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Es ist eine eindrucksvolle und sicher auch kostspielige Ausstellung, die uns bis Ende Februar zuerst in Frankfurt und dann in Berlin gezeigt wird, einer der bislang größten Blockbuster im Bereich der Altmeisterausstellungen, wie sie in letzter Zeit immer beliebter werden. »Insgesamt über 50 Meisterwerke der beiden Künstler – nahezu alle erhaltenen und transportfähigen Gemälde – werden aus diesem Anlass vereint«, wie es in der Presse-Einladung heißt. Opulent auch der Katalog, 400 Seiten, prächtig illustriert. Wenn im Titel von Krise die Rede ist, so betrifft dies zweifellos nicht den Aufwand, der von den beiden Museen betrieben worden ist.

Zwei Rätsel

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Zwei Dinge überraschen bei dieser Ausstellung: die Wahl der Ausstellungsorte und die Titelwahl. Weshalb zwei so nah benachbarte Stationen für die im Wesentlichen gleiche Ausstellung? Mit dem ICE kann jeder Berliner die Frankfurter Ausstellung in einem Tagesausflug, falls er den 20. März nicht abwarten will, mühelos besuchen. Des Rätsels Lösung: Die befreundeten Ausstellungsmacher verfügen in den Abteilungen, über die sie die Verantwortung haben, jeder über einen wichtigen Fundus von Werken aus der Campin/van der Weyden-Schule, wobei im Wesentlichen Rogier in Berlin, Campin im Städel beheimatet ist. Also: Familienzusammenführung, um dann gemeinsam die jeweiligen Wohnungen zu besichtigen. Für die beiden Festanlässe hat man eine große Anzahl verstreuter Familienmitglieder von auswärts hinzu gebeten. Dass das New Yorker Metropolitan Museum aus den Cloisters das Mérode-Triptychon, eines der wichtigsten und beim Publikum beliebtesten Werke, über den Atlantik in die Alte Welt zurück geschickt hat, ist eine kleine Überraschung. (Man kann sich fragen, welcher versprochene Gegenbesuch diese Reise ermöglicht hat.) Mit der Familie vertraute Besucher werden andererseits feststellen, dass einige der großen europäischen Museen, wie das Wiener Kunsthistorische Museum, die Münchner Alte Pinakothek und die Londoner National Gallery – letztere hat einige wichtige Werke zurückbehalten –, nicht ebenso großzügig reagiert haben.

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»Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden« heißt die Ausstellung. Und dies ist das zweite Rätsel: Weshalb weigern sich die Ausstellungsmacher, den Lehrer von Rogier van der Weyden bei seinem bürgerlichen Namen zu nennen? Die Erklärung: In seiner 1997 publizierten Dissertation hat der Berliner Kurator und einer der beiden Katalogtextautoren, Stephan Kemperdick, die Identifikation, die zuvor quasi von allen mit der entsprechenden Werkgruppe eng vertrauten Kunsthistorikern angenommen worden war, wieder in Frage gestellt. [1] Mittlerweile scheint auch Jochen Sander Kemperdicks Standpunkt einzunehmen.

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Es ist die Krise der Kennerschaft, die hier jedem, der den Katalog liest, vorgeführt wird. Kennerschaft, Fragen der Zuschreibung und Datierung, ist das hauptsächliche, im Grunde das einzige Interesse, das die Organisatoren der Ausstellung antreibt. Der für den Katalog gemeinsam verfasste Einleitungstext spricht ausschließlich davon. Genüsslich wird daraufhin in jedem der Katalogbeiträge nach einer mehr oder weniger ausführlichen, die sichtbaren Dinge benennenden Beschreibung das Chaos der bisherigen kennerschaftlichen Meinungen zum jeweiligen Werk vorgeführt. Am Schluss wird dann jeweils – mit wenigen Ausnahmen – die Zuschreibung und deren Begründung, wie sie Stephan Kemperdick bereits in seiner Dissertation vorgenommen hat, entweder von diesem selbst noch einmal wiederholt oder von seinem Kollegen Sander mit Zustimmung referiert. (»Den die materiellen Gegebenheiten am plausibelsten erklärenden Vorschlag unterbreitete Stephan Kemperdick. JS«; »[...] versuchte Kemperdick eine einfachere und zugleich plausiblere Rekonstruktion [...]. JS«, etc.) Der Ausstellungskatalog sagt dem, der die wissenschaftliche Literatur kennt: Ich, Stephan Kemperdick (Sigel STK), habe schon damals, vor gut zehn Jahren, recht gehabt. Jetzt habe ich die Möglichkeit, meine Thesen anhand der Originale umzusetzen.

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Nun, ich möchte mich nicht beklagen. Denn ich bin ja, was Robert Campin alias den ›Meister von Flémalle‹ betrifft, nicht der einzige, der anderer Meinung als STK war – und meist noch immer ist. Die Frage ist vielmehr, weshalb dem so ist. Weshalb können sich die Kunsthistoriker, die sich ernsthaft darum bemühen, mittels Datierung und Zuschreibung Ordnung in die überlieferte, künstlerisch irgendwie verwandte Bildermenge zu bringen, sich nicht einigen?

Unbegründete Pose der Überlegenheit

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Nach der Presseverlautbarung »bietet die [...] Ausstellung erstmals die große Chance, in dieser kontroversen Frage auf der Basis des direkten Vergleichs zu überzeugenden Antworten zu gelangen.« Doch wer den Katalog liest, sieht, dass dessen Verfasser die Antworten schon haben. Haben wir andern uns zu wenig mit den Originalen beschäftigt? Das Argument ist fragwürdig. Als die Kuratoren ihre Texte zweifellos schon vor der Eröffnung der Ausstellung verfasst haben, waren sie in der gleichen Position wie ihre Kollegen. Mit Ausnahme einiger weniger, kleiner Werkgruppen hat jeder Kenner im Gebiet Campin/van der Weyden schon immer mit isolierten Werken und dem jeweiligen Vergleichsbild im Kopf oder mit leicht handhabbaren, meist schwarz-weißen fotografischen Reproduktionen gearbeitet. Vergleiche zwischen Originalen waren eigentlich nur im Prado, in der Londoner National Gallery, der Berliner Gemäldegalerie und – vor allem, was Campin betrifft – dem Städel möglich, wo in der ständigen Sammlung die drei Flémaller Tafeln und das Schächerfragment nebeneinander hängen. (Der Stilvergleich hingegen, den Stephan Kemperdick zwischen dem Stifterkopf aus der Madrider Kreuzabnahme und dem Londoner Frauenporträt vorführt, setzt die Verfügbarkeit guter 1:1-Abbildungen, wie sie erstmals in meiner Campin-Monographie verwendet worden sind, voraus.) [2] Hinzu kamen einige wenige Ausstellungen, bei denen üblicherweise getrennte Werke zum Vergleich für kurze Zeit in Sichtweite zusammengebracht wurden.

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Nun erinnere ich mich aber noch genau, wie ich am 12. März 1993 zusammen mit Kollege Kemperdick vor einem der in der Londoner National Gallery arrangierten »Brief Encounters« stand – für eine kurze Zeit zusammengebracht waren das Diptychon mit der sich und das nackte Kind wärmenden Madonna aus der Ermitage und das damals neu erworbene, thematisch analoge Bildchen der National Gallery – und bemerkte, dass aufgrund der beiden jeweils sehr ähnlich gemalten Kaminfeuer die beiden Werke in meinen Augen zweifellos dem gleichen Maler zuzuweisen seien. Stephan Kemperdicks Antwort: Er sehe es genau umgekehrt. Damals habe ich begriffen, wie sehr jedes kennerschaftliche Urteil, selbst wenn es unter idealen Bedingungen zustande kommt, in seinem Kern eine rational nicht begründbare, subjektive Basis hat.

Eine Präsentation für ›Connoisseure‹

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Mit der Art der Präsentation – die Werke sind auf tiefblaue Wände gehängt und in abgedunkelten Räumen mit Spots beleuchtet – hat die Ausstellung etwas sehr Kühles, Künstliches. Es sind Kabinette, bestens für das kennerschaftliche Exerzitium bzw. für die kennerschaftliche Demonstration geeignet; sie machen die darin präsentierten Werke aber gleichzeitig zu merkwürdig entkontextualisierten, frei schwebenden ›Poster‹.

1 Erster Raum in der Ausstellung »Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden«, Frankfurt, Städel, 21.11.2008 - 22.2.2009

So vereinigt die hier im Ausschnitt gezeigte erste Koje gleich rechts nach dem Eingang folgende Werke: auf der Hauptseite das Mérode-Triptychon, rechts davon (auf der Abbildung nicht sichtbar) die Brüsseler Verkündigung, die Berliner Madonna vor der Rasenbank und das Fragment mit Johannes dem Täufer aus Cleveland. Auf der Wand links vom Mérode-Triptychon prangt isoliert die Geburt Christi aus Dijon, die – obwohl die französischen Provinzmuseen sich alle Mühe gaben, ihre Stücke für die Reise schön herauszuputzen –, im Vergleich zum Mérode-Triptychon eine merkwürdig stumpfe Oberfläche zeigt. (William Suhr, dem einst das Mérode-Triptychon anvertraut worden war, war tatsächlich ein Zauberer unter den Restauratoren!)

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Eine kleine Zwischenbemerkung: Das Mérode-Triptychon und die Brüsseler Verkündigung werden in Berlin nicht mehr ausgestellt sein. Also vielleicht doch den ICE nach Frankfurt besteigen, Berliner! Umgekehrt werden nur in Berlin Darets Anbetung der Könige, Rogiers Heimsuchung aus Leipzig und die Werl-Flügel aus dem Prado zu sehen sein.

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Das Ausstellungsfoto führt schön vor, wie man mit den nebeneinander präsentierten Verkündigungsdarstellungen umgehen soll: zuerst im Katalog lesen, dann auf die Bilder gucken. Und so wird im Katalog das wahrscheinliche Verhältnis dieser Bilder als Spiel der daran beteiligten ›Hände‹ beschrieben: An dem auf der Hauptwand präsentierten Mérode-Triptychon waren, wie dies uns Kemperdick schon in seiner Dissertation dargelegt hat, nicht bloß zwei, sondern drei Hände beteiligt, und – Überraschung! – keine davon gehörte zu dem um 1375 geborenen Robert Campin. Dieser war der »Künstlerunternehmer« (Pressetext), unter dessen Regie mehrere junge Maler arbeiteten, die sich aber untereinander so gut verstanden, dass die stilistischen Brüche ohne die Hilfe der Kenner vom Durchschnittsmuseumsgänger heute nicht mehr ausgemacht werden können.

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Übrigens: Für Kemperdick war der »Meister von Flémalle« kein Individuum, sondern eine wechselnde Gruppe von Werkstattmitgliedern, Angestellte des geschickten ›Entrepreneurs‹ Robert Campin, einem besonders aktiven Mitglied der Malergilde und hoch angesehenen Bürger der Stadt Tournai, bis er wegen einer Ehebruchsgeschichte im Jahre 1432 seine große Werkstatt auflösen musste. Dies hatte dann auch die Konsequenz, dass damals Rogier van der Weyden zusammen mit seinen Kollegen Jacques Daret, Haquin Blandain und einem gewissen Willemet flügge wurde. Immerhin, wenn der ›Unternehmer‹ Campin auch mal selbst zum Pinsel gegriffen haben sollte, so könnte von ihm nach Einschätzung Kemperdicks am ehesten die Brüsseler Verkündigung stammen, wodurch Robert Campin nun aber doch eine künstlerische Vorbildrolle zukommen würde, da das Brüsseler Gemälde nach Meinung Kemperdicks als Vorlage für die Mitteltafel des Mérode-Triptychons diente. (Auf die beiden und ihr Verhältnis zueinander werden wir noch zurückkommen.)

Ein Amerikaner in Frankfurt

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Wie wird wohl ein amerikanischer Besucher reagieren, der in Frankfurt am Main zufällig die Ausstellung besucht, und dem das Mérode-Triptychon in The Cloisters in Upper Manhattan ans Herz gewachsen ist? Als einziges Gemälde hing es dort bis vor ein paar Wochen im schönen, wegen der gemalten Decke so genannten Spanish Room, häufig auch Campin-Room genannt, umgeben von zeitgenössischem Einrichtungsmobiliar.

2 Der ›Spanish Room‹ in The Cloisters, New York

Etwas entfernt vom Triptychon stand ein alter Holztisch, darauf ein polierter Kerzenständer mit einer Bienenwachskerze, ein Majolikakrug mit blauer Bemalung, in dem bisweilen der Stängel einer weißen Lilie stand, neben dem Triptychon auf einem Schemel ein Wasserkessel aus Bronze, alles Gegenstände, wie er sie dann auf der Mitteltafel des Triptychons, fein säuberlich mit ihren spezifischen Lichtreflexen gemalt, wieder erkennen konnte. Anders als im Städel war kein museumsdidaktisches Informationsblatt nötig, um ihm zu erklären, dass der Maler bestrebt war, die Muttergottes im Augenblick der Inkarnation in einem Umfeld darzustellen, das dem damaligen Besitzer des Werkes vertraut war. Wenn er sich dann daran machte, die Werkstatt des hl. Joseph und dessen Ausstattung genauer in den Blick zu nehmen, so wusste er – falls er sich noch ein wenig an den Kunstgeschichteunterricht im College zurück erinnerte –, dass der Scheingatte der Muttergottes Mausefallen herstellte, nicht einfach so, sondern um den Teufel zu fangen, Shapiros berühmte ›muscipulae diaboli‹. [3]

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Im Städel wird sich der amerikanische Besucher auf einen anderen Blick einstellen müssen. Er soll zwischen dem Triptychon und der Tafel aus den Königlichen Museen in Brüssel hin und her pendeln, welche die Verkündigung in einer ganz ähnlichen Art und Weise darstellt, wie er sie kannte. Wenn er im Katalog blättert, der vor den Gemälden auf der Bank liegt, wird ihm darin ausführlichst erklärt, dass bis ins Jahr 1990 alle Kunsthistoriker mit einer einzigen Ausnahme in der Brüsseler Verkündigung eine variierende Kopie nach der Mitteltafel ›seines‹ Triptychons gesehen haben, dass nun aber die Reihenfolge definitiv umzukehren sei. Die Brüsseler Verkündigung sei »stilistisch deutlich älter«, was offenbar bis anhin mit Ausnahme eines gewissen Theodor H. Musper niemand gesehen hatte. Das wird er sich merken, wenn er der Autorität der beiden Kuratoren vertraut oder einfach den Führerinnen folgt (vier davon habe ich am ersten Tag der Ausstellung in einer Stunde gezählt), die die These als wichtige Botschaft über die beiden Verkündigungen verkünden. (Ob diese auch über den Audio-Guide vermittelt wird, habe ich nicht nachgeprüft.)

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Dass auf den beiden Bildern die beiden Bücher – das eine mit Beutel, das andere ohne – vertauscht sind, hat der amerikanische Gast vielleicht bemerkt, doch da dies im Katalogtext nur beiläufig erwähnt wird, wird er es wohl für nicht so wichtig halten. Und dann liest er noch, dass es aufgrund des kolorierten Holzschnittes mit Christophorus, der im Brüsseler Bild am Kaminmantel befestigt ist, am plausibelsten (Lieblingswort der Kenner!) erscheint, dass das Gemälde »in der zweiten Hälfte der 1420er Jahre« ausgeführt worden ist. Der simulierte Holzschnitt als eine versteckte Datumszahl (›disguised datation‹), ziemlich raffiniert! Vielleicht ist der amerikanische Gast aber trotzdem etwas verwirrt, weil er nicht so richtig versteht, weshalb denn da Christus auf dem Rücken des heiligen Riesen dargestellt ist. Denn er hatte doch im Religionsunterricht gelernt, dass Maria bei der so genannten Verkündigung Christus in ihrem Schoß empfing. Leider gibt ihm der Katalog dazu keine Auskunft.

Ein etwas künstliches Stelldichein

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Man muss sich bewusst sein – dies gilt zugegebenermaßen für jede monographische Ausstellung –, dass das, was in Frankfurt aufgrund intensiver Verhandlungen zustande gekommen ist, ein künstliches Familientreffen ist. Wenn es in der Einleitung zum Katalog heißt »Manche Tafeln sind hier zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder mit anderen Stücken aus derselben Werkstatt vereint«, so trifft dies zweifellos zu, doch sollte es nicht so verstanden werden, dass diese – mit wenigen Ausnahmen – je in der selben Werkstatt ko-präsent waren. (Abgesehen von einem möglichen weiteren Missverständnis, wonach in den Werkstätten von Robert Campin und seinen Schülern nur Tafelbilder produziert worden wären. Von den Fahnen, die gemalt wurden, von den Skulpturen, die gefasst wurden, von den ›patrons‹ für Tapisserien ist immerhin in einem Katalogtext ausführlich die Rede.) Man sollte sich auch bewusst sein, dass wir mit den ausgestellten Werken Bilder vor uns haben, die für ganz unterschiedliche räumliche und soziale Kontexte geschaffen worden sind: Porträts, die häufig in Truhen aufbewahrt wurden, Andachtsbilder, die für das Schlafzimmer mehr oder weniger frommer Eheleute bestimmt waren, Retabeln, die in Kirchen über dem Altar angebracht waren.

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Sobald der Firnis getrocknet war, wurde das jeweilige Werk dem Besteller übergeben. Im Atelier blieben Entwürfe für die Komposition, Studien für einzelne Figuren, Gewandstudien usw. zurück. Mit diesen gezeichneten Blättern wurde über den Tag hinaus weiter gearbeitet. Dies beweist die häufige collage-artige Wiederaufnahme ganzer Figuren und Figurengruppen sowie von auffälligen Gesten gerade im Umfeld von Rogier van der Weyden. Umso mehr ist zu bedauern, dass in der Frankfurter Ausstellung Zeichnungen ganz fehlen und im Katalog nur sehr sparsam reproduziert und besprochen werden.

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Die Aufnahme von Zeichnungen hätte es auch erlaubt, eine der bedeutendsten Kompositionen der ganzen Campin/Rogier van der Weyden-Gruppe in die Ausstellung mit ein zu bringen, bedeutend sowohl was ihre Verbreitung über Kopien und Variationen als auch ihren kunsthistorischen Rang betrifft: den Grabtragungsaltar, wie er neben zahlreichen Kopien in einem Blatt des Louvre indirekt überliefert ist. Ich reproduziere die Zeichnung hier, weil sie auch im Katalog nicht abgebildet und, soweit ich sehe, dort auch nirgends erwähnt ist.

3 Entwurf für einen Grabtragungsaltar, Paris, Louvre, Cabinet des dessins

Man findet in dieser Zeichnung erstens eine Komposition belegt, in der – lange bevor dies Andrea Mantegna, Raphael und Luca Signorelli in Italien taten – ein antiker Meleagersarkophag als kompositorische Grundlage für eine Grabtragung Christi verwendet wird; und zweitens dokumentiert sie ein Werk, von dem aus die Mitteltafel des Altars für die Löwener Armbrustschützengilde, die Madrider Kreuzabnahme, als Weiterentwicklung konzipiert worden ist. Diese Feststellungen können unabhängig von den Fragen gemacht werden, ob man nun die Zeichnung für ein Original hält oder nicht, wem man die Komposition zuschreiben will und wie man sie genau zu datieren hat.

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Dass die Madrider Kreuzabnahme, das größte und das künstlerisch bedeutendste erhaltene Gemälde der ganzen Campin/Rogier van der Weyden-Gruppe, in der Ausstellung fehlen würde, war zu erwarten. Für den, der den Katalog nicht liest, wird diese Lücke jedoch nicht ersichtlich. Die Ausstellung bietet für die kritische Beurteilung einer wichtigen kennerschaftlichen These keine Hilfestellung, jene nämlich, wonach die Flémaller Flügel des Städel künstlerisch (wie dies der große Kenner Johann David Passavant als selbstverständlich annahm), aber auch effektiv (wie dies von Mojmír Frinta und vom Schreibenden vorgeschlagen worden ist) zusammen gehören. Die bisherige Debatte um diese Frage wird im Katalog ausführlich referiert, doch wird dabei ein in meinen Augen entscheidender Punkt unterschlagen, dass nämlich die Flémaller Flügel – die gleiche Rahmung vorausgesetzt – exakt die gleiche Höhe haben wie die Seitenteile der Kreuzabnahme, und dass vier solcher Flügel zusammengenommen die Fläche des Madrider Gemäldes (ohne die Überhöhung mit dem Kreuz) genau bedecken. Ein bloßer großer Zufall?

Positive Überraschungen

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Vieles überrascht positiv an der Frankfurter Ausstellung. Sie wurde offenbar sehr gründlich vorbereitet: So kann man endlich das Triptychon aus der Abegg-Stiftung in Riggisberg bei Bern in einer sehr subtil nachempfundenen rekonstruierten Rahmung sehen, als Triptychon eben. Für mich rätselhaft ist nur, weshalb die Kuratoren dieses in seiner Expressivität so ungewöhnliche Werk – es muss, wie ein Gemälde von Francesco del Cossa belegt, dem verlorenen, von Rogier für den Hof von Ferrara geschaffenen Triptychon verwandt gewesen sein – in den Fußstapfen von Erwin Panofsky noch immer als Werkstattarbeit betrachten, während sie das viel schwächere, uncharakteristische Wiener Kreuzigungs-Triptychon als ein Original von Rogier einstufen. Zuschreibungen viel gelesener Autoren können zählebig sein.

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Sehr schön auch, wie die Kuratoren die beiden Fassungen des großartigen Porträts des feisten Mannes aus Berlin und Madrid analog rahmen ließen, um sie als eine Art Dispositiv zur Einübung des kennerschaftlichen Blicks dem Besucher nebeneinander gehängt vorzuführen. Es war aufgrund des Vergleichs von Abbildungen immer klar, dass die beiden Versionen – vielleicht sind doch beide (und nicht nur die Madrider Fassung) Kopien eines verlorenen Originals –, obwohl von unterschiedlichen Händen gemalt, einander ungewöhnlich nahe stehen. Dennoch ist die Wirkung, wenn man die beiden Fassungen nun so nebeneinander gehängt sieht, phänomenal. Die beiden Schüler – nehmen wir einmal an, es waren beides Mitglieder der Werkstatt von Robert Campin – hatten eine außerordentliche Fähigkeit zur präzisen Kopie, falls sie die Aufgabe hatten, ein Porträt, wie es nach überlieferten Urkunden üblich war, für die Kinder eines Familienoberhauptes in mehreren Fassungen auszuführen. Hier, bei dieser Kopierarbeit nach Porträts – es kommt ja gerade bei dieser Bildgattung auf die exakte Wiedergabe jeder Narbe und vor allem eines spezifischen, persönlichen Ausdrucks an – haben die Lehrlinge dann zweifellos auch einen scharfen Blick auf die Welt erlernt, von dem sie später, bei der Produktion ihrer eigenen Originale, profitieren konnten.

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Wie ein ›Dispositiv zur Einübung des kennerschaftlichen Blicks‹ wirke das Paar in der Ausstellung. Aber wird der unvoreingenommene Besucher zu einem klaren Resultat kommen? Wird er fähig sein, das Urteil des Berliner Kurators, der ›sein‹ Werk für das erhaltene Original hält, nachzuvollziehen, wenn dieser abschließend sagt: »Das Berliner Bildnis könnte daher ein relativ frühes Werk des Malers [Rogier van der Weyden] sein, in dem noch keine völlige Homogenisierung der Details erzielt wurde, oder aber eine Arbeit aus seinem unmittelbaren Umkreis. STK« Das klingt präzise, heißt aber nichts anderes als: Der junge Rogier van der Weyden und jedes etwa gleichaltrige Mitglied der Werkstätte von Robert Campin und dieser selbst kommen als Autoren des Porträts in Frage. Womit für die Lösung des Flémalle-Problems nicht wirklich viel gewonnen ist.

›Verwissenschaftlichung‹ der Kennerschaft

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Nun aber nochmals zurück zu den beiden Verkündigungsbildern, die im ersten Raum im Städel übereck nebeneinander hängen, zur Frage, weshalb Kemperdick und Sander die Ansicht gewonnen haben, das Brüsseler Bild mit der Verkündigung sei älter und damit wichtiger als das so ungemein populäre Mérode-Triptychon. (Aus dem von den Autoren mehrfach repetierten »populär« scheint so etwas wie Tadel oder leise Verachtung gegenüber jenen mitzuklingen, die es offenbar zu sehr bewundern.) 1990 war ein Jahr, in dem auch noch die wenigen von der Campin-Forschung bis dahin allgemein akzeptierten Annahmen gründlich in Frage gestellt wurden. In jenem Jahr publizierte Jeltje Dijkstra ihre Dissertation, in der sie die wichtigsten Ergebnisse einer Forschergruppe um J. R. J. van Asperen de Boer zusammenfasste, die sich vorgenommen hatte, die Gemälde der ›Rogier van der Weyden und Meister von Flémalle-Gruppen‹ mit Hilfe des damals noch relativ neuen Instruments der Infrarotreflektographie auf ihre Unterzeichnungen hin zu untersuchen. [4] Mit optischem Gerät bewaffnet, bezeichneten sie ihr Vorgehen ebenso stolz wie naiv als eine der klassischen Kennerschaft überlegene »scientific examination« und vergaßen dabei, dass das Resultat ihrer Arbeit wieder Bilder waren, und zwar häufig schwer lesbare und – noch häufiger – im Bezug auf die vom Maler für den Betrachter bestimmten, eigentlichen Bilder schwer deutbare.

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Besonders überraschend war das Resultat zur Brüsseler Verkündigung. Die Infrarotreflektogramme zeigten unter anderem zwei Dinge: erstens, dass dort, wo heute in der Brüsseler Verkündigung neben dem Kaminmantel ein Besen sichtbar ist, ursprünglich eine Nische vorgesehen war, zweitens, dass die Unterzeichnung des Gewandes des Engels im Mérode-Triptychon, anders als dies auf der realisierten Malfläche der Fall ist, noch ein Kreuz trug und somit der Oberfläche des Brüsseler Gemäldes entsprach. Aus dieser Beobachtung wurde abgeleitet, dass der Maler des Mérode-Triptychons der Nachfolger eines älteren Malers, des Autors der Brüsseler Verkündigung, gewesen sein müsse. Dass die erste Beobachtung mit der im Brüsseler Gemälde geplanten und nicht ausgeführten Nische in die gegenteilige Richtung wies, wurde von Dijkstra übersehen – und wird auch von Kemperdick und Sander noch immer übersehen. Da, wie es auch die beiden Kuratoren annehmen, das New Yorker Triptychon und die Brüsseler Verkündigung im gleichen Atelier entstanden sein müssen, kann der Widerspruch leicht gelöst werden, wenn man davon ausgeht, dass die beiden Werke mehr oder weniger gleichzeitig, quasi nebeneinander, gemalt worden sind. (Die leichte perspektivische Verschiebung beim Blick auf die Majolika-Vase und den Tisch in den beiden Werken ist sogar ein Hinweis darauf, dass die beiden Maler uns genau dies sagen wollen.)

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Bei den Ausführungen zahlreicher Kenner – ob sie nun mit einer Vidicon-Kamera bewaffnet an die Arbeit gehen oder nicht – fällt auf, dass sie im Grunde für das, was die Bilder zeigen, was sie erzählen, blind sind. Schon lange konnte eines der beiden Wappen, das in der Mitteltafel des Mérode-Triptychons sichtbar ist, mit dem Wappen einer aus Köln stammenden Familie namens Engelbrecht identifiziert werden, von der sich ein Zweig in Mecheln niedergelassen hatte. [5] Nun fällt auf, dass in der Mérode-Fassung der Engel als jener dargestellt wird, der die Frohe Botschaft in der Form des Evangelienbuches (es liegt auf einer Reisetasche) ›gebracht‹ hat: Engel-brecht. Wenn man nun erfährt, dass ein gewisser, ursprünglich in Köln wohnhafter, später nach Mecheln exilierter Peter Engelbrecht mit einer Margarete Schrinmechers verheiratet war, und der hl. Joseph als absolute ikonographische Premiere auf dem Mérode-Triptychon nicht als Zimmermann, sondern als Schreiner (›Schrinmecher‹) dargestellt ist, so kann daraus nur geschlossen werden, dass die besonderen, auf Wortspielen beruhenden Darstellungen sowohl der Verkündigung als auch des Josephsflügels für das Mérode-Triptychon erfunden worden sind (ob für die beiden Tafeln zeitgleich oder sukzessive, ob vom gleichen Maler oder nicht, ist vorerst nicht von Belang). Und wenn im Brüsseler Gemälde die Geschichte der Verkündigung einen Moment später, aber mit dem gleichen komplexen Bezug auf zwei Bücher, erzählt wird (Maria liest im Brüsseler Gemälde in dem vom Engel gebrachten Buch, das Beutelbuch liegt jetzt auf dem Tisch), so kann dies alles nur bedeuten, dass dem Mérode-Triptychon der Primat zukommt und dass die Brüsseler Verkündigung eine systematische inhaltliche Variation über die Mérode-Verkündigung darstellt.

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Es gibt also keinen Grund, die traditionelle Abfolge – erstens Mérode-Triptychon, zweitens Brüsseler Verkündigung – umzukehren, im Gegenteil, um es klar und vielleicht etwas scharf zu sagen: Es ist schlichtweg absurd. Wenn die beiden Ausstellungsmacher die – selbst durch die Untersuchung der Unterzeichnungen nicht wirklich abgestützte – von Jeltje Dijkstra vorgelegte These noch immer vertreten, kann das nur bedeuten, dass sie sich gegenüber dem, was die Bilder mit aller Klarheit erzählen, blind stellen. Die Kennerschaft, die sie als Unterscheidung der malenden Hände auf rein stilistischer Grundlage praktizieren, ohne die durch die Köpfe der entsprechenden Maler entwickelten Konzepte zu berücksichtigen, läuft Gefahr – ich wage, mich zu wiederholen –, selbst zu einem kopflosen Geschäft zu verkommen.  [6]

Bildnachweis

Norbert Miguletz, Städel Museum, Frankfurt a. M., Pressedienst: Abb. 1.

Reproduktionen nach

Felix Thürlemann: Robert Campin – eine Monographie mit Werkkatalog, München 2002: Abb. 3.

Bonnie Young: A Walk through The Cloisters, New York 1979 (Foto: M. Varon): Abb. 2.



[1] Stephan Kemperdick: Der Meister von Flémalle: die Werkstatt Robert Campins und Rogier van der Weyden, Turnhout 1997 (zugl. Diss. FU Berlin 1996).

[2] Felix Thürlemann: Robert Campin – eine Monographie mit Werkkatalog, München 2002.

[3] Meyer Shapiro: ›Muscipula diaboli‹: The Symbolism of the Mérode Altarpiece, in: The Art Bulletin, 27, 1945, 3, S. 183-187.

[4] Jeltje Dijkstra: Origineel en kopie: een onderzoek naar de navolging van de Meester van Flémalle en Rogier van der Weyden, Amsterdam 1990.

[5] Felix Thürlemann: Robert Campin. Das Mérode-Triptychon. Ein Hochzeitsbild für Peter Engelbrecht und Gretchen Schrinmechers aus Köln, Frankfurt a. M. 1997.

[6] Siehe Felix Thürlemann: Händescheidung ohne Köpfe? Dreizehn Thesen zur Praxis der Kennerschaft am Beispiel der Meister von Flémalle/Rogier van der Weyden-Debatte, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 62, 2005, S. 225-232. Abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2008/461/ .

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html

Empfohlene Zitierweise

Thürlemann F.: Die Kennerschaft zelebriert ihre Krise. Beobachtungen und Überlegungen zur Ausstellung »Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden«. In: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion, 2008-2 (urn:nbn:de:0009-23-16793).  

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Kommentare

  1. König, Eberhard | 10.03.2009

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