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Die künftigen Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte unseres Faches zeichnen sich bereits ab: in der Internationalisierung des Blickwinkels, in der Interdisziplinarität der wissenschaftshistorischen Forschung und in der Ausweitung der historischen Tiefendimension.

Internationalisierung des Blickwinkels

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Bereits im Jahr 2000 erschien mit dem Sammelband Écrire l’histoire de l’art: France-Allemagne, 1750-1920 eine Studie, die das Potential einer vergleichenden Betrachtung zweier Wissenschaftskulturen und disziplinärer Entwicklungen mit Nachdruck deutlich gemacht hat. Dies war besonders wirkungsvoll, da der Band in seinem Zentrum die Phase der Nationenbildung und damit der nationalen Konkurrenz auch auf dem Gebiet der kunsthistorischen Forschung umschloss.

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Auch die deutsche Kunstgeschichte rückt in den vergangenen Jahren erkennbar vom nationalen Bezugsrahmen ab, d.h. sie verabschiedet sich von Wilhelm Waetzoldts Konzept der Deutschen Kunsthistoriker und nimmt in ihren Überblickswerken von Heinrich Dillys Altmeister der Kunstgeschichte (1990) bis zu Ulrich Pfisterers Klassiker der Kunstgeschichte (2007) zunehmend die internationale Forschung und ihre Verflechtungen und Wechselwirkungen in den Blick. Eine Weiterentwicklung zeichnet sich hier in der globalen Ausweitung der Perspektive ab, die parallel zum Ausbau der großen bundesrepublikanischen Institute verläuft: Europäische Kunstgeschichte wird hier durch die Einrichtung von Professuren bzw. Abteilungen für islamische Kunstgeschichte, ostasiatische Kunstgeschichte, lateinamerikanische Kunstgeschichte etc. in Richtung auf eine Weltkunstgeschichte institutionell neu konzipiert. Damit rücken zugleich auch die entsprechenden Forschungsgeschichten in den Horizont der kunsthistorischen Wissenschaftsgeschichte – zumal eine nicht unbedeutende Zahl von Forscherpersönlichkeiten sowohl in der europäischen als auch in der außereuropäischen Kunstgeschichte die Geschichte des Faches gestaltet hat: Ein Beispiel dafür wäre Erwin Walter Palm, der im erzwungenen Exil an den Grundlagen einer ibero-amerikanischen Kunstgeschichte arbeitete.

Interdisziplinarität der wissenschaftshistorischen Forschung

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Traditionell bezog sich die Kunstgeschichte wissenschaftshistorisch primär auf die Philosophie als ›Mutter der Wissenschaften‹, deren ästhetischer Zweig seit dem Idealismus zentral für die Gegenstandsbestimmung war. Bezüge zu den Nachbarwissenschaften waren dagegen stärker standortabhängig und damit variabel, wie z.B. das wissenschaftshistorische Selbstverständnis der Wiener Schule, das die methodische Nähe zwischen der Kunstgeschichte und den Geschichtswissenschaften betonte. Spätestens seit Carlo Ginzburgs Versuch, eine Spurensuche nach dem ›Indizienparadigma‹ zwischen Giovanni Morelli und Siegmund Freud zu unternehmen, hat sich die wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auch über die geisteswissenschaftlichen Grenzen hinaus geöffnet. Unterstützt wurde dieser Prozess dadurch, dass sich das Forschungsinteresse zunehmend auch der Frühen Neuzeit und damit der Phase kunsthistorischer Forschung vor der disziplinären Institutionalisierung und Professionalisierung zuwandte. Die ›undisziplinierte‹ Kunstgeschichte vor 1800 war durch die Ausbildung und das Erkenntnisinteresse der Forscher als Juristen, Mediziner, Historiker etc. offen für Methoden- und Theorietransfer. Monographische Untersuchungen zu einzelnen Forscherpersönlichkeiten wie beispielsweise zu Francesco Bianchini oder Cassiano dal Pozzo haben in jüngerer Zeit die Personalunion von Natur- und Kulturforschung, von Astronomie, Geschichte, Archäologie und Kunstgeschichte deutlich gemacht. Erst in Ansätzen zeichnet sich ab, inwieweit die Kunstgeschichte ihre grundlegenden Instrumente und Verfahrensweisen aus derartigen Übertragungen bezogen hat.

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Einem interdisziplinären Impuls verdankt die Wissenschaftsgeschichte ihren eigenen iconic turn. Nachdem die wissenschaftshistorische Forschung in den Naturwissenschaften bereits mit Nachdruck der Frage nach der Visualisierung des Wissens nachgegangen war und die bildwissenschaftliche Forschung unserer Disziplin dazu gewichtige Beiträge geleistet hatte, gelangten in den letzten Jahren auch die wissenschaftliche Illustration und der kunsthistorische Umgang mit dem bildlichen Forschungsmaterial von der frühen Reproduktionsgrafik bis zur Fotografie und der digitalen Rekonstruktion zunehmend in den Blick. Verstärkend hat hier sicherlich die Auseinandersetzung mit Aby Warburg und seinem Bilderatlas als Forschungsinstrument gewirkt. Die lange Zeit neben den theoretisch-methodischen sowie den narrativen Konzeptionen wenig beachtete epistemologische Rolle des Bildes und der Visualisierung des Wissens gewinnt in jüngster Zeit verstärkt Aufmerksamkeit. Die Erschließung des visuellen Anteils in der Wissenschaftsgeschichte scheint dabei noch lange nicht abgeschlossen und dürfte zusammen mit den reproduktiven Formen der Visualisierung auch noch einmal die Frage nach der ›Ordnung der Dinge‹ in den Sammlungen in Hinblick auf eine ›Schule des wissenschaftlichen Sehens‹ eröffnen.

Ausweitung der historischen Tiefendimension

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Die Veränderungen des aktuellen Wissenschaftsbegriffs haben die ältere Unterscheidung zwischen einer Phase der wissenschaftlichen Kunstgeschichte und einer vorwissenschaftlichen, zumeist als ›bloß antiquarisch‹ bezeichneten, Kunstbetrachtung ins Wanken gebracht – mehr noch: Die Trennlinie, die mehr oder weniger scharf um 1800 gezogen worden war, ist nun selbst als Relikt einer historistischen Wissenschaftskonzeption und damit Bestandteil einer abgeschlossenen Epoche kenntlich geworden. Ähnlich ins Wanken geraten ist der lange Zeit beliebte Versuch einer Vaterschaftsbestimmung der Disziplin, der zumeist auf die Figur von Johann Joachim Winckelmann als unhintergehbare Größe hinauslief. Nachdem die jüngere Winckelmannforschung den Gründungsmythos verabschiedet und die Verankerung der Geschichte der Kunst des Altertums in der Forschung der vorangehenden 150 Jahre aufgezeigt hat, erscheint auch die Schnittstelle in der Mitte des 18. Jahrhunderts wissenschaftshistorisch nicht länger haltbar.

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Die Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit ist ein weites Gebiet, das in jüngster Zeit mit Nachdruck erschlossen wird. Die neue kommentierte deutsche Vasari-Ausgabe ist dafür ebenso ein Indikator wie das Projekt zu Joachim von Sandrart. Die weitere Erschließung der umfangreichen europäischen Viten-Tradition ist gerade unter dem Aspekt der kunsthistorischen Kanonbildung und der Kanonverschiebungen von hervorragendem Interesse. Darüber hinaus verspricht die Erforschung der frühneuzeitlichen Kennerschaft, aber auch der frühen gattungsgeschichtlichen oder auch lokalhistorischen Untersuchungen Aufschlüsse zu den Anfängen und den Ausformungen der grundlegenden kunsthistorischen Systematisierungen und Verfahrensweisen. Der Blick auf die noch nicht disziplinär disziplinierte, internationale Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit eröffnet dabei schon vom Gegenstand her die internationalen und interdisziplinären Perspektiven.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Bickendorf G.: Wissenschaftsgeschichte international, interdisziplinär und in historischer Tiefendimension. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-3 (urn:nbn:de:0009-23-17636).  

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