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In den letzten fünfzehn Jahren haben differenztheoretische Ansätze Einzug in die Kunstgeschichte gehalten. Gründe für das Interesse der Disziplin an wissenschaftstheoretischen Positionen, in deren Zentrum das Prinzip der Unterscheidung steht, sind einerseits in den Untersuchungsgegenständen selbst zu finden. Angesichts von Gegenwartskunst – egal ob postmodern, appropriativ oder zitierend genannt –, die mit der Markierung und Visualisierung von Grenzen arbeitet, liegt es nahe, auch die theoretischen Werkzeuge danach auszuwählen, ob sie in Hinblick auf die Analyse ›künstlerischen Grenzverkehrs‹ erfolgversprechend erscheinen. Andererseits wird das Umfeld der Kunstproduktion und -rezeption, das Kunstsystem, zum Anlass genommen, differenztheoretische Ansätze für kunstwissenschaftliche Fragen zu erproben. Können sie die besondere Komplexität und die Verflechtungen von Kunstmarkt, Sammlern und Sammlungen, Künstlerausbildung, Ausstellungen und Museen besser als bisher beschreiben und analysieren?

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Michael Krögers Beitrag Nicht-wirklich. Wo sind wir, wenn wir im Museum sind? nimmt das ›Museum‹ unter einer solchen unterscheidungs- und beobachtungstheoretischen Perspektive in den Blick. Als Museumskurator und Wissenschaftler gleichermaßen eng assoziiert wie auch distanziert zu seinem Untersuchungsgegenstand, charakterisiert er es treffend als »unkontrollierbares Aufmerksamkeitslabor«, als einen »sozial hochgradig anerkannten Nicht-Ort«, einen »Ort, der eigene und fremde Fiktionen einsehbar macht«. Das Museum, das Kröger dabei offenbar im Hinterkopf hat, ist das Museum für zeitgenössische Kunst, das Interessierte eben nicht nur als Kenner neuer und neuester Meister besuchen, sondern auch als Denk- und Erfahrungsraum schätzen gelernt haben. Als Quintessenz der diversen Forschungen zu Institution und Raum des Museums der letzten gut zwanzig Jahre kann formuliert werden – von Brian O’Dohertys Gedanken zum white cube über Krzysztof Pomians und Hermann Lübbes Texte zu Museum und Sammlung bis zu den von Kröger zitierten Überlegungen von Boris Groys, Peter Sloterdijk oder Hans Belting –, dass das Museum einen besonderen, von der Wirklichkeit abgegrenzten Ort mit eigenen Regeln der Wahrnehmung markiert.  [1] Was kann Michael Krögers Text diesen Forschungen noch hinzufügen?

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Kröger stellt Niklas Luhmanns Beobachtungsbegriff sowie das Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung als zentral für seine Überlegungen zum Museum heraus. Für eine systemtheoretische Perspektive ist dabei die Annahme spezifisch, dass Beobachten sich immer aus zwei Operationen zusammensetzt, die stets zusammen und nacheinander erfolgen: Unterscheiden und Bezeichnen. Mit der Unterscheidung geht das Ziehen einer Grenze einher, wobei jeweils eine der dabei entstehenden zwei Seiten bezeichnet wird. Da es nach einer ersten Beobachtungsoperation immer die Möglichkeit der erneuten Beobachtung von bereits Beobachtetem gibt, die so genannte Beobachtung zweiter Ordnung, handelt es sich nie um eine finale Operation, sondern um einen Prozess – ein Prozess, der das Entdecken so genannter blinder Flecke ermöglicht und so die Relativität des eigenen Standpunktes vor Augen führt. Weitere Differenzbegriffe aus Luhmanns Systemtheorie wie etwa System/Umwelt folgen demselben Prinzip der systeminternen Selbstorganisation, so auch das von Kröger verwendete Begriffspaar von Medium und Form. Mit der Medium/Form-Differenz sucht er sowohl das Paradebeispiel der Kontextreflexion (und -produktion gleichermaßen) – die ready mades Marcel Duchamps – zu begreifen, als auch allgemeine Spezifika des Museums heraus zu arbeiten. Mit der Frage »nach der Entstehung und gezielten Herstellung von Nicht-Kunst im Kontext von Museumskunst« hat sich Kröger viel vorgenommen. Doch das gleichzeitige Verwenden des Luhmannschen Medium/Form-Begriffs und der Boris Groys entlehnten Unterscheidung von profan und heilig (kombiniert wiederum mit Begriffen wie Fiktion, Funktionalität etc.) lässt ein Komplexitätsniveau entstehen, dem sich die Leserin mitunter etwas hilflos gegenüber sieht. Diese Überkomplexität droht zudem die besondere Radikalität und Herausforderung von Luhmanns Differenzansatz zu überdecken: Nämlich die Annahme eines ent-substantialistischen Kunstverständnisses einerseits, demzufolge ein Kunstwerk nicht als ein Ding nach dem Verhältnis vom Ganzen zu seinen Teilen, sondern als eine momentane und perspektivabhängige Formierung eines Mediums verstanden wird;  [2] sowie andererseits das soziologische Interesse an Kunst, verstanden als Kommunikation innerhalb einer in soziale Systeme ausdifferenzierten Gesellschaft, das diverse ›Kontexte‹ sichtbar werden lässt. Angesichts der bislang nur geringen Verbreitung systemtheoretischer Ansätze in der Kunstgeschichte erscheint es gewagt, all dies bei den Lesern vorauszusetzen.  [3]

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Mit dem Versuch, systemtheoretisches Denken für eine Theorie des Museums nutzbar zu machen, steht Michael Kröger dennoch nicht allein da. Michael Fehr etwa sieht mit Luhmann in der Museumsidee die Position eines Beobachters zweiter Ordnung formuliert, begreift aber im Unterschied zu diesem das Museum nicht als ›Form‹, sondern als System.  [4] Ähnlich widmet auch Francis Halsall in seinem Buch zu Kunst, Geschichte und Systemtheorie der »Gallery as System« ein eigenes Kapitel.  [5] Kröger bewegt sich, ohne darauf explizit zu verweisen, in seiner konsequenten Orientierung am Form-Begriff näher an Luhmanns eigenem Museums-Verständnis als die anderen Autoren.

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In der Kunst der Gesellschaft betont Luhmann nämlich in Bezug auf Museen einerseits deren bewahrenden Charakter, ihre Fähigkeit, Kunstwerke durch die »Musealisierung« dem fortwährenden Stilwandel zu entziehen, ähnlich wie es in der Literatur die Deklaration eines Buches als »Klassiker« tue.  [6] Mag man sich an dieser Stelle zunächst an Luhmanns bekanntermaßen konservativen Kunstgeschmack erinnert fühlen, so zeigt sich einige hundert Seiten später, dass ihm selbstreflexive Positionen der Gegenwartskunst und deren Umgang mit der ›Form‹ des Museums durchaus bekannt sind oder zumindest vorstellbar erscheinen: »Museen […] dienen jetzt als systeminterner Kontext, gegen den sich Neues als neu profilieren kann und der dafür unentbehrlich ist.«  [7] Dass Luhmann sich hier, wie einer Fußnote zu entnehmen ist, auf einen 1995 erschienenen Zeitungsartikel von Boris Groys bezieht, scheint den Kreis wieder zu schließen. Genau jene Nähe zwischen unterscheidungstheoretischen und kontextreflexiven Theorien zeigt sich hier, die Michael Kröger in seinem Artikel mit Verweisen auf so unterschiedliche Theoretiker wie Barthes, Sloterdijk oder Luhmann praktiziert. Ob ein derartiges Pastiche jedoch bereits heute auf geneigte Leserinnen und Leser treffen kann oder ob nicht eine stärkere Reduktion von Komplexität, etwa ein konzentriertes ›Durcharbeiten‹ des Luhmannschen Form-Begriffs am Beispiel des Museums, ratsam ist, sei abschließend als Frage formuliert. Michael Krögers Beitrag jedenfalls macht einen wichtigen Schritt in Richtung einer differenztheoretischen (systemtheoretischen) Erforschung des Museums, deren wichtigster Unterschied zu anderen Museumskonzepten darin besteht, das Museum nicht als statisch, sondern als eine offene Form, als ein prozessuales Gebilde zu begreifen.

Zur Autorin

Sabine Kampmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und derzeit Post-Doctoral Fellow des ›Max Planck International Research Network on Aging‹ am Kunsthistorischen Institut in Florenz. Arbeitsschwerpunkte: Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, visuelle Kultur in Theorie und Praxis, Künstlertum und Autorschaft, Gender Studies, Systemtheorie, Alter(n) in Kunst und visueller Kultur.

Adresse: Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut, Via Giuseppe Giusti 44, 50121 Firenze, Italia
Email: kampmann@khi.fi.it



[1] Brian O’Doherty: In der weißen Zelle. Inside the white cube, (übersetzt u. hg. v. Wolfgang Kemp), Berlin 1996 (erste engl. Fassung in Artforum 1976); Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, (aus dem Französischen von Gustav Roßler), Berlin 1988; Hermann Lübbe: Musealisierung. Über die Vergangenheitsbezogenheit unserer Gegenwart, hg. v. der Stiftung Freunde des Zuger Kunsthauses, Zug 1986; Boris Groys: Die Logik der Sammlung, München 1997; Peter Sloterdijk: Museum – Schule des Befremdens (1989), in: ders.: Der ästhetische Imperativ, Hamburg 2007, S. 354-370; Hans Belting: Das Museum: ein Ort der Reflexion, nicht der Sensation, in: ders.: Szenarien der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen, Hamburg 2005, S. 241-266.

[2] Es gibt nichts, was an sich Form wäre, sondern dies ist immer an ein Medium gekoppelt und geht aus ihm hervor. Zugleich sind Formen zeitlich variabel, und auch die Seiten von Medium und Form können getauscht werden.

[3] Vgl. die Übersicht zu systemtheoretischen Ansätzen in der Kunstgeschichte in: Sabine Kampmann: Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft, München 2006, S. 76-80.

[4] Michael Fehr: Stichwort Museum, in: kritische berichte 36, 2008, Nr. 4 (»Niklas Luhmann«), S. 75-78.

[5] Francis Halsall: Systems of Art. Art, History and Systems Theory, Bern 2008, S. 153-189.

[6] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 212-213.

[7] Luhmann 1995 (wie Anm. 6), S. 490 (Hervorhebung im Original).

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Kampmann S.: Was ist ein Museum? Review von Michael Kröger: Nicht-wirklich. Wo sind wir, wenn wir im Museum sind? (Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2008-9). In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2009-46 (urn:nbn:de:0009-23-20717).  

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