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Hauptbestreben einer zukünftigen Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte könnte nicht nur ihre »Ausrahmung« sein, wie im Einladungstext zu diesem Forum formuliert, sondern auch ihre noch viel konsequentere ›Einrahmung‹ – und dies in doppeltem Sinne: Dabei geht es mir hier weniger um den ersten, zumindest exemplarisch schon mehrfach dargelegten Punkt, dass bestimmte Positionen des kunsthistorischen Forschens und Denkens nicht nur aus dem Wissenschaftsdiskurs und seinen Mechanismen im engeren Sinne resultieren, sondern auch aus dem umfassenden Kontext der allgemeinen Lebens- und Bilderwelt (wobei auch hier immer noch vieles und teils auch erstmals zu tun wäre). Der zweite, hier wichtigere Punkt zielt darauf, dass für jede kunsthistorische Arbeit die ältere Wahrnehmung und Forschung nicht im Sinne einer ›Fortschrittsgeschichte‹ verstanden werden kann, wobei die älteren durch die neueren Ergebnisse zumeist ›überwunden‹ oder ›vorangebracht‹ scheinen, sondern als eine visuelle und intellektuelle ›Akkumulations- und Überblendungsgeschichte‹ (zugleich erinnert mein Ringen um die Formulierung daran, dass eine Metaphern-Geschichte der Kunstwissenschaft interessant wäre). Die Stationen oder Schichten dieses komplexen Prozesses sind in der Art eines nur mehr mit größter Anstrengung partiell zu dechiffrierenden Palimpsests mehr oder weniger gleichzeitig in unserem Sehen, Empfinden und Denken präsent und wirken unausweichlich, wenngleich auf verschiedenen Bewusstseins-Ebenen am aktuellen Gesamtbild mit. Wobei eine Spezifik der Kunstwissenschaft gegenüber etwa den Geschichtswissenschaften eben in der Herausforderung und Auseinandersetzung mit den teils angeborenen (?), antrainierten, schwer fassbaren und jedenfalls sehr beständigen Sehkategorien und -gewohnheiten liegt.

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Eine so verstandene Wissenschaftsgeschichte wäre für zwei der in meinen Augen wichtigsten aktuellen Ansätze der Kunstgeschichte/Bildwissenschaft fundamental: einerseits für die Frage nach den Möglichkeiten und Formen eines eigenständigen, sprachlich letztlich uneinholbaren ›visuellen Wissensregimes‹, einer ›ästhetischen Intelligenz‹ und eines nicht nur mit, sondern unabhängig neben den Texten bestehenden kulturellen Bildgedächtnisses; andererseits für die Versuche einer umfassenden Diskursanalyse verschiedener kunsthistorischer Zeithorizonte, die insbesondere auch an einer Relativierung der eurozentrischen Kunstvorstellungen und einer Historisierung des modernen Wahrnehmungsparadigmas arbeiten. Beide Ansätze sind in besonderem Maße ins Palimpsest der Wissenschaftsgeschichte verstrickt.

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Im Verlauf des skizzierten Akkumulationsprozesses des ›Wissens‹ über Kunst und der kunstwissenschaftlichen ›Schulung des Sehens‹ kann es keinen Anfang geben, sondern nur Anfangssetzungen. Anders gesagt: Es bestehen bei einer Mehrzahl von Aspekten fließende Übergänge von der so genannten Kunstliteratur der Frühen Neuzeit (die – anders als in Julius von Schlossers Konzeption – neben Texten auch die Untersuchung der Illustrationen/Bildersammlungen umfassen sollte) zur modernen Forschungsliteratur; umso bezeichnender sind daher Postulate einer neuen, zumeist einen bestimmten Aspekt heraushebenden Herangehensweise – etwa die Anfangssetzung Winckelmanns durch die Stil-Kunstgeschichte oder der ›Neuanfang‹ der Funktions-Forschung in den 1980er Jahren, der mehr oder weniger Burckhardt verschweigt. Wissenschaftsgeschichte, Erforschung der Kunstliteratur, letztlich die Beschäftigung mit allen Sorten von Äußerungen über Kunst, arbeiten daher am gleichen Projekt, sie sind nicht zu trennen. Auch nicht in ihrer selbst erzeugten letztendlichen Begrenztheit: Denn der durch sie vorangetriebene Prozess der Historisierung dürfte zugleich zu einer immer größeren Differenzierung und Entfernung der historischen (Seh-)Horizonte führen (eine positive Selbst-Relativierung, die methodische Vielfalt und geradezu a-historische Ansätze einfordert).

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Konkret könnte dies für die Wissenschaftsgeschichte bedeuten: Wissenschaftsgeschichte soll immer zugleich aktuelle Methodendiskussion betreiben; Wissenschaftsgeschichte könnte als ›epistemische Tiefenarchäologie‹ den Bedingungen von scheinbar wenig veränderlichen Grundannahmen und -begriffen des Fachs nachspüren (Einfluss, Stil, perspektivisches Sehen usw.), wie sie teils ungebrochen seit der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit bestehen; sie sollte eine starke Ausweitung des zugrunde gelegten Bild- und Textcorpus (parallel zur Bildwissenschaft) und damit der Vorstellung von im ›wissenschaftlichen Sehen und Denken‹ relevanten Faktoren betreiben; und zugleich historische Bild- und Text-Argumentationsformen und -Denkmuster in ihren eigenständigen Möglichkeiten und Bedeutungen betrachten (wobei auch die beiden letzten Punkte wiederum bereits für die Kunstliteratur der Frühen Neuzeit zu fordern sind).

Lizenz

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Empfohlene Zitierweise

Pfisterer U.: Palimpseste. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-13 (urn:nbn:de:0009-23-17676).  

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