… klug ist, wer Unterscheidungen nicht nur anbieten, sondern sie auch verschwinden lassen kann, um dort, wo andere in ihr Verderben rennen, ein neues Spiel eröffnen zu können.

Dirk Baecker, Postheroische Führung (2010)  [1]

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Mit welchen Erwartungen beobachten wir eigentlich die Welt unserer Kunstbeobachtungen? Höchstwahrscheinlich sehen wir, wenn wir Kunst beobachten die Welt als überraschend, anders und unwahrscheinlich. Doch was sehen wir eigentlich außerhalb dieser Beobachtungen? Unabhängig von der Weise, wie wir die Frage beantworten könnten, stellt sich uns die Frage wie in diesem Kontext Erwartungen funktionieren. Wenn Erwartungen »Abtastinstrumente für etwas sind, was unbekannt bleibt«  [2] , wovon sprechen wir auch, wenn wir von Erwartungen sprechen? Wohl immer auch von Irritationen, mit denen wir uns selbst begegnen. Eine Erwartung ist eine Form der Beobachtung, die offen ist für alles, was sich jetzt verändern und besonders mich, den an diesem Text Anteil nehmenden Betrachtern verändern wird. Oder ist eine Erwartung nicht ein Medium, mit dem wir eine alte Dimension unseres Handelns durch eine Neue und womöglich grundlegend Andere ersetzen?

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Dass Kunst ein Medium ihrer eigenen (Selbst-)Beobachtung präsentiert, ist allgemein bekannt; dass jede Form der Beobachtung auch ihrerseits eine Folge von Unterscheidungen im System der Kunst buchstäblich (re-)präsentiert, ist uns dagegen immer noch weniger vertraut. Auch wenn Niklas Luhmann in seinen Schriften eine offensichtliche Passion für das Beschreiben des Mediums Beobachtung entwickelt hat: Was geschieht eigentlich genau, wenn, wie seit Niklas Luhmann üblich geworden, zwischen Kunst und Beobachtung unterschieden wird? Und was formulieren eigentlich historische Kunstbetrachter, wenn sie Unterscheidungen in bereits realisierten Unterscheidungen formulieren, die dann in unauflösbare Widersprüche führen? Fragen dieses Niveaus sind heute möglich, indem sie formulierbar geworden sind und werden formuliert, weil sie offenbar notwendig sind.

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Bevor wir auf die für die Moderne einzigartige und nach wie vor zentrale Widerspruchsunterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst  [3] zu sprechen kommen, kommen wir zunächst zur Frage, was eigentlich das Medium des Unterscheidens kennzeichnet. Die Operation des Unterscheidens erzeuge, so Niklas Luhmann 1995 in seiner Kunst der Gesellschaft allein dadurch, dass sie geschieht, eine andere neue Differenz.  [4] Und wenn diese Unterscheidung ihrerseits beobachtet werde, entstehe, so Luhmann, eine Form der beobachterorientierten Unterscheidung, mit der man weiter operieren könne. Ohne die immer wieder neu und anders differenzierte Differenz Unterscheiden/Beobachten und den damit zusammenhängenden Paradoxien hätte Niklas Luhmann wohl kaum seine Systemtheorie in derart komplexer Tiefe und (nicht immer sofort einsichtigem) Variationsreichtum entfalten können.  [5]

<4>

Eine Unterscheidung setzt voraus, dass auch das Gegenteil, die andere Seite einer Unterscheidung als ausgewählte, neue Unterscheidung fungieren kann. Unterscheiden wird damit selbst eine indirekt wirksame Operation der Kommunikation im System mit der jeweils aktuell beobachteten Formulierung des Werks. Man kann besonders dann und vor allem jetzt komplexe Phänomene unterscheiden, die man nicht oder nicht vollständig kennt – zum Beispiel den Ort zwischen Kunst und Nichtkunst. Indem man zwischen beiden Größen unterscheidet, ist man weder in der Lage beide zu definieren, noch beide nicht gleichzeitig bestimmen zu können. Auch so entsteht eine Intuition für eine Form von Kreativität, die irgendwo, also dazwischen entsteht.

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Um eine neuartige Unterscheidung zu treffen, verkörpert diese immer auch ein Spiel mit einem auf sich selbst bezogenen Erkenntnisrisiko. Die Bestimmung der Unterscheidung Kunst / Nichtkunst kann möglicherweise nur einmal gelingen – dann hätte sich das Problem auf einzigartige Weise gelöst – und sich von selbst erledigt. Es kann jedoch auch nicht gelingen, dann haben wir ein ungelöstes Problem und zusätzlich auch noch einen Widerspruch, den wir vorher so noch nie wahrgenommen hatten.

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Die Unterscheidung Kunst / Nichtkunst provozierte seit ihrer Entstehung im 20. Jahrhundert eine neuartige Fragestellung: Was geschieht, wenn man Unvergleichbares, genauer einander sich Ausschließendes miteinander vergleicht? Die Tatsache, dass man seit Marcel Duchamps Erfindung des Ready-mades theoretisch nicht mehr in der Lage ist, Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden, hat zu ganz unterschiedlichen Lösungen in der historischen Kunstpraxis geführt.  [6]

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Eine zentrales Anliegen Marcel Duchamps war es bekanntlich die Indifferenz zwischen zwei Werten, die strukturelle Unentscheidbarkeit zwischen beiden zu demonstrieren.  [7] Eine Folge war, dass man nach Duchamp und damit bis heute den Widerspruch zwischen beiden historischen Größen nicht aufgelöst hat, sondern bisher nur wechselseitig gesteigert hat.  [8] Das Ready-made führte aufgrund seiner Nichtdefinierbarkeit zum »Paradox der ewigen Aktualität des ready-made-Prinzips.«  [9]

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Durch diese paradoxe vergleichende Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst entsteht eine Zone der Unbestimmtheit, die dazu führt, dass beide Phänomene gleichzeitig als zwei Seiten der Unterscheidung innerhalb des Kunstsystems und als Differenz zwischen dem Kunstsystem und dem Raum außerhalb des Systems beobachtet werden können. Mit anderen Worten: Erst durch die systemtheoretisch möglich werdende Unterscheidung zwischen zwei Seiten einer Unterscheidung, die nur als auf einander bezogenes Paradox funktionieren können, wird die Unbestimmtheit der Wirklichkeit zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung beobachtbar.

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Jede bestimmte Unterscheidung konstruiert also eine jeweils eigene Form der Paradoxie und gleichzeitig eine Möglichkeit diese Paradoxie im Umgang mit sich selbst wieder aufzulösen. Wer etwas von anderem unterscheidet, der formuliert immer auch, dass und wie man auf der anderen Seite der Unterscheidung auch hätte operieren können. Jede Unterscheidung, die eine eigene Form festlegt, trifft auch eine Entscheidung über dass, was sich nicht festlegen lässt und also unbestimmt bleibt. Von dieser strukturellen Unterscheidung, die festlegt und zugleich nicht festlegt, die Wirklichkeiten durch eine Unterscheidung schafft und die Möglichkeiten entgegen ihrer getroffenen Festlegung offenhält, lebt ein Kunstwerk und erlebt sich der beobachtende Betrachter.

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Eine systemrelevante Unterscheidung existiert – vor allem im Kunstkontext – jeweils dann, indem diese jetzt als Form und in der Form ihrer Darstellung formuliert wird. Und indem formuliert wird, wie eine Unterscheidung als Form einer Paradoxie funktioniert, wird die Entstehung von Kunst auch als eine Form eines double bind beobachtbar. Ist Kunst, so betrachtet, nicht ein Medium, das sich selbst dadurch erzeugt (und fortlebt), indem es neue Situationen erfindet, in denen ein scheinbarer Nichtkunstbereich wie die Form der hier praktizierten Unterscheidung eine historisch neue Option, nämlich eine ästhetische double-bind-Situation, erzeugt?

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Eine Unterscheidung, die wie im Kunstkontext etwas Einzigartiges bewirkt oder bewirken will, ist immer auch eine Entscheidung: Sie unterscheidet etwas Unbestimmtes so, dass eine historische und eine zeitlose Form einer Unterscheidung entsteht.

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Es gibt (zum Glück) auch spezielle, besonders ästhetische Formen von Unterscheidungen, die ihre Beobachter in unauflösbare Wider-sprüche stürzen. Eine solche historisch einzigartige Unterscheidung war etwa die Formulierung der double bind situation, die ursprünglich als ein aus der Schizophrenieforschung stammendes kommunikationstheoretisches Konzept von Georges Bateson und Paul Watzlawick konzipiert worden war.  [10] Übertragen auf den Kunstkontext könnte man formulieren: Während die nicht-zeitgenössische, traditionsorientierte Kunst zwischen unsichtbarer Anwesenheit und abwesender Fiktion eine bestimmte Unterscheidung verwendet und damit zugleich eine Paradoxie in die Welt setzt, lässt die zeitgenössische Idee von Nichtkunst die alte Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst unentscheidbar werden. Die Funktion der alten Paradoxie wird kurzerhand durch die Operation deren eigener Auflösung ersetzt und – entparadoxiert.  [11]

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Während Kunst mit ihren jeweils erarbeiteten historischen Leistungen und Möglichkeiten kommuniziert, besteht ein Nutzen bzw. Sinn von historischer Nichtkunst darin, das Medium Kunst anders als bisher (als) beobachtbar zu gestalten. Nichtkunst wäre so etwas wie ein systematisch nutzbarer Widerspruch, der blind und sehend zugleich die aktuelle Gegenwart erkennbar macht.

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Vor allem die Paradoxien generierende Differenz Kunst / Nichtkunst generiert eine Situation, die hinreichend paradox funktionierend so kommuniziert, indem sie über sich selbst hinaus in das Gegenteil ihrer selbst, in den Nichtkunstbereich hinaus weist – und zusätzlich innerhalb des jetzt herrschenden Kunst-Systems auf einzigartige, ebenso anregende wie auch elegante Weise auf die Thematik einer Kunst-Unterscheidung aufmerksam macht.



[2] Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 261.

[3] Vgl. dazu grundlegend: Wolfgang Ullrich: Was ist Nichtkunst?, in: ders.: Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers, Berlin 2007, S.251-276.

[4] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 57.

[5] So etwa: »Kein Beobachter kann die Unterscheidung, die er im Moment seinem Beobachten zugrunde legt, zugleich als Differenz und als Einheit benutzen (Er muss an irgend etwas Unterscheidbares anknüpfen).« Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 328.

[6] Vgl. dazu: Michael Langner: Kunst am Nullpunkt. Eine Analyse der Avantgarde im 20. Jahrhundert, Worms 1984, S. 59.

[7] Wilfried Dörstel: Die Signatur entwertet. Marcel Duchamp, der homöopathische Leonardo, Susanna Anna u. a., in: Wertwechsel. Zum Wert des Kunstwerks, Köln 2001, S. 301.

[8] So etwa zuletzt besonders eindrucksvoll: Wolfgang Ullrich: Was ist Nichtkunst?, in ders. : Gesucht: Kunst Phantombild eines Jokers, Berlin 2007, S. 251 – 276.

[9] Vgl. Dieter Daniels, Marcel Duchamp – der einflussreichste Künstler des 20. Jahrhunderts?, in: Marcel Duchamp, hg. v. Museum Jean Tingeluy, Basel 2002, S. 31.

[10] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Doppelbindungstheorie.

[11] Die zwei mir bekannten Darstellungen, in denen das double-bind-Theorem mit Kunst und Literatur in Beziehung gesetzt wurden, sind dadurch geprägt, dass sie dieses Theorem sozusagen maßstabsgetreu verwenden. Im Gegensatz hierzu verwende ich das Theorem, um es auf einem weiteren unbestimmten Zusammenhang zu übertragen. Vgl. etwa: Michael Wetzel, Dichter und Maler – Ein double-bind?, in: Kunstforum 139, 1998, S. 52-62; Heike Gfrereis, Double bind: Anmerkungen zu Benjamins Schreibweise, in: Schrift, Bilder, Denken: Walter Benjamin und die Künste, hg. v. Detlev Schöttker, Frankfurt a. M. 2004.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Kröger M.: Überraschend, anders, unwahrscheinlich. Nicht-Kunst. Eine-Double-Bind-Situation. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2010-11 (urn:nbn:de:0009-23-25359).  

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