologischen oder wirtschaftlichen Probleme der Gegenwart beruhen auf einer Form der Umwelterschließung und -exploitation, an der auch die Künste und ihre Bilder nicht unschuldig sind.

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In Zeiten veränderter bildungs- und wissenschaftspolitischer Rahmenbedingungen wäre diese innere Dynamik der Kunstgeschichte nicht zu erhalten, wenn ihre Gegenstände nur auf einen kleinen Abfragekanon eingeköchelt werden. Aus seiner Geschichte heraus sollte das ›Fach‹ daher auch unter den Vorgaben der Bologna-Reform nicht damit fortfahren, sämtliche Theorie und Praxis, sämtliche Stoffe aus Malerei und Film, Architektur und Kunstgewerbe in einen einzigen schmalspurigen Modulkatalog zu zwängen, um dann den Bologna-Prozess für die Konfektionierung und Homogenisierung von Bildungsbausteinen verantwortlich zu machen; denn der Lehrkanon der Kunstgeschichte ließe sich auch ohne Modularisierung auf keinem Reißbrett der Erde festhalten. Die monographische Erforschung von Einzelleistungen ist so legitim und notwendig wie die Stilkunde oder Museologie oder die Untersuchung von anonymen Produktionsformen in der Filmindustrie oder im historischen Festwesen. Was wissenschaftlich interessant oder relevant ist, hängt von individuellen und zeitabhängigen Erwartungen ab, und so bleibt nur der Mut zur Lücke, welche durch Praxis, Standortwechsel, Eigeninitiative ausbalanciert werden muss.

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Der Streit um Bologna und um Bildwissenschaft bietet jedoch unverändert Gelegenheit, das Studium so zu definieren, dass es den Begriff der ›Kunst‹ weiter stärkt, indem es ihn über die Diskussion des ›Bild‹-Begriffes präzisiert. Die Betrachtung der eigenen Disziplingeschichte zeigt an, dass Kunst als die Konstruktivität und Historizität des Bildlichen, als Sichtbarkeit und Gesellschaftlichkeit schon einmal in einem weiteren Sinne verstanden worden ist, als es heute landläufig bekannt ist. Sie zeigt ferner, dass es stets Konjunkturen und Depressionen, Allianzen wie Konkurrenzen gegeben hat. Abwanderungen in Fachgebiete, die unter Labels wie ›Medien‹, ›Kultur‹ oder ›Bild‹ eine vermeintlich größere Bandbreite versprechen, obwohl sie demselben Korsett der Höchststudiendauer unterworfen sind, könnten nicht allzu fernen Tages eine Gegenrichtung nehmen. Für diesen Fall sollte die Kunstgeschichte aber auf die Frage, was ihr Gegenstand sei, nicht mit Antworten kommen, die auch um 1900 schon falsch waren.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Bruhn M.: Die Kunstgeschichtliche Fakultät. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-4 (urn:nbn:de:0009-23-17745).  

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