»Das Museum ([alt]griechisch μουσείο[ν], musío – ursprünglich das Heiligtum der Musen, welche Schutzgöttinnen der Künste, Kultur und Wissenschaften waren) ist eine Institution, die eine Sammlung interessanter Gegenstände für die Öffentlichkeit aufbewahrt und Teile davon ausstellt.«

www.wikipedia.org (2008)

»Das Museum wird vielleicht tatsächlich eine Stätte der interdisziplinären Aktivität werden.«

Joseph Beuys (1980)  [1]

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»Zeichen entstehen durch Unterschiede« notierte Roland Barthes 1964.  [2] Und man könnte heute ergänzen: Unterscheidungen entstehen durch Formen ausgewählter Beobachtungen. Unterscheidungen eröffnen Blicke auf jeweils Neues und vor allem auf die Veränderungen komplexer abstrakter Zusammenhänge. Museen haben an dieser diskursiven Erfahrung der Moderne ihren Anteil. Im Museum lernen wir unterscheidend zu beobachten  [3] – mit anderen Worten, wir verhalten uns, indem wir uns ästhetisch informieren. Das Museum präsentiert sichtbare Objekte in unsichtbaren Kontexten und operiert dabei mit Unterscheidungen, die nur teilweise sichtbar sind: Das Ausgestelltwerden ist eine Art und Weise, in der sich eine Aktivität des Museums manifestiert. In dem Moment, in dem Objekte des profanen Lebens in den Raum des Museums wechseln, verändert sich ihr Status. Aus der Form eines realen Objekts wird ein nicht-profanes Medium: »Die Dinge, die aus der profanen Wirklichkeit ins Museum transportiert werden, werden nicht nur beleuchtet, sondern auch in ihrem Inneren dem Blick entzogen. In der profanen Realität ist es möglich, die Form der Dinge zu zerstören, um zu ihrem Wesen zu kommen. Das museale Kunstwerk verbietet dagegen einen solchen zerstörerischen Umgang mit seiner Form, der den Stoff, aus dem es gemacht ist, entdeckt und freilegt: Der Blick des Betrachters bleibt auf der Oberfläche, die dem Gegenstand selbst als Schutzschild dient.«  [4]

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Ein Museum ist ein nicht-wirklicher Ort, an dem auf spezifische Weise eine Form der Profanierung der Kunstbeobachtung, die kunstbezogene Unterscheidung als eine »Beobachtung zweiter Ordnung« (Niklas Luhmann) realisiert wird: »Ein Museum ist ein Ort, an dem eine Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst hergestellt wird […]. Indem das Kunstwerk ins Museum gestellt wird, ist es weitgehend von der Aufgabe entlastet, die Kunsttradition in sich selbst zu wiederholen, denn diese Aufgabe wird nun vom musealen Kontext übernommen«, erläutert Boris Groys 1997 in Die Logik der Sammlung.  [5] Gegenstände der Kultur und Natur werden im Museum zu fremden, hybriden Objekten: Als Nicht-Kunst werden sie erst hier zu Werken der Kunst. Sie verlieren ihren einst profanen Charakter und verändern ihre historische Funktion, indem die museale Kontextualität ihnen einen eigenen, jeweils konstruierbaren spezifischen Ausstellungswert verleiht. Als Elemente einer Sammlung und als Dokumente der Vision eines Museums wirken sie an der Erzeugung neuer Kontextualisierungsmöglichkeiten mit. Mit der Enthebung der Objekte von allen profanen Funktionen entsteht die Fiktion einer Leere, die durch die Form der musealen Präsentation einen neuen Eigenwert erhält: »Die Leere des musealen Raums strukturiert innerlich die musealen Sammlungen«, beschreibt Boris Groys dieses Phänomen.  [6]

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Jede sichtbare Form einer Präsentation in einem Museum erzeugt gleichzeitig auch ein eingeschlossenes Ambiente eines Unsichtbaren, eine im Inneren des Museums anwesende reflexive Beziehung zum Außen(-raum). Auf diesen können die sichtbaren Objekte allerdings nur indirekt verweisen, was aber nicht heißt, dass die Welt außerhalb des Museums innerhalb dieses Ortes nicht existent wäre. Im Museum existiert buchstäblich Nichts, keine Welt, die nicht beobachtet wird. Aus dem Schauer des Heiligen, mit dem die Autoren der Antike einst die Momente zwischen Schrecken, Horror und drohender Gefahr markierten,  [7] wird im Museum ein Geschehen der funktionalen Differenzierung und der Einheit ihrer Gegensätze.

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Das Museum arbeitet mit der Einheit der Differenz von fiktionaler Form und funktionaler Fiktion. Während in der Form einer Präsentation eine Unterscheidung zwischen einem bestimmten Innen und einem unbestimmten Außen getroffen wird, wird mit der Fiktion von Wirklichkeit, welche diese museale Präsentation erzeugt, eine fiktionalisierte Form von Wirklichkeit erzeugt. Man kann im Museum nichts beobachten, was man nicht auch unterscheiden muss, und man kann die Fiktion im Museum nicht mehr von der Wirklichkeit ihrer beobachteten Objekte unterscheiden.

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Das Museum ist ein sehr spezieller Aufenthaltsort. Es zeigt »unauflösbar Fremdes in der Welt« (Peter Sloterdijk) – im Museum erscheint uns die Welt in seltenen Momenten plötzlich entscheidend anders.  [8] »Der Sinn des Museums liegt nicht in seiner Aktualität, sondern in seiner Alterität. Die Andersartigkeit ist seine wahre Bedeutung.«  [9] Früher repräsentierte ein Museum Geschichte durch die ausgestellten Objekte, heute eröffnet das Museum die Option, durch Beobachtungen von Unterscheidungen Neues zu generieren. Unterscheidungen produzieren grundsätzlich dreierlei: eine Form ihrer Darstellung, eine Fiktion, in der Formen von Unterscheidungen aktiviert werden, und schließlich Variationen, die sich aus der Weise der Neukombination von bestimmten Unterscheidungen ergeben.

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Die Geschichte des modernen Museums beginnt im 18. Jahrhundert und lässt sich letztlich ohne die Geschichte der europäischen Eroberungskriege nicht verstehen. Eines der größten Museen in Europa, das Britische Museum in London, beherbergt heute etwa sechs Millionen Objekte, die die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag dokumentieren. Unter den aus allen Regionen der Erde zusammengetragenen Objekten befinden sich viele einst heilige und Heil versprechende Gebrauchsobjekte – die nun, historisch und systematisch geordnet, als entfunktionalisierte Ausstellungsobjekte benutzt werden. Als musealisierte, ästhetische Objekte besitzen sie einen neuen, bis dahin unbekannten Ausstellungswert – und erweitern damit zugleich ihre ästhetischen Maßstäbe, d.h. die Kriterien ihrer spezifischen Unterscheidungen.

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Mit der Entwendung von ursprünglich in heiligen Kontexten benutzten Objekten begann, so kürzlich Boris Groys, deren moderne Profanierung: Kunst entstehe nachträglich, indem man die vormals heiligen Objekte in Form einer imaginären Schatzkammer, dem Museum, präsentiere und sie damit ihrer ursprünglichen Funktion entfremde, sie damit ästhetisch aufwerte und so neuartige kognitiv-visuelle Erfahrungen generiere. Die Fremdheit  [10] , die Zerstreuung, die Überraschung, die Ambivalenz, die Irritation, die Dekontextualisierung, die Fülle von Komplexität – alle diese Erfahrungen der visuellen Moderne lassen sich heute besonders anschaulich an einem paradoxen Ort machen, der scheinbar außerhalb des Realen, aber innerhalb des Kunstsystems angesiedelt ist: im Museum.

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Der Verlust der ursprünglichen Heiligkeit der ausgestellten Objekte wird dabei durch eine ihnen nachträglich zugeschriebene Fiktion von Einzigartigkeit, ihre Aura, die im und mit der einzigartigen Präsentation im Museum entsteht, wieder hergestellt. Mit der Nutzung ursprünglich kunstloser, industriell hergestellter Objekte – ready-mades – im Museumsbereich ersetzte Marcel Duchamp die Frage nach dem Status von Kunst durch die Produktion ihres unwahrscheinlichen Gegenteils: Er stellte die grundsätzliche und doch sehr nahe liegende Frage nach der Entstehung und gezielten Herstellung von Nicht-Kunst im Kontext von Museumskunst, mit anderen Worten die Frage nach der historischen Differenz zwischen einer entheiligten Form der Kunstbeobachtung und einem als profan erfahrenen Alltagsobjekt – mit wiederum anderen Worten: die Frage nach der paradoxen Natur von Nicht-Kunst.

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Zwischen Kunst und Nicht-Kunst ist im Museum genau genommen nicht mehr zu unterscheiden – und doch müssen wir beobachten, was wir dort erkennen können. Im Museum wird unterschieden: zwischen Formen, die durch historische Unterscheidungen entstanden sind (z.B. Kunst/Nicht-Kunst) und den Fiktionen, die durch die Beobachtung ›alter‹ Unterscheidungen in Formen ›neuer‹ Unterscheidungen differenziert werden. Das Bild und die Substanz des Sakralen, die das Museum immer auch produziert, verändern sich unter dem Blick dessen, der mit der Funktion der Beobachtung experimentiert; zum Beispiel, indem er die historischen Differenzen zwischen profan/nicht-profan („heilig“) und beobachten/unterscheiden neu miteinander kombiniert: Das Profane der Dinge kann nun auch als Form ästhetisch beobachtet werden, Nicht-Profanes kann auch im Rahmen des Museumskontextes in seiner jetzt denkbar gewordenen Unterscheidung zwischen Beobachtung und Selbstfiktionalisierung unterschieden werden. Kunst erscheint hierdurch als entheiligte und als geformte Nicht-Kunst; Nicht-Kunst kann im Rahmen eines offenen Kunstkontextes als Form einer nachträglichen Heiligung von Materialien/Objekten wahrgenommen werden.

Hans Schabus: Next Time I´m Here I´ll Be There, 2007, The Curve/Barbican Art Gallery, London

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Mit Duchamps’ Begriff von Nicht-Kunst wird heute der Beobachtungszwang, dem Kunst unterliegt, erneut verschärft: Grundsätzlich kann die Geschichte der (postmodernen) Kunst auch als Geschichte der aus der Institution Kunst ausgeschlossenen Nicht-Kunst betrachtet werden. Das Museum funktioniert als Institution unter anderem deswegen so erfolgreich, weil es in gewissem Sinne ein sozial hochgradig anerkannter Nicht-Ort ist, ein Ort, der eigene und fremde Fiktionen einsehbar macht, ein unkontrollierbares Aufmerksamkeitslabor, in dem in erster Linie einzigartige Beobachtungen zu Kunst-Beobachtungen produziert werden (und in zweiter Linie natürlich auch reale Wertsteigerungen erzielt werden). Mit anderen Worten: Das Museum ist ein Ort der Gegenwart, der zwei funktionale Instanzen ästhetisch aufeinander treffen lässt: die ästhetische Kommunikation, mit der das Beobachten von Kunst beobachtet wird, und den Ort einer Sammlung von Objekten, die weder als heilig noch als restlos profaniert betrachtet werden können. Als ein Ort, an dem nichts produziert wird, außer dass man sich dort gezielt den Luxus von Neuem, von komplexer Selbstirritation und -beobachtung gönnt, ist das Museum ein Raum, der als Ikone der (westlich-kapitalistischen) Kultur in der Gesellschaft als Spiegel ihrer unbewussten Realität funktioniert.

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Kunst informiert – indem sie überrascht. Eine Beobachtung unterscheidet – indem ihre aktuelle Komplexität durch eine andere, noch zu entdeckende Form der Formulierung ersetzt wird. Im Museum existiert Gegenwart in eigentümlicher Weise in einer gespaltenen Form. Indem der Betrachter versucht, sich ein Bild von der Welt in der Welt des Museums zu machen, produziert er eine museale Eigenzeit, in der wir »zurückschauend auf die aufgegangene und ausgestellte Welt und vorausblinzelnd in ein Alles ermöglichendes Nichts« (Peter Sloterdijk) uns selbst erkennen.  [11] Im Museum gehen die Zeiten ineinander über: Die funktionale Gegenwart der Objekte wird uns zu einem Bild, das uns als eine (noch) unwahrscheinliche Zukunft erscheint. Wo sind wir, wenn wir in einem Museum eine andere Welt erblicken?

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Formulieren wir eine bislang ausgeschlossene Position von drei miteinander kommunizierenden Aktivitäten: Der Künstler übersteigert die Profanierung von Kunst bis zur Dokumentation ihrer Kunstlosigkeit und erschafft dabei nicht-profane Dinge, die im Laufe der Zeit eine museale Kontextualisierung erwarten. Das Museum ermöglicht die Beobachtung der Einheit von sich ausschließenden Referenzen: Es macht die funktional verwendbaren, entheiligten, nicht-profanen Objekte der Nicht-Kunst  [12] kombinierbar mit der Aura einer ästhetischen Sakralisierung von Kunstobjekten und provoziert deren spätere Vergleichbarkeit. Der Beobachter schließlich wird dem Künstler ebenbürtig, indem er, weil er »selektiert, fragmentiert und kombiniert, das Gleiche tut wie der Künstler«.  [13] Der Unterschied zwischen beiden entsteht, wie Boris Groys zu Recht betont, durch den Ort des Geschehens: Während der private Raum für gewöhnlich nicht als Ort der Kunst gilt, ist das Museum ein Ort, an dem sich Privates und Öffentliches, das Private im Öffentlichen und das Öffentliche des Privaten überschneiden.

Bildnachweis

Lyndon Douglas, London



[1] Joseph Beuys: Das Museum – ein Ort der permanenten Konferenz, in: Notizbuch 3. Kunst. Gesellschaft. Museum, hg. v. Horst Kurnitzky, Berlin 1980, S. 47-74, hier S. 56.

[2] Roland Barthes: Die Machenschaften des Sinns [zuerst erschienen 1964], in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 165-167, hier S. 166.

[3] ›Beobachten‹ wird hier mit Niklas Luhmann durchgängig als systemintern erzeugte Aktivität verwendet: »Alles Beobachten, sei es als Wahrnehmung oder als Denkleistung oder als Kommunikation, setzt ein unbezeichnet mitwirkendes Unterscheiden voraus. Der Beobachter kann sein Instrument […] nicht beobachten, also auch sich selbst nicht in Operationen beobachten. Aber es gibt eine Beobachtung zweiter Ordnung, die genau darauf achtet, wie (mit welcher Unterscheidung) ein Beobachter beobachtet. Und das gibt uns den Schlüssel für die Auflösung der Paradoxie des Unsichtbarmachens durch Sichtbarmachung der Welt. Denn ein Beobachter zweiter Ordnung kann sehen, das der Beobachter erster Ordnung nicht sehen kann, was er nicht sehen kann.« Zitiert nach Niklas Luhmann: Wahrnehmung und Kommunikation an Hand von Kunstwerken, in: ders.: Schriften zur Kunst und Literatur, hg. v. Nils Werber, Frankfurt 2008, S. 246-258, hier S. 251.

[4] Boris Groys: Die Logik der Sammlung, München 1997, S. 16.

[5] Groys 1997 (wie Anm. 4), S. 10.

[6] Groys 1997 (wie Anm. 4), S. 38.

[7] Walter Burkert: Heiliger Schauer. Biologische und philologische Blicke auf ein Phänomen der Religion, in: Neue Zürcher Zeitung, 13. September 2008, siehe
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/heiliger_schauer_1.830444.html .

[8] Peter Sloterdijk: Museum – Schule des Befremdens (1989), in: ders.: Der ästhetische Imperativ, Hamburg 2007, S. 354-370, hier S. 367.

[9] Vgl. auch Hans Belting: Das Museum: ein Ort der Reflexion, nicht der Sensation, in: ders.: Szenarien der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen, Hamburg 2005, S. 241-266, hier S. 252.

[10] Vgl. Peter Sloterdijk: Museum – Schule des Befremdens (1989), in: ders.: Der ästhetische Imperativ, Hamburg 2007, S. 354-370.

[11] Sloterdijk 2007 (wie Anm. 8), S. 397.

[12] Wolfgang Ullrich: Was ist Nicht-Kunst?, in: ders.: Gesucht Kunst! Phantombild eines Jokers, Berlin 2007, S. 251-289.

[13] Boris Groys: Installierte Betrachter, in: ders.: Die Kunst des Denkens, Hamburg 2008, S. 201-220, hier S. 215.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Kröger M.: Nicht-wirklich. Wo sind wir, wenn wir im Museum sind?. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2008-9 (urn:nbn:de:0009-23-16885).  

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Kommentare

  1. Kampmann, Sabine | 26.08.2009

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