<1>

»(…) anschauliche Form, (meint) im Kern historische Erkenntnis aus der Distanz«  [1]. Mit dieser knappen Bestimmung endet der von Alexander Markschies formulierte Eintrag zum Stichwort »Form« in »Metzlers Lexikon der Kunstwissenschaft«, das 2003 von Ulrich Pfisterer herausgegeben wurde. Mit dieser Definition gab Markschies wohl bewusst keine definitive Definition, sondern bemühte sich in erster Linie um eine historische Rekonstruktion der Kontexte, in denen der Begriff der »Form« als Pendant zum Inhalt thematisiert wurde. Markschies verzichtete bei seinem Eintrag wohl ebenso bewusst auf systemtheoretische Bemühungen etwa eines Niklas Luhmann, der bereits in seiner »Kunst der Gesellschaft« ausführlich auf die Form im Unterschied zum Medium eingegangen war. Die Theoriegeschichte der Relationierung von Medium und Form ist inzwischen von Nils Werber detaillierter untersucht worden.  [2] Die aktuelle Frage nach erweiterten »Formen« in der ästhetischen Theorie  [3] zeigt, dass die starren Grenzen von Ordnungen und Begriffen all diejenigen Vorstellungen von Kunst in Frage stellen, die die Form des Machens von Kunstwerken von der Form ihrer Wahrnehmung zu unterscheiden versuchen. Dass etwa eine Form jeweils auch einen reflektierten Umgang mit den gleichzeitig mit entstehenden Fiktionen ihrer Darstellung voraussetzt, ist eine Entdeckung, die man im Werk von Luhmann häufig machen kann, liest man ihn mit heutigen Augen.

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In Gegensatz zur anschaulich sichtbaren Form hat sich Niklas Luhmann dezidiert mit der eher unsichtbar beobachtbaren Dimension dieses Begriffs auseinandergesetzt. Mit »Form«, so Luhmann in seiner »Kunst der Gesellschaft«, bezeichnen wir »das Beobachtungsinstrument »Unterscheidung« – zum Beispiel im Hinblick darauf, dass es auch andere Unterscheidungen geben könnte, die dann andere Beobachtungen ermöglichen würden. Wer Formen beobachtet, beobachtet mithin Beobachter und dies in dem strengen Sinne, dass er sich nicht für Materialität, ihre Motive, ihre Erwartungen oder ihre Äußerungen interessiert, sondern streng und ausschließlich für ihren Unterscheidungsgebrauch.«  [4] Mit dieser strengen Definition schließt Luhmann bewusst die sichtbaren Dimensionen seines Formbegriffs aus und reduziert diesen ausschließlich auf eine reflexive Form ihrer Selbstanwendung. Später präzisiert Luhmann dann das prekäre Verhältnis von Medium und Form, und bestimmt das »Ausprobieren formaler Mittel« als »Eigenart einer Operation des Bezeichnens, die mit im Blick hat, was dabei auf der anderen Seite der Form geschieht.« Doch selbst diese weitere Präzisierung ist durch Unbestimmtheit gekennzeichnet. »Das Kunstwerk lenkt (...) den Beobachter auf das Beobachten der Form hin.« Mit dieser Formel leitet Luhmann dann zu einem weiteren Schritt über. Er bezeichnet die »erreichbare Formenkomplexität des Kunstwerks« als eine »entscheidende Variable.«  [5] Ohne dieses näher zu präzisieren, vermutet Luhmann, dass die eigentliche Funktion von Kunst im Nachweis von »Ordnungszwängen im Bereich des Möglichen« bestehe; die »Beliebigkeit wird in den unmarked space jenseits der Grenze von Kunst verlagert.«  [6] Was Luhmann eigenartigerweise nicht leistet, ist die Realisierung einer Relation zwischen Form und deren selbst erzeugter Fiktionalisierung. An deren Stelle spricht Luhmann eher von »Ordnungen«, die der Betrachter beim Beobachten erziele: »Was in der Kunst sichtbar wird, ist nur die Unvermeidlichkeit von Ordnung schlechthin.«  [7]

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Man könnte nun probeweise einmal die unbestimmte Form als Eigenwert jener Darstellung beschreiben, in der ein Autor die Grenzen des Werkes berührt, indem er ein Element einer Auswahl – in diesem Falle die Form – so präsentiert, als ob sie eine Wirklichkeit würde, mit der man dann zukünftig einmal weiter operieren könnte. Form wäre so ein Modus, in und mit dem man eine Gegenwart kennzeichnet, die gewissermaßen ein Raum gewordenes Futur umgreift. Was wäre, wenn eine jetzt noch unbestimmte Form eine Wirklichkeit bestimmen und beschreiben würde, die einmal existiert haben wird? Auf diese Frage lässt sich nur in einer Form antworten, die sich auf die komplexe temporale und fiktionsbildende Situation, das Futur II, auch einlässt. »Form« ist mehr als eine Formel, sie lässt denkbar werden, dass sie Fiktionen von etwas anderem, noch Zukünftigen absehbar werden lässt.

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Was einem unwahrscheinlich erscheint, wird wahrscheinlicher, umso mehr es uns erscheint. Das kann auch ein Blick in die die Theoriegeschichte betreffen. Einen, allerdings zu Unrecht vergessenen, Seitenpfad in der Evolution der Geschichte des Begriffs der Form stammt von dem heute so gut wie unbekannten Ferdinand Lion. Lion, ein interdisziplinär veranlagter Essayist, dessen verstreute Texte zuletzt 1980 in einem Aufsatzband unter dem Titel »Geist und Politik in Europa. Verstreute Schriften aus dem Jahren 1915 – 1961« publiziert wurden, veröffentlichte 1932 ein schmalen und über weite Strecken hin inspirierenden Band mit dem Titel »Geheimnis des Kunstwerks«, in dem er so etwas wie eine evolutionäre Form der Kunstevolution entwickelt. Ohne sich an irgendeiner Stelle auf vorhandene Literatur zu stützen, konstruiert Lion eine Entwicklungsgeschichte des Kunstwerks, die sich durch eine sensibel abstrahierende Sprache auszeichnet, in der funktionale und quasi systemische Vorstellungen ineinander geblendet sind. Unter dem Kapitel »Form und Stoff« schreibt Lion: »Die Unterscheidung von Form und Stoff ist eine Fiktion: man betrachtet das Kunstwerk als eine Einheit mit einem einzigen inneren Gehalt und einer einzigen äußeren Hülle. Sobald man aber das Bestehen der Vielheit der Phänomene und ihrer Eidola im Kunstwerk erkennt, ergibt sich, daß es viele Stoffinhalte, also ebenso viele Formen haben muss. Denn ein jedes Eidolon hat wie eine Zelle in einem Zellgewebe ihre eigene Membran. Durch diese zweifellose Vielheit der Formen, die , wenn eine letzte Form das ganze umschließt, durch sie nicht aufgehoben wird (im Gegenteil, diese letzte definitive ist nur eine von vielen), so wird überhaupt der ganze Begriff der Form fragwürdig.«  [8] Mit dieser frühen und heute verblüffend aktuellen Form der Infragestellung des Begriffs der Form ist sicher auch ihr Autor wieder zu entdecken. Von Lion, der beispielsweise 1930 eine ebenfalls essayistisch inspirierte »Theorie des Kunstraums« schrieb, stammt auch eine Passage, die sich von Ferne fast wie ein Aperçue zu Walter Benjamins Begriff des »Kultwerts« in dessen Kunstwerkaufsatz liest:

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»Wenn das Kunstwerk zum erstenmal erscheint, erregt es zum mindesten Erstaunen. Dinge, die die für alle Ewigkeit zusammengehörten und längst als Einheit angesehen wurden, sind auseinandergelöst. Zum erstenmal sieht man sie einzeln und erkennt sie vielleicht nicht einmal wieder. Auf ebenso unerwartete Weise sind Dinge, die sich immer fern standen, angenähert und aufs innigste verbunden …«.  [9] Letztlich interessiert Lion die quasi biologistische Frage, wie sich das Leben im Zuschauer und im Kunstwerk fortwährend am Leben erhält: »…auch geschieht es, das ein Kunstwerk wie ein Chimäre oder wie ein Kentaur nicht lebensfähig ist, so dass eine zeitgenössische Generation, die es ablehnt, sich keineswegs irrt. Die tatsächliche Entscheidung fällt später. Von einem einst fragwürdigen Punkt aus fängt dann oft das Kunstwerk an zu leben. Der Vorgang der Angewöhnung liegt …nicht nur im Zuschauer, sondern auch im Kunstwerk: es muss sich an sich gewöhnen, eine unablässige Arbeit geht in ihm hervor, durch dieses Einmalige im geheimen fortwährend wechselt.«  [10]

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Dass sich in den verschiedenen Raum- und Zeitschichten des Kunstwerkes jeweils verschiedene Interaktionen und (An-)Verwandlungen ergeben, hat Lion dann 1938/39 über »Alt- und Neuschöpfung im Kunstwerk« weiter ausgeführt, ohne dabei jedoch eine eigenständige Methode entwickelt zu haben. Einzelne seiner Schlussfolgerungen – wie etwa: »Zeitgenössische Dinge wenden sich heliotropisch einander zu, hinweg von jeder Veränderung und Weiterentwicklung, sie betrachten sich gegenseitig und werde erst dadurch schön. Wie ein Fest durch das Gefühl des Zusammendaseins entsteht, so ist jedes Kunstwerk festlich«  [11] - verraten eher den intuitiv formulierenden Essayisten als den am Ganzen einer Methode oder einem spezifischen Problem operierenden Systematiker der Werkes und seiner historischen Form der Rezeption. Dieser Autor wartet jedenfalls immer noch auf seine angemessene Wiederentdeckung. In seinem 1955 erschienen Band »Die Geburt der Aphrodite. Ein Gang zu den Quellen des Schönen«, das sich wie eine konzentrierte Version seiner Lebensthemen liest, heißt es: »Der Künstler gefällt sich in dem Glauben, daß er alle Gewebteile seines Werkes kennt. Die Vorbereitung ihrer Beziehungen untereinander gleicht der Denkarbeit, die auch ein System von Zusammenhängen, Brückenbildungen, Beziehungen und Konstruktionen ist. Es ergibt sich also eine Verwandtschaft zwischen der rationalen und ästhetischen Webart (…) die Rationalisierung ergibt eine Glasklarheit, durch die das Werk, gleich von welchem Punkt es betrachtet wird, transparent wird. Die Frage ist dann nur, ob der Schaffender den Besitz dieser Transparenz als sein Geheimnis für sich behalten will oder ob er den Rezipienten daran teilnehmen lässt.«  [12] Kurz bevor in den sechziger Jahren die Künstler die Utopie einer Nicht-Unterscheidbarkeit von Kunst und Leben propagierten, versucht Ferdinand Lion an seiner durch fiktive Lebensformen konstruierten Kunstpraxis formal festzuhalten: »Dass entgegen gesetzte Lebensformen simultan bestehen, erfahren wir oft nur durch die Kunstwerke. Das Nebeneinander ist dann nicht tat oder Erfindung des Künstlers. Er hat nur den Mut aufgebracht, doppelseitig zu wecken, was im Leben verbunden schlummert, was formal gesehen, hybrid erscheinen kann…«  [13]

Verwendete Literatur

Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997.

Ferdinand Lion, Geheimnis des Kunstwerks. Stuttgart 1932.

Ferdinand Lion, Die Geburt der Aphrodite. Ein Gang zu den Quellen des Schönen. Heidelberg 1955.

Ferdinand Lion, Theorie des Kunstraums (1930) und Alt- und Neuschöpfung des Kunstwerks (1938/39). beide Texte in: Ferdinand Lion. Geist und Politik in Europa. Verstreute Schriften aus den Jahren 19154 – 1961 . Hg. v. Fritz Martini und Peter de Mendelsohn. Heidelberg 1980.

Alexander Markschies, Formanalyse. In: Ulrich Pfisterer, Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Stuttgart 2003, S. 98 - 100.

Nils Werber, Medien/Form. Zur Herkunft und Zukunft einer Unterscheidung. In: Kritische Berichte, 4, 2008, S. 67 -74.

 



[1] Alexander Markschies: Formanalyse. In: Ulrich Pfisterer, Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Stuttgart 2003, S. 100.

[2] Nils Werber, Medien/Form. Zur Herkunft und Zukunft einer Unterscheidung. In: kritische berichte, 4, 2008, S. 67 -74.

[3] Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis. Hg. Von Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Berlin 2009.

[4] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, S. 111.

[5] Niklas Luhmann 1997 (wie Anm. 3), S. 239.

[6] Niklas Luhmann 1997 (wie Anm. 3), S. 238.

[7] Niklas Luhmann 1997 (wie Anm. 3), S. 241.

[8] Ferdinand Lion, Geheimnis des Kunstwerks. Stuttgart 1932, S. 11.

[9] Ferdinand Lion 1932 (wie Anm. 6), S. 29.

[10] Ferdinand Lion 1932 (wie Anm. 6), S. 29.

[11] Ferdinand Lion, Alt- und Neuschöpfung des Kunstwerks (1938/39). in: Ferdinand Lion. Geist und Politik in Europa. Verstreute Schriften aus den Jahren 19154 – 1961 . Hg. v. Fritz Martini und Peter de Mendelsohn. Heidelberg 1980, S. 249.

[12] Ferdinand Lion, Die Geburt der Aphrodite. Ein Gang zu den Quellen des Schönen. Heidelberg 1955, S. 105.

[13] Ferdinand Lion 1955 (wie Anm. 10), S. 65.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Kröger M.: »Die Unterscheidung von Form und Stoff ist eine Fiktion« Niklas Luhmann trifft Ferdinand Lion. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2011-6 (urn:nbn:de:0009-23-28166).  

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