Die Sprache der Kunst

Die Grammatik als Basiswissen und Referenzmodell

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Bereits der antike Redelehrer Quintilian (ca. 35-95 n. Chr.) lobte die Grammatik als »unentbehrlich für die Jugend« und als einen »lieben Begleiter in stillen Stunden«, und zeichnet diese explizit unter allen Gebieten des Studiums als eine Disziplin aus, die »mehr leistet als vorstellt«.  [2] Als ein Lehrgerüst zum Erlernen einer schönen und überzeugenden Rede kann im übertragenen Sinne auch das Erlernen einer an der Antike orientierten Form einem Künstler beim Schaffen eines Werkes sicheren Erfolg bescheren und die Begeisterung vieler hervorrufen. Der einsichtsvolle Gebrauch des antiken Formgutes ist ein epochenübergreifendes Gestaltungsmittel, das einem neugeschaffenen Werk eine gewisse Autorität verleiht und die Künstler untereinander in eine um Anerkennung suchende Konkurrenzsituation stellt. Es überrascht daher wenig, dass sich in den kunsttheoretischen Schriften von Peter Paul Rubens und Sir Joshua Reynolds Motive einer ›Grammatik‹ antiker Skulpturen finden lassen.

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Der renommierte Porträtmaler Sir Joshua Reynolds rekurriert als Festredner und Präsident der Royal Academy in seinem zehnten Diskurs, dem so genannten Discourse on Sculpture (1780), auf Gestaltungsprinzipien bei der Anfertigung einer Bildhauerarbeit, die er aus der Redelehre übernommen hat. Er spricht hierbei von imitatio als »means«, d.h. als Mittel – und nicht als Selbstzweck –, und betont konkret die Sprache eines Bildhauers bei der künstlerischen Umsetzung seiner Ideen:

»Imitation is the means, not the end of art; it is employed by the sculptor as the language by which his ideas are presented to the mind of the spectator. Poetry and elocution of every sort make use of signs, but those signs are arbitrary and conventional. The sculptor employs the representation of the thing itself; but still as a means to a higher end – as a gradual ascent always advancing towards faultless form and perfect beauty.«  [3]

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Peter Paul Rubens verfasst nach seinem Aufenthalt in Italien (um 1610) eine Abhandlung in lateinischer Sprache über die Nachahmung von Statuen  [4] , in der er eine umfangreiche Kenntnis und zugleich eine sensible Auseinandersetzung mit antiker Skulptur als notwendige Voraussetzungen für eine nach höchster Vollkommenheit strebende Malerei ansieht. Rubens’ Grundgedanken zur praxisorientierten Ausbildung eines Künstlers weisen hier voraus auf Reynolds’ Akademierede. In der posthum publizierten Übersetzung von Roger de Piles argumentiert der flämische Barockmaler:

»Il y a des Peintres à qui l’imitation des statues antiques est très utile, et à d’autres dangereuse jusqu’à la destruction de leur art. Je conclus néanmoins que pour la dernière perfection de la Peinture, il est nécessaire d’avoir l’intelligence des antiques, voire même d’en être pénétré, mais qu’il est nécessaire aussi que l’usage en soit judicieux, et qu’il ne sente la pierre en façon quelconque.«  [5]

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Die ähnliche Rezeptionshaltung der beiden Künstler in Bezug auf das angesprochene Grammatikmodell soll Gegenstand der folgenden Diskussion über den kanonischen Wert antiker Skulptur für die neuzeitliche Kunstproduktion sein. In Rubens’ Wortwahl erkennt man sein ›absorbierendes‹ Verhältnis zu den Antiken, die den normativen Bezugspunkt einer aemulativen Nachahmung bilden. In seiner Warnung vor der »Zerstörungskraft« des steinernen Materials – gemeint ist die Nachahmung des Marmors anstelle von Fleisch – verbirgt sich auch der Topos der vivacità, den Reynolds indirekt als Gratwanderung perfekter Schönheit erneut problematisieren sollte.  [6]

Rhetorisierung der Kunsttheorie

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Von der Kunst der Bildhauerei im Sinne einer ›Grammatik‹ zu sprechen, geht auf den französischen Kunsttheoretiker Roger de Piles (1635-1709) zurück, der in seinen Conversations sur la connoissance de la peinture von 1677 den Bildhauer mit einem Grammatiklehrer vergleicht, während der Maler, der die Grundlagen der Grammatik selbstverständlich ebenfalls beherrschen müsse, einem Redner entspreche:

»Le Peintre est comme l’Orateur, & le Sculpteur comme le Grammerien. Le Grammerien est correct & juste dans ses mots, il s’explique nettement, & sans ambiguité dans ses discours, comme le Sculpteur fait dans ses Figures, & l’on doit comprendre facilement ce que l’un & l’autre nous représentent. L’Orateur doit estre instruit des choses que scait le Grammerien, & le Peintre de celles que scait le Sculpteur. Elles leurs sont à chacun nécessaires pour communiquer leurs pensées, & pour se faire entendre: mais & l’Orateur, & le Peintre, sont obligez de passer outre. Le Peintre doit persuader les yeux comme un homme Eloquent doit toucher le cœur.«  [7]

<6>

Eine grundsätzliche Verwandtschaft rein praktischen Ursprungs der beiden Schwesternkünste geht nun mit de Piles’ Folgerung einher, dass Redner und Maler zwar abhängig sein mögen von der Grammatik oder der Zeichnung, der Bildhauer hingegen allein und gänzlich von einer guten Zeichnung ausgehen müsse. Redner und Maler sind also freier in der Ausübung ihres Werkes, sie können Ornamente einfügen, müssen überzeugen und wollen schmeicheln.

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Die enge Verwandtschaft von Pictura und Sculptura, mit der gemeinsamen praktischen Wurzel in der Zeichnung, wurde bereits seit dem Quattrocento in den Schriften von Cennino Cennini (ca. 1370-1440), Filarete (ca. 1400-1469), später Michelangelo (1475-1564), Benedetto Varchi (1502-1565) und schließlich Baldassare Castiglione (1478-1529) konstatiert. Das theoretische Primat der Zeichnung fand durch Giorgio Vasari (1511-1574) Eingang in die Kunstlehre des Cinquecento.  [8]

<8>

Interessanterweise wurde das von de Piles beschriebene Grammatikmodell ursprünglich im Zusammenhang mit der Kunst Andrea Mantegnas (1431-1506) verwendet. Der oberitalienische Maler ist durch seine beinahe sklavische Anbindung an die Skulptur der Antike in seinen charakteristischen monochromen Figuren bekannt. Folgt man nun den Aussagen des Lütticher Malers und Antiquars Lambert Lombard (1506-1566), so zeige Mantegna eher gemalte Skulpturen als lebende Figuren in seinen Bildern.

1-2 Andrea Mantegna: Triumph Cäsars, ab 1486, Tafel IV und V, Öl auf Leinwand, 274 x 274 cm, Königliche Sammlungen Hampton Court, Herefordshire

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Lombard benannte – so sein Biograph Domenicus Lampsonius (1532-1599) in der Vita von 1565 – die Regeln, die er in Mantegnas Werk aus der Antike abgeleitet sah, als ›Grammatik‹ und bemerkte dabei die eklatante Nichtbeachtung der Farbharmonie und den steinernen Effekt, der – laut Lombard – weniger dienlich sei. Mantegnas Kunstfertigkeit in der ›Petrifizierung‹ seiner Figuren sollte in der Folgezeit insbesondere von Rubens eingehend studiert werden. Tatsächlich hat bereits Mantegna einen künstlerischen Beitrag zur späteren Paragone-Diskussion geliefert, auf die noch näher eingegangen wird.

Grammatik im Kontext des künstlerischen Sprachdiskurses

Rubens’ Lehrschrift De imitatione statuarum

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Die zunächst nur lose erscheinende Verbindung zwischen den kunsttheoretischen Reflektionen von Roger de Piles und Lambert Lombard über das Wesen der Skulptur und die von den Antiken überlieferte Grammatik der Form, Proportion und Schönheit kann bei genauerer Betrachtung als ein Schlüssel zum Verständnis von Rubens’ Umgang mit Skulptur, im Besonderen seines Verhältnisses zu den Antiken begriffen werden. So proklamiert Rubens in seiner Abhandlung De imitatione statuarum ausführlich eine Praxis idealisierender Nachahmung empfehlenswerter Statuen (insbesondere des Altertums)  [9] als Wurzel jeder lebensnahen und lebendigen (Historien-)Malerei. Er spricht von der Notwendigkeit, eine Kenntnis der Antiken zu haben, von denselben geradezu durchdrungen zu sein (»être pénétré« bzw. »immo imbibitionem« im lateinischen Quelltext). Er orientiert sich hierbei vorrangig an der von der antiken Redelehre abgeleiteten zeitgenössischen Kunsttheorie, die eine das jeweilige Vorbild in eine künstlerische inventio aufnehmende Nachahmung mit der damals gängigen Praxis des Exzerpierens in Analogie setzt.  [10] Die einzelnen kunstpraxisorientierten Passagen seiner Abhandlung sind demnach genau genommen schon vor Rubens sämtlich in der Kunsttheorie diskutiert worden, so etwa das warnende Gegenüber von lebensnaher Malerei und lebloser Skulptur oder das Verbot einer sklavischen Kopie:

»Il est constant que les statues les plus belles sont très utiles, comme les mauvaises sont inutiles et même dangereuses: il y a de jeunes Peintres qui s’imaginent être bien avancés quand ils ont tiré des ces figures je ne sais quoi de dur, de terminé, de difficile et de ce qui est plus épineux dans l’anatomie, mais tous ces soins vont à la honte de la nature, puisque, au lieu d’imiter la chair, ils ne représentent que du marbre teint de diverses couleurs.«  [11]

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Die originelle Neuerung bei Rubens findet sich in der dichten und konsequenten Kombination älterer kunstpraktischer Empfehlungen, die er in genau jene Reihenfolge bringt, in der er sie beim Malen selber beachtet. Rubens bezieht sich hier auf rhetorisch-kunsttheoretische Topoi, an denen sich seit Jahrhunderten in immer neuen Variationen kunsttheoretische Positionen haben klären lassen und die demnach auch seiner Position Verständlichkeit und Autorität garantieren. Eine topische Quelle jedoch, jene von der Realisierung der vivacità in der Figurenmalerei, ist im Hinblick auf Rubens’ Kontrastpaar von lebendiger Malerei und leblosen Statuen besonders auffällig. Sie führt uns zurück auf die eingangs erwähnte ›Grammatik‹ der Antiken. In der Biographie des Lambert Lombard von 1565, von der sich ein Exemplar unter den Lehrschriften des jungen Rubens nachweisen lässt, findet man die für seine spätere Abhandlung grundlegende Forderung, bei der Verarbeitung der antiken Skulpturen im Gemälde nicht bemalte Statuen zu zeigen, sondern eine vollständig koloristische Transformation der Bildwerke zu bewerkstelligen.  [12] Rubens’ unmissverständliche Warnung an den unerfahrenen Maler, nicht ›Stein‹ nachzuahmen, verweist dabei zurück auf Mantegna und dessen antike Formsprache.  [13]

3 Peter Paul Rubens: Römischer Triumphzug, nach Mantegna, um 1630, Öl auf Leinwand, 86,8 x 163,9 cm, London, National Gallery

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Es darf daher mit Recht gefragt werden, ob Rubens nicht aus der Vita des Lombard richtungweisende Anstöße für seine eigene künstlerische Beschäftigung mit Mantegna gefunden hat, wird dieser doch im Text dreimal ausdrücklich als Vorbild Lombards genannt. Jene Kritikpunke jedoch, die Lombard in Bezug auf die steifen und hart gemalten Figuren von Mantegna anführte, werden auch in Rubens’ Abhandlung über die Nachahmung der (antiken) Statuen thematisiert und als zentrales Leitmotiv stilisiert. Rubens’ Römischer Triumphzug zeigt deutlich, wie die antike Formsprache in der Nachfolge von Mantegnas Triumph Cäsars fortgeführt werden kann (Abb. 1-3).

<13>

So ist in der Vita von Lombards charakteristischer Praxis des Antikenstudiums zu lesen. Sie wird von Lampsonius als eine kluge Verbindung von analytischer Betrachtung und Zeichnung, als eine theoretische und praktische Herangehensweise ›ad fontem‹ formuliert, als ein induktiver Schritt von den besten Meistern der italienischen Renaissance zurück zu ihren Ausgangspunkten. Dieses zentrale Leitmotiv in der Beschäftigung mit der Antike klingt auch in Rubens’ Abhandlung an, was die Vermutung erhärtet, dass Rubens die Vita Lombards nicht nur gut bekannt war, sondern er auch die Kritikpunkte zu verstehen wusste. Meister Lombard war in seinem Antikenstudium darauf bedacht gewesen, so formuliert es Lampsonius, »eher aufmerksam betrachtend, zu seiner eigenen geistigen Klärung, in die Statuen einzudringen als sie in schulmäßigem Eifer nachzuahmen«.  [14] Jedoch, dies wird explizit hervorgehoben, habe Lombard das Kopieren nicht vernachlässigt und bei dieser Analyse entdeckt, dass in den Antiken »mehr dauerhafte und bis zur Nagelprobe vervollkommnete Kunstfertigkeit angelegt und verborgen war«, die er eben als »Grammatik« oder »Lebenskraft der Kunst« bezeichnet habe.  [15] Dabei erwarb er sich in der imitatio exemplarischer Antiken die Essenz der klassischen Kunst, die er zu einer fundierten Wissenschaft ›destillierte‹. Von dieser Wissenschaft als Grammatik zu sprechen gibt also an, dass es sich um sichere Regeln handelt. In der Tat vermittelt die Grammatik als erste und unterste der Freien Künste des Triviums das unumgängliche Basiswissen. Rubens, der sich seinerzeit für seine Italienfahrt rüstete, musste also in der Vita von Lombard wichtige praktische Anregungen finden.

<14>

Die Nuancenverschiebung zwischen Lombard und Rubens besteht allerdings darin, dass letzterer in seinem Verhältnis zur Antike einen Schritt weiter ging und über die historiographische und akademische Einstellung des ersteren hinweg eine neue, im besten Sinne naive, anschaulich-künstlerische Beziehung zu den antiken Statuen pflegte. Er blickte unmittelbar auf die Bildwerke, ohne die Umleitung über die Meister der Renaissance, als Quelle aller vollkommenen Kunst. So betrachtet Rubens die Skulpturen der Alten als Modelle einer längst vergangenen, durch gymnastische Zucht und Übung hervorgebrachten, von allen Unreinheiten und Zufälligkeiten gesäuberten Natur. Diese ›Grammatik‹  [16] oder Formlehre der antiken Bildwerke schließlich, die behutsam in den eigenen Bildfindungsbereich übertragen werden müsse – als Wörter- oder Regelbuch jener Geheimnisse von Perfektion –, könne, wie Rubens in der Nachfolge von Lombard schreibt, durch das Kopieren und Studieren der antiken Statuen zu einer der Inkarnatmalerei dienlichen Malkunst werden. Meister Mantegna erscheint in diesem Zusammenhang als ein Künstler, der in einer sklavischen Anbindung an die Antike genau jene Haltung eingenommen hatte, vor der Rubens (in noch stärkerem Maße als Lombard) warnt.

<15>

In seiner Abhandlung betont Rubens, dass eine genaue, streng genommen normative Kenntnis der Antiken für Anfänger wie auch für den arrivierten Meister destruktiv sein könne, denn jene ›Grammatik‹, d.h. die von den Antiken erlernten Regeln, dürften keineswegs im Gemälde »nach dem Stein schmecken« (»qu’il ne sente la pierre en façon quelconque«). Rubens fordert daher nicht nur eine eingehende, grundlegende Kenntnis der Antiken, sondern spricht sich zusätzlich für die Schulung der Fähigkeit aus, die nützlichen Statuen von den schlechten zu unterscheiden. Nur dann könne man in der Praxis einen wohlüberlegten Gebrauch von diesen Kenntnissen machen, damit man schließlich wirkliches Fleisch, wahrhaftige Körper, nicht Stein, nachzubilden vermöge:

»Car l’on voit des Peintres ignorants et même des savants qui ne savent pas distinguer la matière d’avec la force, la figure d’avec la pierre, ni la nécessité où est le sculpteur de se servir du marbre d’avec l’artifice dont il s’emploie.«  [17]

Ein Künstler finde durch Studien, Skizzenpraxis und behutsames Vermeiden jener rauen Materialhaftigkeit der Statuen zu eigenen Bildlösungen, die sich nicht sklavisch an das Vorbild halten. Auf gleiche Weise verfasse ein Redner eine grammatikalisch korrekte, angemessen ausgeschmückte und wohlklingende Rede.

4 Peter Paul Rubens: Herkules überwindet die Zwietracht, 1615-1622, Kreidezeichnung, 47,4 x 32 cm, London, British Museum

5 (nach) Peter Paul Rubens: Studien zum Herkules Farnese, vor 1720, Zeichnung, 19,6 x 15,3 cm,
London, Courtauld Institute Galleries, Ms. Johnson, fol. 281v (aus dem Theoretischen Skizzenbuch, fol. 40v)

<16>

Das Qualitätskriterium der vivacità als medienspezifische Eigenschaft der Malerei geht über die Grammatik hinaus und bedeutet nicht stures Befolgen einer Regel. Die Antiken als ›Grammatik‹ für den Maler stellen demnach für Rubens geschichtliche Zeugnisse jener noch nicht degenerierten Natur dar, die obzwar durch die leblose Materie des Steins vermittelt, durch einen einsichtsvollen Gebrauch eine vortreffliche Formsprache konservieren, deren Schönheit extrahiert bzw. übersetzt für die Bildsprache der Neuzeit dienlich gemacht werden könne. Rubens eigene Rezeptionsarbeit zum Herkules Farnese veranschaulicht diese behutsame Lernphase und die jeweiligen Zielsetzungen (Abb. 6).

6 Peter Paul Rubens: Heiliger Christophorus, 1614, Ölskizze zum Kreuzabnahme-Altar (linker Außenflügel) in der Antwerpener Liebfrauenkathedrale, 77 x 68 cm,
München, Alte Pinakothek

<17>

Die originelle Wende in Rubens’ Abhandlung findet sich also insbesondere in der Betonung dieser ›Übersetzungsarbeit‹, die er mit dem selektiven Ablauf der imitatio verknüpft. Rubens’ Studien zum Herkules Farnese (Abb. 4-5) zeigen, wie eine behutsam erlernte ›Grammatik der Antiken‹ Anwendung finden kann: Sie dient dem Maler als Basiswissen und wird nicht um ihrer selbst willen erlernt. Diese Kontrastierung von lebendiger Malerei und lebloser Materie findet sich in abgemilderter Form auch in Reynolds’ Discourse on Sculpture (1780), in dem der Maler Fragen zum Wesen und den Materialeigenschaften der Skulptur zu beantworten sucht. Insbesondere seine eingangs apodiktisch platzierte These, dass die leitenden Prinzipien der Skulptur von jenen der Malerei umfasst werden, erinnert wieder an Roger de Piles’ Vergleich von Maler und Bildhauer mit dem Analogiepaar Redner und Grammatiklehrer. Es ist hierbei zu bedenken, dass Roger de Piles die Grundlagen der Malkunst anhand von Rubens’ farbgewaltigen Bildwerken erläuterte und die Rubenschen Werke wie die Schriften von de Piles Reynolds gut bekannt waren. Die eingangs zitierte Passage aus Reynolds’ Akademierede soll nun näher analysiert werden.

Die akademische Sicht – Reynolds und die Frage nach dem Wert der Eloquenz

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Reynolds sieht, ähnlich wie de Piles, in der Malkunst mehr Ansatzpunkte für Kritik als in der Bildhauerei, da sie viel umfangreicher und komplexer und daher schwieriger zu behandeln sei als die Kunst des Bildhauers. Dabei folgt er de Piles auch in der Einsicht, dass die Essenz jeder Skulptur »correctness« sei und daher ihre Grundlage von einer guten Zeichnung beziehe.  [18] Auch Reynolds’ Grundgedanken zum Wesen der Skulptur decken sich mit denen, die bereits de Piles geäußert hat. Laut Reynolds ist die Skulptur eine Kunstform, die eine größere Schlichtheit und Gleichförmigkeit als die Malerei hervorbringt. Bei de Piles liest man von »netteté« (im Sinne von Deutlichkeit, Klarheit), einem leichten Verständnis und dem absoluten Wert der guten Zeichnung. Die Materialproblematik, an die die Unterschiede zur Malerei in der Praxis geknüpft sind, lässt Reynolds zu dem Schluss kommen, dass, obgleich geschwisterlich vereint, die Skulptur im Gegensatz zur Malkunst nur in einem Stil ausgeübt werden könne. Dieser Stil, in dem ein Bildhauer seine Bildidee darlegt, zeige die Dinge und Zeichen – man denke hier an die fehlerfreie Grammatik einer Sprache – so, wie sie in ihrer schlichten Form und ihrem gleichförmigen Charakter sind. Da die Grenzen von »perfect beauty«  [19] in der Bildhauerkunst bereits in der Antike abgesteckt worden seien und sich somit als dauerhafte Regeln zeigten, wird auch Reynolds ein Wortführer dieser von der antiken Skulptur erlernbaren Grammatiklehre. Die wenigen Skizzen, die Reynolds während seiner Studienzeit in Italien nach antiken Statuen angefertigt hat, lassen eine mit Rubens vergleichbare behutsame ›Übersetzungsarbeit‹ erkennen. Der ›borrowed attitude‹  [20] liegt offenkundig eine reife Urteilskraft zugrunde. Die Studienreihe zur so genannten Thusnelda zeigt auf, wie eine behutsam angewandte ›Grammatik‹ der antiken Skulptur die eigenen Bildfindungen ausschmücken kann (Abb. 7-11).

7 Römische Gefangene (Thusnelda), 2. Jh. n. Chr., Florenz, Loggia dei Lanzi

8 Sir Joshua Reynolds: Skizze zur sog. Thusnelda, um 1751/52,
Bleistiftzeichnung, 22 x 17 cm, in: Sketch and notebook made in Italy, Bd. 32, fol. 35r,
London, Sir Soane`s Museum

9 Sir Joshua Reynolds: Skizze zur sog. Thusnelda, um 1751/52
Bleistiftzeichnung, 17,9 x 12,1 cm, in: Herschelalbum, fol. 70r,
London, Royal Academy of Arts


10 Sir Joshua Reynolds: Mary, Duchess of Ancaster, 1763-1764,
Öl auf Leinwand, 85 x 61 cm,
Norfolk, Houghton Hall

11 Sir Joshua Reynolds: Bildnisstudie einer jungen Frau (A Pensive Young Woman), um 1765,
Öl auf Leinwand, 76,5 x 63 cm,
Wien, Kunsthistorisches Museum

<19>

Es bleibt nur noch der Aspekt offen, der die Eloquenz der Malerei und deren Ziele betrifft. Dieser nun führt uns direkt zu Reynolds und seiner kunsttheoretischen Stellungnahme, die ich in Bezug zu Rubens’ lateinischer Lehrschrift setzen möchte. In einem früheren Diskurs, in dem Reynolds über die Grundlagen und Ziele der inventio reflektiert, geht er auf die Kräfte ein, die bei der praktischen Ausübung einer künstlerischen Tätigkeit bemüht werden. Diese Kräfte umschreibt er als »Sprache der Maler« oder »Sprache der Malkunst«, die zur Überzeugungskraft eines Kunstwerkes beitragen und nicht um ihrer selbst willen bemüht werden.  [21] Worte sollen als Mittel oder Instrument benutzt werden, denn es sei nichts als dürftige Beredsamkeit, zeige der Redner nur, dass er reden könne. Sieht de Piles die Überzeugungskraft als oberstes Ergebnis einer Rede oder eines Bildes, so mag Reynolds die Sprache, die Eloquenz, nur als Mittel zum Zweck eingesetzt sehen, nicht als Endprodukt, sondern im Dienste einer Idee. Die visuelle Kraft bei de Piles wird bei Reynolds durch die belehrende Wirkung relativiert. Die Grammatik bleibt als Grundlage unangetastet, nur die konkrete Aufgabe des Malers verändert sich: Eloquenz ist für Reynolds nicht das bestimmende Charakteristikum von Kunst, denn schöne Worte allein um ihrer selbst Willen angewandt können seiner Ansicht nach nicht überzeugen. Vielmehr sollen sie überleiten zu einem intellektuellen Zugewinn des Betrachters. Die Sprache der Maler führt also bei Reynolds zu »conviction«, die im Dienste einer Idee ausgeübt werden muss, wobei sich die unterschiedlichen Sprachstufen in verschiedene Schulen, Stile oder Arten unterteilen lassen. Die Sprache nun, in der ein Bildhauer seine Ideen ausdrückt, führt zu einer schönen Form und vollkommener Schönheit und hat im Gegensatz zur Malkunst nur eine Sprachstufe oder einen Stil.

<20>

Hier erkennt man nun die Reynoldssche Korrektur von de Piles und seinem aus der Redelehre entwickelten Analogiepaar. Ihm geht es im Gegensatz zu de Piles nicht um ein leichtes und deutliches Erschließen oder Verstehen einer Skulptur auf der einer Seite, und auch nicht um das den Augen schmeichelnde und überzeugende Gemälde auf der anderen Seite. Es sind vielmehr die Sprachstufen, die Reynolds gepflegt und sorgsam getrennt sehen möchte.

<21>

So spricht Reynolds auch in Bezug auf den flämischen Meister von der »faszinierenden Kraft seines Pinsels«, die auf den ersten Blick, in erster Instanz sozusagen, durch die schiere Prachtentfaltung des Kolorits den Betrachter überwältige und gar die besten Meisterwerke der italienischen Schule in den Schatten stelle.  [22] Hierbei ist eben doch von einer Eloquenz die Rede, die alles vor sich niederdrückt und oft, über einen höheren Zugewinn an höherer Weisheit und Gelehrsamkeit triumphierend, großen Applaus erhalte. Auf den ersten Blick muss es überraschen, dass sich einige Argumente aus Reynolds’ Diskurs über Skulptur mit denen decken, die bereits Rubens geäußert hatte, findet sich doch augenscheinlich eine Kluft zwischen Rubens’ Eloquenz, die Pracht entfaltet und zu blenden vermag, und Reynolds’ mittelbarer Sprache der Malkunst, deren Worte überzeugen ohne zu verblenden. Der Schlüssel zur Erklärung dieser Argumentationsmodelle findet sich im einsichtsvollen Gebrauch antiker Statuen, so wie Rubens dies in seiner Abhandlung beschreibt und wie Reynolds eine sorgfältige Studienpraxis der Antike als einzige gangbare Methode vorschlägt, um den langen und mühsamen Weg der Lehrzeit zu verkürzen.  [23]

Epilog

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Die eigene Kunstsprache und der graduelle Übergang der eigenen Kunstfertigkeit von einer wörtlichen, dann paraphrasierenden und exzerpierenden, schließlich aemulativen  [24] , d.h. das Vorbild übertreffenden Praxis entsprechen der Ausbildung zum Redner, der zuallererst die Grundlagen der Grammatik beherrschen muss. So wie Rubens die in die eigene Praxis überführte Reihenfolge der einzelnen Lernphasen beschreibt, so findet sich bei Reynolds dieselbe Abfolge von Antikenstudium, Beginn von eigenen Kompositionen und schließlich Übungen in der Farbgebung. Interessant ist nun die Vorgehensweise, durch die beide zu ihren Urteilen gelangen. Rubens als Maler bespricht die Nachahmung von Statuen in der Malerei, er kann dabei aus der eigenen Praxis berichten und die Probleme bei der Übertragung von dem einen Medium in das andere aus eigener Erfahrung darlegen. Reynolds spricht als Maler und als Festredner vor der Royal Academy in seinem Discourse on Sculpture über eine ihm aus der Praxis unbekannte Kunstform, deren Gestaltungsprinzipien er von der Malkunst ableitet. Er stellt somit in umgekehrter Folge, eingedenk seiner eigenen Erfahrungen aus dem Antikenstudium, Fragen, die er in Beziehung zur Malerei setzen kann. Insbesondere die Materialproblematik und die daraus resultierenden gattungsspezifischen Eigenarten und Grenzen der Schwesternkünste sind für beide Maler feste Bezugspunkte. Hinzu kommt Reynolds’ im Zusammenhang mit der Sprachstufe des Bildhauers proklamierte Prämisse, dass Nachahmung nicht um ihrer selbst willen geschehen solle. Dies führt uns zurück zu Rubens, der sinnverwandt eine Malerei sehen möchte, die keineswegs nach dem Stein schmecken solle. Schließlich findet sich in beiden Texten das normative Regelwerk, die ›Grammatik‹, antiker Skulptur, das die geistige Verwandtschaft der beiden Künstler zum Vorschein kommen lässt und dessen Gesetze die Kommunikation zwischen den Künstlern und im Verhältnis zum Betrachter bestimmen.

<23>

Gleich einem Redner, der eine grammatikalisch korrekte Rede hält, wird also auch ein Maler, der die anatomisch korrekte Formsprache der Antiken beherrscht, Applaus erhalten. Bereits bei Leon Battista Alberti (1404-1472) liest man vom ›Schreibunterricht‹ des angehenden Malers, der, beginnt er zu malen, so vorgehen solle, wie Schüler das Schreiben erlernen. Zuerst werden sie laut Alberti mit den »Elementen«, d.h. allen Buchstabenformen  [25] , vertraut gemacht, dann eignen sie sich die Silben an und schließlich werden Satzgefüge gebildet.  [26] Dass Alberti hierbei das Erstellen einer Zeichnung mit dem Erlernen einer Schreibschrift vergleicht, findet sich als Topos bei Lombard, der seine Kenntnisse ›ad fontem‹, bei den Antiken, gesammelt hat. Rubens erläutert in einer straffen Kombination älterer kunsttheoretischer Kriterien diese Lernphase als einen umsichtigen Einsatz malerischer Mittel, die nicht bemalte Skulpturen zeigen sollen. Ferner hat Roger de Piles argumentiert, dass man die Schwesternkünste mit dem Halten einer Rede bzw. dem Lehren einer Grammatik vergleichen könne, wodurch die jeweiligen Ziele und deren Ästhetik sorgsam differenziert werden. Bei Reynolds liest man von der den ›Schreibunterricht‹ verkürzenden »simplicity« der Antiken, deren jeweilige Idee von Charakter und Schönheit dem angehenden Maler durch sorgsame Studien elementare Gestaltungsregeln zur Verfügung stellen.  [27]

<24>

In all diesen Reflektionen über die vorbildhaften Antiken, über das Studium derselben und die fruchtbare Anwendung ihrer ›Grammatik‹ in der eigenen Praxis lässt sich eine gemeinsame Rezeptionshaltung der Künstler in Bezug auf dieses Lehrmodell erkennen. Die antiken Statuen stehen als Regelwerke stets zu neuen künstlerischen Verbindungen bereit, gelingt es den Künstlern, sie aus ihrer festen Form zu befreien und mit der Leinwand und der Farbe reagieren zu lassen.

<25>

Die Verbindlichkeit bestimmter Normen, die Künstler im Sinne einer rivalisierenden Beziehung zueinander beachten, wird innerhalb der semantischen und pragmatischen Spannweite der Antikenrezeption für den heutigen Betrachter evident. Rubens und Reynolds betonen beide die Angemessenheit der antiken Elemente innerhalb eines Kunstwerkes, die ein Maler mit seiner reifen Urteilskraft anzuwenden versteht, und die er in einem Erneuerungsprozess stetig bewahrt.

 

Bildnachweis

Jay Richard Judson: Rubens: the Passion of Christ, London 2000, S. 159 = Abb. 6.

Astrid Koke: Rubens, Ausst.kat. Lille, Palais des Beaux-Arts, Stuttgart 2004, S. 103 = Abb. 4.

David Mannings: Sir Joshua Reynolds: A Complete Catalogue of his Paintings, New Haven 2000, Abbildungsband, S. 337, 367 = Abb. 10, 11.

Andrew Martindale: The Triumphs of Caesar, London 1979, S. 81, 105 = Abb. 1, 2.

Marjon van der Meulen: Rubens. Copies after the Antique, London 1994/1995, Bd. 3, Abb. 38 = Abb. 5.

Jeffrey M. Muller: Rubens’s Theory and Practice of the Imitation of Art, in: Art Bulletin, 1982, S. 229-247, S. 241, Abb. 10 = Abb. 3.

Marie-Lan Nguyen / Wikimedia Commons: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Thusnelda_Loggia_dei_Lanzi_2005_09_13.jpg = Abb. 7.

Giovanna Perini: Sir Joshua Reynolds and Italian Art and Art Literature. A Study of the Sketchbooks in the British Museum and in Sir John Soane’s Museum, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 51, 1988, S. 141-168, Abbildungsteil S. 14, a, b = Abb. 8, 9.

 

 



[1] Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich im Juni 2008 am Kunsthistorischen Institut der Philipps-Universität Marburg im Rahmen des Kolloquiums »Wahlverwandtschaften« gehalten habe.

[2] Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners: zwölf Bücher (Buch I-VI), hg. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1972, S. 47, Buch I, 5. Der Originaltext wurde im Kloster Sankt Gallen 1416 von dem italienischen Humanisten Poggio Bracciolini (1380-1459) entdeckt und in der Nachfolgezeit von Humanisten und Kunsttheoretikern gründlich studiert.

[3] Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hg. v. Robert Wark, San Marino 1959, S. 177, Diskurs X, 70-76.

[4] Das Manuskript von Rubens wurde von Roger de Piles fälschlicherweise als »Imitation des statues antiques« in seinem Cours de peinture par principes (Paris 1708) publiziert.

[5] Roger de Piles: Cours de peinture par principes, hg. v. Jacques Thullier, Paris 1989, S. 82.

[6] Vgl. Reynolds 1959 (wie Anm. 3), Diskurs VIII, 211-213; die meisten Antiken, so Reynolds, zeichneten sich durch eine »inanimate insipidity« aus, die ein Maler bei der Übertragung in die Figurenmalerei beachten müsse.

[7] Roger de Piles: Conversations sur la connaissance de la peinture et sur le jugement qu'on doit faire des tableaux, Reprint der Ausgabe Paris 1677, Genf 1970, S. 101-103.

[8] Justus Müller Hofstede: Rubens in Italien 1600-1608. Rangstufen der Skulptur in der Imitatio von Antike und Florentiner Cinquecento, in: L’Europa e l’arte italiana, Int. Kongress Florenz 1997, hg. v. Max Seidel, Venedig 2000, S. 284-305, hier S. 285. In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Viten (1568) bezeichnet Vasari die Bildhauerei und Malerei als Schwesternkünste, die beide von einem ›Vater‹, nämlich der Zeichnung, abstammten und gleichzeitig zur Welt gekommen seien, und von denen keine die andere übertreffe.

[9] Vgl. Anm. 4. Antike Statuen werden nicht explizit benannt, gleichwohl aus den italienischen Skizzen von Rubens ersichtlich wird, dass er sich primär mit antiker Skulptur beschäftigt hatte.

[10] Ulrich Heinen: Rubens zwischen Predigt und Kunst, Weimar 1996, S. 105. Bereits Alberti rechtfertigt die Methode des Exzerpierens aus anderen Vorbildern bei der Komposition eines Historienbildes.

[11] Roger de Piles 1989 (wie Anm. 5), S. 82; vgl. auch Quintilians Warnung vor einer zu frühen Orientierung an den Alten: »Einmal sollte niemand aus allzu großer Bewunderung für die alte Zeit bei der Lektüre der Gracchen, des Cato und anderer dieser Art sich verhärten lassen; denn rau und trocken werden sie dabei werden; können sie doch mit ihrem Verständnis die Kraft, die in den Alten steckt, noch nicht nachfühlen; sie geben sich also dann mit deren Art zu sprechen zufrieden, die zu ihrer Zeit zweifellos die beste war, unserer Zeit aber fremd ist, und werden sich dabei, was das schlimmste ist, schon selbst wie bedeutende Männer vorkommen.« Quintilianus 1972 (wie Anm. 2), Buch II, 5, 21, S. 197.

[12] Baldassare Castiglione: Das Buch vom Hofmann, hg. v. Fritz Baumgart, München 1986, S. 88-90: 1. Buch, Kapitel LI. Auch in Castigliones Libro del Cortegiano wird die Differenz zwischen Statue und menschlichem Körper unter dem Gesichtspunkt der Verschiedenheit von Lichtern und Schatten angesprochen. In Anknüpfung an Lampsonius’ Vita des Lambert Lombard lässt Castiglione seine Protagonisten diskutieren: »Ihr sagt ganz richtig, dass beide Künste Nachahmung der Natur bedeuten; es ist aber nicht so, dass die Malerei scheine und die Bildhauerei sei. Denn obgleich die Statuen rund wie das Lebendige sind, und man die Malerei nur als Oberfläche sieht, fehlen den Statuen doch viele Dinge, die der Malerei nicht fehlen, hauptsächlich Licht und Schatten; denn das Fleisch hat ein anderes Licht als der Marmor. Und das ahmt der Maler je nach Notwendigkeit mehr oder weniger natürlich nach, was der Bildhauer nicht machen kann.« Es folgt eine weitere Passage, in der die Vorzüge der Malerei vor der Bildhauerei dargelegt werden.

[13] Jeffrey M. Muller: Rubens’s Theory and Practice of the Imitation of Art, in: Art Bulletin 64, 2, 1982, S. 229-247, hier S. 240. Bereits Vasari verurteilt die steinerne, leblose Art, mit welcher Mantegna Antiken kopiert habe. In seiner Vita kritisiert er insbesondere Mantegnas Frühwerk, welches von geringer Leistung sei, da dieser maßgeblich antike Statuen gemalt habe anstelle von lebendigen Figuren.

[14] Justus Müller Hofstede: Rubens und die niederländische Italienfahrt: Die humanistische Tradition, in: Peter Paul Rubens (1577-1640), Ausst.kat. Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1977, Bd. 1, S. 21-37, hier S. 25.

[15] Justus Müller Hofstede 1977 (wie Anm. 14), S. 25; Jeffrey M. Muller 1982 (wie Anm. 13), S. 241. Zur Herkunft des Begriffs vgl. Godelieve Denhaene: L’admiration de Lambert Lombard pour l’Antiquité: les textes, in: Lambert Lombard. Peintre de la Renaissance, Ausst.kat. Lüttich, Brüssel 2006, S. 53-65, hier S. 54, und Domenicus Lampsonius: Lamberti Lombardi Apud Ebvrones Pictoris Celeberrimi Vita, Brügge 1565, S. 14-15. In der Vita von Lambert Lombard erwähnt Lampsonius, dass man Lombard sagen hörte, es sei mehr Gewinn aus der rechten Nachahmung einer einzigen antiken Skulptur als aller modernen Werke zu ziehen: »iudicabat […] in antiquis operibus […] plus tamen solidi atque ad unguem castigati artificij […] reconditum delitescere quod ipse grammaticem sive artis succum appellare solebat; ac dicere, plus se fructus ex imitatione unius quidem simulacri antiqui, quam omnium pariter recentiorum operum capere.« Er kommentiert hier auch die ›Grammatik antiker Skulptur‹ bei Mantegna: »Inter haec autem ex unius Mantenij rigidis illis quantumuis ac duris, & macris monochromatis, quàm ceterorum operibus, propterea quòd ex illa ipsa antiquorum & Mantenij operum macie exactius perspiceret atque addisceret grammaticen illam suam, artísque ipsius veluti fundamentum […]«.

[16] Wolfgang Krönig: Lambert Lombard. Beiträge zu seinem Werk und seiner Kunstauffassung, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 36, 1974, 105-158, hier S. 110 f. Erwähnt wird hier Lombards Brief an Vasari mit der Bitte um Berücksichtigung jener Regeln zur Proportionslehre von männlichen und weiblichen Formtypen: »[…] io spero, che delle man vostre si darà un di con la gratia di Dio quella grammatica e il vero fondamento dell’arte, tutti i lineamenti et proportioni ch’appartengono ad una statua di Giove, d’un Hercole, d’un Apolline, d’un Marte, Baccho, Venere, Junone un po grattosa, Diane virgine, Minerva all’Amazonica.«

[17] Roger de Piles 1989 (wie Anm. 5), S. 82.

[18] Reynolds 1959 (wie Anm. 3), S. 178, Diskurs X, 108-113: »The Sculptor’s art is limited in comparison of others, but it has its variety and intricacy within its proper bounds. Its essence is correctness: and when to correct and perfect form is added the ornament of grace, dignity of character, and appropriated expression, as in the Apollo, the Venus […] this art may be said to have accomplished its purpose.«

[19] Reynolds 1959 (wie Anm. 3), Diskurs X, 70-76.

[20] In den Diskursen beschreibt Reynolds seine besondere Art der Nachahmung, die das belegbare Zitat eines »particular thought, an action, attitude, or figure« meint, welches ins eigene Werk verpflanzt wird, vgl. Reynolds 1959 (wie Anm. 3), Diskurs VI, 446-448.

[21] Reynolds 1959 (wie Anm. 3), Diskurs IV, 233-237: »The powers exerted in the mechanical part of the Art have been called the ›language of Painters‹; but we may say, that it is but poor eloquence which only shews that the orator can talk. Words should be employed as the means, not as the end: language is the instrument, conviction is the work.«

[22] Sir Joshua Reynolds: A Journey to Flanders and Holland, hg. v. Harry Mount, Cambridge 1996, S. 18: »The best pictures of the Italian school, if they ornamented the churches of Antwerp, would be overpowered by the splendour of Rubens; they certainly ought not to be overpowered by it; but it resembles eloquence, which bears down everything before it, and often triumphs over superior wisdom and learning.«

[23] Reynolds 1959 (wie Anm. 3), Diskurs III, 134-142: »[…] I know but of one method of shortening the road; this is, by a careful study of the works of the ancient sculptors; who, being indefatigable in the school of nature, have left models of that perfect form behind them […].«

[24] Aemulatio (lat. Nacheiferung) bezeichnet die wetteifernde Nachahmung und das Überbieten eines Vorbildes in Literatur und Kunst; Paolo Cortese, italienischer Humanist und Wortführer der Cicero-Partei, kritisiert vehement das Nachäffen eines Vorbildes in der imitatio-Debatte und sieht die Verbindung von Vorbild und Nachfolge im Sinne einer Wahlverwandtschaft, die den einzigen Weg aus dem zeitgenössischen Verfall bilde: »La somiglianza non sia quella della scimmia con l’uomo, ma quella del figlio col padre«, vgl. Giorgio Santangelo: Il Petrarchismo del Bembo e di altri poeti dell ’500, Rom 1962, S. 35.

[25] Der Terminus Grammatik kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet soviel wie die ›Lehre von den Buchstaben‹ ([τέχνη] γραμματική, [technē] grammatikē), dem Erlernen des korrekten Schreibens, Lesens und Interpretierens.

[26] Leon Battista Alberti: Della Pittura, hg. v. Oskar Bätschmann, Darmstadt 2002, 3. Buch [der Maler], S. 155: »Ich will, dass die jungen Leute, die jetzt zu malen beginnen, so vorgehen, wie ich es bei denen sehe, die das Schreiben lernen. Diese werden zuerst gesondert in allen Buchstabenformen unterrichtet, welche die Alten ›Elemente‹ nennen; dann eignen sie sich die Silben an; anschließend lernen sie, wie alle Sätze gebildet werden. Diese Methode sollen unsere [Schüler] beim Malen befolgen.«

[27] Reynolds 1959 (wie Anm. 3), Diskurs X, 403-407: »[…] the uniformity and simplicity of the materials on which the Sculptor labours, (which are only white marble), prescribes bounds to his art, and teaches him to confine himself to a proportionable simplicity of design.«

Lizenz

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Empfohlene Zitierweise

Dittmann A.: »Imitation is the means, not the end, of art« - Peter Paul Rubens und Sir Joshua Reynolds über die Grammatik antiker Skulptur. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2010-2 (urn:nbn:de:0009-23-23431).  

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