Zusammenfassung

Matthew Cohen hat in San Lorenzo ein mittelalterliches Proportionssystem nachgewiesen und deshalb Brunelleschi als Architekten dieser Kirche ausgeschlossen. Würde der Entwurf von Brunelleschi stammen, dann wären - wie in Sto. Spirito - Proportionen zu erwarten, die der Renaissanceästhetik entsprechen. Cohen hält den Prior von San Lorenzo, Matteo Dolfini, für den maßgeblichen Architekten. Seine Deutung wird jedoch durch die vorhandenen Dokumente und den Baubefund widerlegt. Ab 1418 wurde – unter der Leitung Brunelleschis! – kein völliger Neubau in Angriff genommen, sondern lediglich ein Anbau, der sich nahtlos an den Altbau von San Lorenzo anfügte. Auf diese Weise erklären sich die mittelalterlichen Proportionen. Erst ab 1465 wurde Alt-San Lorenzo durch einen Neubau ersetzt.

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San Lorenzo in Florenz gilt als der früheste Kirchenbau der italienischen Renaissance, und üblicherweise wird er Filippo Brunelleschi zugeschrieben. Es wurde aber auch schon vielfach die Frage gestellt, ob der von 1417 bis 1422 amtierende Prior von San Lorenzo, Matteo Dolfini, einen Anteil an der Planung der Kirche hatte, und wenn ja, wie dieser im Verhältnis zu dem Wirken Brunelleschis zu beurteilen wäre. Matthew Cohen glaubt nun den Nachweis erbracht zu haben, dass Dolfini sogar der maßgebliche Architekt des Neubaus von San Lorenzo gewesen sei. Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen gründen sich auf die architektonischen Proportionen dieser Kirche, die er genauestens untersucht hat. Cohens außerordentlich detaillierte und umfassende Analysen können in San Lorenzo ein ausgeklügeltes Proportionssystem nachweisen, das in einer mittelalterlichen Tradition steht und dessen Wurzeln bis zu Boethius zurückreichen. Da dieses Proportionssystem mit seinen irrationalen Zahlen sich jedoch grundlegend von demjenigen unterscheidet, das Brunelleschi in Sto. Spirito angewandt hat, wo die auf ganzen Zahlen beruhenden Proportionen der Renaissanceästhetik entsprechen, stellt sich Cohen im Hinblick auf die Autorschaft von San Lorenzo unvermeidlicherweise die Frage »how much Brunelleschi?«, die schon im Titel seiner Untersuchung die größtmögliche Aufmerksamkeit sicherstellt.  [1]

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Cohen hält es angesichts des von ihm erhobenen Befundes für ausgeschlossen, dass Brunelleschi der Urheber des Neubauplanes von San Lorenzo gewesen sein könne. Als den Autor dieses Gesamtplans, der auch die Alte Sakristei umfasste, bezeichnet er dagegen den angeblich als Architekten tätigen Prior von San Lorenzo, Matteo Dolfini. Brunelleschis Beitrag habe lediglich darin bestanden, Dolfinis Entwurf zu modernisieren. »He [i. e. Brunelleschi] contributed«, meint Cohen, »the designs of all the present columns, pilasters, and other architectural articulations, and the complex melon dome and certain vertical dimensions of the Old Sacristy, but he otherwise left Dolfini's design and proportional system essentially unchanged, with one significant exception: where Dolfini probably intended a series of typically late medieval, slightly pointed arches in the nave arcades – […] – Brunelleschi instead inserted the present semicircular arches, which are of slightly lesser height.«  [2] – Danach scheint auf die Frage »How much Brunelleschi?« tatsächlich nur eine Antwort möglich zu sein: »Sehr wenig«.

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Cohens Untersuchungen der Proportionen von San Lorenzo verdienen Respekt und Anerkennung; was seine Schlussfolgerungen betrifft, so wird er jedoch der von ihm selbst erhobenen – im übrigen selbstverständlichen – Forderung, die Ergebnisse der Proportionsstudien mit den sonst verfügbaren Daten der Baugeschichte in Einklang zu bringen,  [3] nicht gerecht. Wie andere Autoren vor ihm auch, geht Cohen davon aus, dass die im frühen 15. Jahrhundert in Angriff genommenen Bauvorhaben an San Lorenzo einen vollständigen Neubau der Kirche zum Ziel gehabt hätten. Wie ich schon 1974 versucht habe darzulegen, bezeugen jedoch Beobachtungen am Bau und die vorhandenen Dokumente, dass davon keine Rede sein kann. Vielmehr ging es im frühen 15. Jahrhundert lediglich darum, die Kirche von Alt-San Lorenzo durch angefügte neue Bauten zu vergrößern. Alt-San Lorenzo, ein um 1060 geweihter Proto-Renaissancebau, sollte erhalten bleiben.  [4] Die mittelalterlichen Proportionen von San Lorenzo finden also durch die besondere Baugeschichte eine einfache Erklärung: sie sind die unvermeidliche Folge der Absicht, den zu erhaltenden Altbau harmonisch mit den neuen Anbauten zu verbinden.

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Meine Absicht, die Unhaltbarkeit der baugeschichtlichen Thesen von Matthew Cohen zu erweisen, die im eJournal ausgeführt ist,  [5] stieß jedoch auf den entschiedenen Widerspruch von Jens Niebaum, der ebenfalls davon überzeugt ist, dass San Lorenzo im frühen 15. Jahrhundert als ein völliger Neubau errichtet werden sollte, und so die Vorstellungen Cohens untermauern möchte.  [6] Ich werde deshalb im Folgenden auch auf die Argumente Niebaums eingehen.

Die Baunähte der Fassade

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Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Baugeschichte von San Lorenzo war die Beobachtung von Baunähten in der Fassade. Meines Erachtens kann nur eine Darstellung der Baugeschichte den Anspruch auf Richtigkeit erheben, die dem Faktum dieser Baunähte Rechnung trägt. Sie verlaufen auf der Südseite zwischen dem Fassadenteil der Seitenschiffskapellen und der Langhausfassade als eine klare Fuge über die ganze Höhe; ebenso auf der Nordseite – hier aber nur bis zur halben Höhe der Fassade (Abb. 1, 2).

1 San Lorenzo, Florenz. Fassade mit Einzeichnung der Baunähte
(Aufnahme vor 1912)

2 San Lorenzo, Florenz. Fassade mit der Baunaht auf der Nordseite

Dieser Befund weist eine unverkennbare Regelmäßigkeit und Folgerichtigkeit auf: die südlichen Seitenschiffskapellen wurden unabhängig vom Langhaus errichtet, entweder früher oder später als dieses.  [7] Dasselbe gilt für die nördlichen Seitenschiffskapellen, jedoch mit dem aufschlussreichen Unterschied, dass ab der halben Höhe dieses Fassadenteils, erkennbar am homogenen Mauerwerk, Langhaus- und Kapellenfassade gleichzeitig aufgemauert wurden. Obwohl diese auffälligen Baunähte von der Forschung üblicherweise (und erstaunlicherweise) nicht zur Kenntnis genommen werden, verlangen sie doch nach einer Erklärung.  [8] Angesichts der Eindeutigkeit und des baugeschichtlich nicht von vornherein unmöglichen Verlaufs dieser Baunähte – nämlich die eigentliche Langhausfassade begrenzend – halte ich es nicht für angemessen, diesen Befund kurzerhand als belanglos beiseite zu schieben. Es gibt wohl nur wenige wissenschaftliche Streitfragen, über die durch genaue Kenntnisnahme der Fakten schneller ein Einvernehmen herstellbar wäre. Da jedoch Jens Niebaums ganze Argumentation auf der Ignorierung dieser Baunähte beruht, kann schon jetzt gesagt werden, dass seine Beweisführung weitestgehend ins Leere läuft.  [9]

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Ich möchte daran erinnern, dass Piero Sanpaolesi, der 1962 als erster auf diese Baufugen hingewiesen hat, eine Erklärung anbot, die auf den ersten Blick als selbstverständlich erscheint: erst sei das Langhaus mit seiner Fassade errichtet worden, später dann die Seitenschiffskapellen.  [10] Es stellte sich jedoch sehr schnell heraus, dass diese gleichsam ›logische‹ Abfolge mit den bekannten Daten der Baugeschichte von San Lorenzo nicht vereinbar ist.

Die westlichen Erweiterungsbauten

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Die Bauvorhaben an San Lorenzo im 15. Jahrhundert werden erstmals 1418 aktenkundig. Im Dezember dieses Jahres verleiht die Florentiner Signoria einem Gesuch »des Priors, der Kanoniker und des Kapitels von San Lorenzo«, Gesetzeskraft, das eine erhebliche Grundstücksvergrößerung der alten Kirche vorsieht. Sie dient dazu, die Kirche nach Westen – San Lorenzo ist gewestet – durch Anbauten zu erweitern, das heißt, ihr mit sehr schönen Gebäuden ein neues Erscheinungsbild zu geben (»ampliare, et pulcherrimis edificiis reformare«). Von einem vollständigen Neubau ist nicht die Rede. Die Abmessungen des neuen Baugeländes werden genau beziffert: 65 braccia in der Verlängerung der Mittelschiffsachse und 110 braccia für die Breite der Kapellenreihe (»ex posteriori parte debet bracchis sexaginta quinque, et per latitudinem centumdecem in ordine Cappelarum«). Dem Gesuch war auch schon ein Entwurf für die beabsichtigten Neubauten beigefügt (»iam constructionis opus designarunt«), daher überrascht es nicht, dass die ausgeführten Neubauten sich exakt an die Abmessungen des Areals von 65 : 110 braccia halten (s. Abb. 3). Cohen erweckt den Eindruck, als stünde außer Zweifel, dass der Prior von San Lorenzo, Matteo Dolfini, auch der Architekt des Neubauvorhabens gewesen sei. Dafür gibt es jedoch nicht die geringsten Anhaltspunkte (s. dazu weiter unten). Das Dokument von 1418 erwähnt, wie eben zitiert, als Vertreter des Bauantrags nur »den Prior, die Kanoniker und das Kapitel von San Lorenzo«. Anders als man nach den Ausführungen Cohens erwarten zu können glaubt, wird Matteo Dolfini nicht genannt – nicht als Prior und erst recht nicht als Architekt. Dass der damalige Prior Matteo Dolfini hieß, ist überhaupt erst durch moderne Forschungen bekannt geworden.  [11]

3 San Lorenzo, Florenz. Grundriß,
im Süden die Alte Sakristei und die angrenzende
Medici-Kapelle SS. Cosma e Damiano

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Bevor die 1418 geplanten Neubauten in Angriff genommen werden konnten, mußten jedoch erst die auf dem Erweiterungsareal stehenden Häuser enteignet und abgerissen werden, was noch einige Jahre in Anspruch nahm. Für das Querhaus konnte der Grundstein am 10. August 1421 »hinter dem Campanile« gelegt werden, der sich an die nördliche Reihe der Seitenschiffskapellen anschließend erhob. Der Bauplatz für die Errichtung der Alten Sakristei wurde erst im Herbst 1422 freigeräumt (1. Oktober, 1422: »Ando a terra disfessi per fare la sagrestia«)  [12] . Damit steht fest, daß erst ab 1422 und bis 1428/29 die Alte Sakristei und die angrenzende, den Heiligen Cosmas und Damian geweihte Medici-Kapelle errichtet wurden. Danach kam die Bautätigkeit an San Lorenzo für über ein Jahrzehnt zum Erliegen. Sie kamen erst wieder in Gang, als sich Cosimo de' Medici im August 1442 verpflichtete, innerhalb von sechs Jahren die neue Cappella maggiore und das Mittelschiff bis zum alten Hochaltar zu errichten (»capella maior et navis in medio ecclesie existens usque ad altare maius antiquum«). Der von Cosimo übernommene Teil des Mittelschiffs umfaßte drei Joche; die alte Basilika mit ihren drei Schiffen »usque ad altare maius antiquum« blieb von diesen Baumaßnahmen unberührt. Als schließlich – nach 19 Jahren – dieses ganze westliche Anbauprojekt, das das Querhaus mit seinen Kapellen, die Cappella maggiore und die Kuppel über der Vierung umfaßte, vollendet war, fand am 9. August 1461 (der 10. August ist der Tag des hl. Laurentius) die Weihe von San Lorenzo statt. Diese Weihe besiegelte die Vollendung der seit 1418 geplanten Erweiterungsbauten von San Lorenzo. Alt-San Lorenzo stand weiterhin unangetastet aufrecht. Die Neubauten stellten eine gewissermaßen nahtlose Fortsetzung des Altbaus aus dem 11. Jahrhundert dar.  [13] Alles somit deutet daraufhin, dass der im August 1461 erreichte Zustand als ein dauerhafter betrachtet wurde. Immerhin waren genau jene Bauteile bis zum Anschluss »an den alten Hochaltar« ausgeführt worden, die zu errichten Cosimo de' Medici sich verpflichtet hatte.

Alt-San Lorenzo

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Entgegen der von mir vertretenen Annahme, daß ›Neu‹-San Lorenzo nahtlos an den von Alt-San Lorenzo angefügt werden konnte, macht sich Niebaum die Vorstellungen Cohens zu eigen, denen zufolge Alt-San Lorenzo ein sehr kleines Kirchlein gewesen sei, das nur einen Bruchteil der Grundfläche des späteren Langhauses eingenommen und dessen Mittelachse weiter nördlich gelegen hätte.  [14] Ich sehe nicht, dass es irgendwelche Anhaltspunkte für diese Rekonstruktion gäbe. Vor allem ist nicht anzunehmen, dass die Bauherren – Cosimo de' Medici und das Kapitel von San Lorenzo – auch nur einen Moment daran gedacht haben könnten, die Verbindung der Neubauten mit diesem nach Größe und Ausrichtung überhaupt nicht dazupassenden Kirchlein als einen Dauerzustand zu betrachten. Dann hätte am 9. August 1461 also sicher keine Weihe stattgefunden. Wenn die Neubauten als eine Fortsetzung von Alt-San Lorenzo geplant waren, dann muss Alt-San Lorenzo diesen Kriterien wohl irgendwie entsprochen haben.

<10>

Jens Niebaum bedauert, dass es keine Grabungsbefunde gäbe, die Aufschluss über Alt-San Lorenzo gewähren würden.  [15] Bei den Fundamentierungsarbeiten für die geplante Fassade Michelangelos stieß man jedoch auf die Fundamente der Vorhalle von Alt-San Lorenzo,  [16] wodurch es möglich ist, diese Fassade zu lokalisieren. Baccio d'Agnolo schrieb am 30. Dezember 1516 an Michelangelo in Carrara: »E in fato e' ci rifondare di nuovo [il fondamento], ché quelo che noi vedem non era el fondamento buono. Ò trovato che era e' fondamento del porticho vechio, [...]«.  [17] Die Fassade der bestehenden Kirche befindet sich demnach genau an derselben Stelle wie die Fassade von Alt-San Lorenzo, deren Portikus sich davor erstreckte. Damit kann die Annahme einer Basilika von Alt-San Lorenzo in den Maßen, wie sie Matthew Cohen und Jens Niebaum postulieren, als gegenstandslos betrachtet werden.  [18]

<11>

Cohen hat eine deutlich höhere Qualität in der Ausführung der westlich von Alt-San Lorenzo errichteten Bauteile festgestellt: »The western three bays are finely carved and polished smooth, while the eastern five appear simplified and rough by comparison«,  [19] was ihn zu der korrekten Schlußfolgerung führte: »the nave was built in two distinct phases«.  [20] Überraschenderweise stellt er aber nicht die eigentlich unvermeidliche Frage, wie es zu diesen zwei Bauphasen gekommen ist. Außerdem erscheint seine Datierung dieser beiden Phasen in die Jahre 1446-1450 und 1461-1464 ebenso willkürlich wie unbegründet. Dagegen kann die erste Phase mit Sicherheit in Zeit zwischen 1442, als Cosimo de' Medici den Bau wieder in Gang brachte, und 1461, die Weihe des Naubaus, datiert werden. Die zweite Phase war eine Konsequenz der Entscheidung, entgegen dem ursprünglichen Plan, dann doch noch das Langhaus von Alt-San Lorenzo durch einen Neubau zu ersetzen. Dieser Beschluß kann recht genau datiert werden, da es Baudaten gibt, die für die Entstehung der Baunähte von unmittelbarer Bedeutung sind.

Das Konventsgebäude und die Seitenschiffskapellen

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1457 wurde damit begonnen, das Konventsgebäude auf der Südseite des Langhauses von San Lorenzo zu errichten. Zwischen dem Konventsgebäude und dem Langhaus befinden sich die südlichen Seitenschiffskapellen, über deren Entstehungszeit es widersprüchliche, jedoch aufschlussreiche Daten gibt. Nach Domenico Moreni, dem frühen Historiker von San Lorenzo, bestätigte Papst Pius II. am 18. Februar 1461 die Stiftung eines Kanonikats durch Francesco Neroni im Jahre 1462, was den Schluss zu erlauben scheint, dass die Neroni-Kapelle, die dritte von der Fassade her, damals benutzbar war.  [21] Nach neuen Dokumentenpublikationen sind die südlichen Kapellen jedoch offenbar erst 1463 errichtet worden.  [22] Aber auch bei dem späteren Datum ändert sich nichts an dem Faktum, dass die Fassade der südlichen Seitenschiffskapellen sich mit einer Fuge an die Langhausfassade anlehnt (Abb. 1). Zu diesem Zeitpunkt, zwei Jahre nach der erwähnten Weihe, war die Fassade von Alt-San Lorenzo also noch in situ, und es muss folglich angenommen werden, dass die alte Basilika noch erhalten werden sollte.

<13>

Die Errichtung der nördlichen Seitenschiffskapellen begann ein paar Jahre später, sie kam erst nach einem entsprechenden Beschluss vom April 1465 in Gang.  [23] Für den Bauverlauf am aufschlussreichsten ist die Kapelle direkt hinter der Fassade, die Tornabuoni-Kapelle, die im Sommer oder Frühherbst 1465 errichtet wurde. Wie beschrieben, trennt eine Baufuge die Fassaden der Kapelle und des Langhauses bis in die halbe Höhe; erst danach sind die beiden Fassadenteile in homogenem Mauerwerk errichtet (Abb. 1, 2). Diesen Befund wird man nicht anders interpretieren können, als dass erst während der Aufmauerung der Tornabuoni-Kapelle der Entschluss gefasst wurde, das Langhaus von Alt-San Lorenzo durch den bestehenden Neubau zu ersetzen. Die übrigen Baudaten zum Langhaus stimmen damit überein, sie sollen hier nicht wiederholt werden.  [24] Wenn andererseits, entsprechend der These von Cohen und Niebaum, den Baumaßnahmen an San Lorenzo von Anbeginn an ein einheitlicher Neubauplan der ganzen Kirche zu Grunde gelegen hätte, dann wären die Fassaden der neuen Seitenschiffskapellen und des neuen Langhauses ohne jeden Zweifel in einem homogenen Mauerverband aufgeführt worden. Mit dieser Annahme ist das Faktum der Baunähte unvereinbar.

<14>

Jens Niebaum glaubt ein unwiderlegliches Argument gegen meine Vorstellungen von Alt-San Lorenzo vorbringen zu können, indem er die Lage des ab 1457 auf der Südseite entstandenen Kanonikats ins Spiel bringt. Nach meinen Thesen, so Niebaum, müsste angenommen werden, dass dieses Gebäude in einem viel zu geringem Abstand südlich der Seitenschiffmauern der alten Basilika errichtet worden wäre. Jens Niebaum: »Eingepfercht auf dem verbleibenden, nur ca. 2,5 m breiten Streifen hätte man die Kapellen nicht errichten können. Die alte Kirche muss also schmaler und nach Norden verschoben gewesen sein.«  [25] Ein Blick auf den genau vermessenen Grundriss von Stegmann-Geymüller (den weitaus am häufigsten publizierten Grundriss von San Lorenzo) zeigt jedoch, dass die Seitenschiffskapellen tatsächlich eine Tiefe von nur 2,40 m haben (Abb. 4)!

4 San Lorenzo, Florenz. Grundriss nach Stegmann-Geymüller,
Ausschnitt mit südlichem Seitenschiff, den Seitenschiffskapellen
und dem Kanonikerhaus

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Was Niebaum als die schiere Unmöglichkeit erweisen möchte, entspricht also exakt den faktischen Gegebenheiten. Er scheint auch nicht beachtet zu haben, dass sich die Front dieser Kapellen durch die Anlage des Querhauses und der Querhauskapellen bestimmt (Abb. 3, 4). Hätte man den Kapellen eine größere Tiefe geben wollen, wäre es nur notwendig gewesen, das Kanonikergebäude etwas weiter nach Süden zu verlegen. Die Planung des Kanonikats sah also von Anfang an Seitenschiffskapellen in der heutigen Tiefe vor; mit der Frage, ob es sich um einen Neu- oder einen Anbau handelte, hat sie nichts zu tun. Selbst wenn die Kapellen erst ab 1463 errichtet wurden, geplant waren sie spätestens ab 1457, und notwendigerweise musste sich die Fassade der östlichsten Kapelle mit einer Fuge an die Fassade von Alt-San Lorenzo anlehnen. Mit anderen Worten: Wäre die Baunaht durch eine Fassade verdeckt, müsste man sie postulieren.

<16>

Es ist nicht genau bekannt, wann die zweite Phase zum Abschluß kam. Wie aber die Beobachtungen Cohens zeigen, hat man in dieser zweiten Phase mit deutlich geringerer Sorgfalt gearbeitet; offensichtlich wollte man das Vorhaben rasch beenden. Erstaunlicherweise wurde der Campanile erst 1481/82 niedergelegt.  [26] Und erst als an seiner Stelle die neuen nördlichen Seitenschiffskapellen errichtet worden waren, war der Neubau von San Lorenzo schließlich vollendet. – Wäre von Anfang an ein Neubau geplant gewesen, so wäre es zweifellos, schon aus Sicherheitsgründen, eine der ersten Maßnahmen gewesen, den Campanile, der auf dem Grund der neuen Bauten stand, abzutragen. Statt dessen wurde, wie erwähnt, 1421 der Grundstein für die Neubauten »hinter dem Campanile« gelegt, woraus zu schließen ist, daß man mit dessen Erhaltung rechnete.

Das Kapellenprojekt von 1434

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Jens Niebaum bemängelt, dass ich in meinem Diskussionsbeitrag zu Cohen »seltsamerweise« mit keinem Wort auf das 1978 bekanntgewordene Kapellenprojekt von 1434 eingegangen bin.  [27] Dieses Versäumnis ist leicht zu erklären, da das Projekt aus der Zeit datiert, als die Medici exiliert waren, es hatte folglich keinerlei Auswirkungen auf das weitere Baugeschehen. Für die Frage des Erweiterungsbaues ist das Vorhaben ohne Bedeutung. Dass man auf »konformes« Bauen bedacht war, wie es in dem Dokument heißt, schließt aber, anders als Niebaum meint, eine Verbindung mit dem Altbau von San Lorenzo bestimmt nicht aus, denn die Formulierung nimmt ja ausdrücklich auf die »capellis iam inceptis« Bezug.  [28] Daher wird man doch fragen dürfen, ob die hier deutlich werdenden ästhetischen Vorstellungen wirklich »klar gegen« die Erweiterungsthese sprechen? Im übrigen sollten diese Kapellen nur 3 1/2 braccia tief werden, das ist mit reichlich zwei Metern eine deutlich geringere Tiefe als die der ausgeführten Kapellen.

Die Unterkirche

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Alt-San Lorenzo hatte zweifellos keine Unterkirche, die heutige durchgehende Unterkirche entstand erst im Zuge und als Folge des westlichen Anbaus, der von Anfang eine solche hatte. Niebaum sieht hier ein ernsthaftes Argument gegen meine These. »1978 wurde ein Fußboden aufgedeckt, der nur minimal oberhalb des Paviments des heutigen Untergeschosses lag und mittelalterliche Bestattungen enthielt.« Er blickt sodann auf den über der Krypta sich erhebenden Chor von San Miniato al Monte und kommt zu dem Schluss: »In San Lorenzo müsste man jedoch, wenn Herzner mit seiner These Recht hätte, ein um gut 3,50 m höheres Ansatzniveau der Arkaden im neuen Westteil postulieren: ein seltsames Szenario [...].  [29] Dieser wichtige Gesichtspunkt kam in der Forschung bisher überhaupt nicht zur Sprache; und es stimmt, wenn man wirklich große Niveauunterschiede annehmen müsste, würde dieses Argument allein ausreichen, meine Vorstellung eines Erweiterungsbaus zu Fall zu bringen. Die Dinge liegen jedoch etwas anders. Vor allem hat Jens Niebaum den Grabungsbefund von 1978 nicht korrekt wiedergegeben. Bei diesen Grabungen in einem Bereich der West-Nordwestecke der heutigen Kirche, also weit außerhalb von Alt-San Lorenzo, wurde im Untergeschoss »una tomba familiare post-rinascimentale« gefunden. Man grub weiter in die Tiefe und fand ca. 80 cm darunter (nicht darüber, wie Niebaum angibt) eine Schicht, die ein wohl frühmittelalterliches Grab enthielt. Dieser Bereich geriet, wie sich schon aus der Lage ergibt, erst durch den Erweiterungsbau des 15. Jahrhundert in den Untergrund von San Lorenzo.  [30]

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Für die wichtige Frage des von Niebaum angesprochenen Niveauunterschiedes zwischen Alt- und ›Neu‹-San Lorenzo muss jedoch die Topographie von San Lorenzo berücksichtigt werden, wofür die von Giuliano de Marinis mitgeteilten Angaben sehr aussagekräftig sind. Die Schicht mit dem wohl frühmittelalterlichen Grab befindet sich ca. 0,50 m unter dem heutigen Straßenniveau, woraus sich ergibt, dass das Niveau der Unterkirche im untersuchten Bereich etwa 0,30 cm darüber liegt. Die westliche Unterkirche von San Lorenzo ist also nicht in die Tiefe des Bodens eingegraben worden, sondern erhebt sich etwa auf Straßenniveau. Dieser auf den ersten Blick überraschende Umstand lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass das Langhaus der Kirche, also der Bereich von Alt-San Lorenzo, auf einem Hügel steht, auf dem mons sancti Laurentii, wie Giuliano De Marinis (leider ohne Quellenangabe) die Örtlichkeit beschreibt. Auf alten Abbildungen ist der Hügel noch sichtbar (vgl. Abb. 1), 1912-13 wurde er jedoch durch die heutige Treppenanlage ersetzt.  [31] Die erhöhte Lage von Alt-San Lorenzo erforderte es daher offensichtlich, wollte man beim westlichen Erweiterungsbau das vorgegebene Fußbodenniveau beibehalten, eine Unterkirche auszuführen. Bei der Erneuerung von Alt-San Lorenzo erhielt dann auch dieser Neubau eine Unterkirche.

Matteo Dolfini, der Phantom-Architekt

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Nach dieser Darlegung der wichtigsten Bauabläufe von San Lorenzo, ist es an der Zeit, die Frage nach dem oder den entwerfenden Architekten anzugehen. Wie ein großer Teil der Forschung sind Matthew Cohen und Jens Niebaum überzeugt, dass der Prior Dolfini der Architekt von San Lorenzo war, bevor Brunelleschi auf den Plan trat. Cohen glaubt, wie gesagt, durch seine Proportionsstudien diese Ansicht stichhaltig untermauern zu können; Niebaum führt erneut die üblichen Argumente zugunsten Dolfinis an.

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Die einzige Quelle des 15. Jahrhunderts (und die Grundlage aller späteren Berichte), derzufolge Matteo Dolfini als Architekt (»capomaestro«) von San Lorenzo tätig war, ist die Biografie Brunelleschis aus den 1480er Jahren. Ihr Autor, Antonio Manetti, berichtet, daß der damalige Prior von San Lorenzo – einen Namen nennt er nicht – einen Neubau mit Pfeilern aus Ziegelsteinen begonnen habe. Giovanni di Bicci de' Medici, der Stifter der Alten Sakristei und einer Kapelle, so Manetti weiter, habe dann jedoch im Gespräch mit Brunelleschi beschlossen, »den alten Bau aufzugeben und abzureissen und alles nach einem der Pläne Filippos zu auszuführen« (»che la fabbrica vecchia s'abandonassi e disfacessisi e attendessisi al tutto a uno de' modi di Filippo«).  [32] Manetti kannte die Geschehnisse, von denen er berichtet, nicht aus eigener Anschauung, daher darf es nicht verwundern, wenn seine Darstellung nur teilweise mit den Fakten in Übereinstimmung zu bringen ist.

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Der nachweisliche Baubeginn von San Lorenzo erst um 1421/22 fällt mit dem Zeitpunkt zusammen, zu dem nach allgemeiner Ansicht Brunelleschi die Verantwortung über den Bau von San Lorenzo übernommen habe. Da etwa zur gleichen Zeit Dolfini verstorben ist,  [33] stellt sich die Frage, ob – entsprechend dem Bericht Manettis – Dolfini überhaupt Zeit und Gelegenheit hatte, irgendwelche Bauteile auszuführen, die Brunelleschi wieder abgerissen hätte. Cohen ist sich des Problems dieser minimalen Zeitspanne vollkommen bewusst, sieht darin aber ein Argument zugunsten Dolfinis, denn er meint, Brunelleschi habe es sich aus Zeitgründen gar nicht leisten können, Bauteile aufzugeben, die Dolfini bis dahin ausgeführt hätte.  [34] In Wirklichkeit dürfte jedoch nur deutlich werden, wie unwahrscheinlich es ist, daß Dolfini überhaupt etwas gebaut hat. Niebaum hält trotzdem an an Dolfini als Architekten fest und glaubt, sich dabei auf Manetti berufen zu können, da man sich fragen müsse, »warum er [= Manetti] ohne Grund einen Teil der berühmten Kirche einem anderen Meister [nämlich Dolfini] als seinem Helden [= Brunelleschi] zuschreiben sollte«.  [35] Davon kann jedoch gerade nicht die Rede sein, im Gegenteil, Manetti bestreitet ausdrücklich – was auch Cohen vermerkt –, dass Dolfini irgendeinen Anteil am Entwurf des ausgeführten Baus von San Lorenzo gehabt habe. Für Manetti ist San Lorenzo zur Gänze ein Werk Brunelleschis.

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Die Rolle, die Manetti Dolfini als Vorläufer Brunelleschis in der ›Vorgeschichte‹ von San Lorenzo zuweist, erklärt sich eindeutig aus den offenbar nicht ganz sicheren Informationen, die er über die noch lange bestehende Basilika von Alt-San Lorenzo hatte. Es ist aufschlussreich genug, dass Manetti, wie eben zitiert, von einer »fabrica vecchia« spricht. Die einzige »fabrica vecchia«, die es zu Lebzeiten Dolfinis – und in den folgenden Jahrzehnten – gab, ist nun mal die Basilika von Alt-San Lorenzo. Dolfini mit ihr in Verbindung zu bringen, erscheint vollkommen ausgeschlossen, selbst wenn Dolfini tatsächlich mit dem Neubau begonnen hätte, hätten diese Partien von Manetti nicht als »fabrica vecchia« bezeichnet werden können. Obwohl deren Abriß nicht um 1420 durch Giovanni di Bicci, sondern erst 1465 durch dessen Enkel Piero de' Medici veranlaßt wurde, behält der Bericht Manettis doch einen wichtigen wahren Kern; ganz exakte Nachrichten darf man von ihm nicht erwarten.  [36] Es ist freilich auch verständlich, daß die Mitteilungen Manettis zu irreführenden Schlüssen führen konnten, solange man die Rolle von Alt-San Lorenzo für die Baugeschichte der Neubauten nicht beachtete.

Der Architekt von San Lorenzo: Brunelleschi

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Um die Frage nach dem verantwortlichen Architekten zu klären, gibt es kein besseres Argument als die Chronologie der ausgeführten Bauteile. Die ersten Bauten, die im Rahmen der Erweiterung von San Lorenzo errichtet wurden, sind die Alte Sakristei und die angrenzende Medici-Kapelle, für die die Daten zwischen 1422 und 1428/29 gesichert sind. Beide Baukörper erhoben sich wie ein komplexer Solitär weitab der alten Basilika von San Lorenzo, und es dauerte Jahrzehnte, bis die Verbindung zum Neubau hergestellt war. Entscheidend dabei ist, daß beide Baukörper, schon wegen der Verbindung, die die Medici-Kapelle zwischen der Sakristei und dem späteren neuen Querhaus herstellt, von Anfang integrale Bestandteile des Planes waren, der dem westlichen Erweiterungsbau zu Grunde lag, vor allem aber legen sie – wie niemand bezweifelt – in der gesamten Konzeption und in jedem Detail Zeugnis für Brunelleschi als den verantwortlichen Architekten ab.  [37] Daher scheint die Schlussfolgerung zwingend, dass niemand anderer als Brunelleschi schon der Autor jenes Entwurfes zur Vergrößerung von San Lorenzo war, den »der Prior, die Kanoniker und Kapitel von San Lorenzo« 1418 der Florentiner Regierung vorgelegt haben. Auf die Übereinstimmung der in diesem Gesuch erwähnten Maße des Neubauvorhabens (65 : 110 braccia) mit den Ausmaßen der ausgeführten Naubauten wurde schon hingewiesen. Brunelleschi ist demnach im Auftrag des Priors Dolfini tätig gewesen, nicht als dessen Konkurrent oder Nachfolger. So haben das andere Autoren auch schon gesehen.  [38] Die mittelalterlichen Proportionen von San Lorenzo können nicht verwundern, sie erklären sich, wie deutlich geworden ist, aus der einfachen Tatsache, daß der ursprünglich nur vorgesehene Erweiterungsbau durch den romanischen Bau mit seinen Proportionen konditioniert war.  [39]

Cosimo de' Medici als Bauherr

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Die dargelegten Präzisierungen zur Baugeschichte von San Lorenzo sind auch von Bedeutung, um die Rolle Cosimo de' Medicis als Bauherrn genauer beurteilen zu können, über die in jüngster Zeit unzutreffende Vorstellungen vertreten wurden. Die jüngere Forschung glaubt nämlich, den Verlauf der Baugeschichte von San Lorenzo als Ergebnis des ungezügelten Machtstrebens von Cosimo de' Medici verstehen zu sollen. Zunächst, 1418 und 1442, seien die Initiativen der Medici zur Errichtung von Teilen von San Lorenzo noch Teil einer gemeinschaftlichen Initiative der wohlhabendsten und einflußreichsten Bürger des Pfarrsprengels von San Lorenzo gewesen. Doch im Anschluss an die Errichtung der Cappella maggiore und der Vierung, so meint Caroline Elam, »Cosimo went on to assume responsibility for the construction of the entire basilica and its canonry«. Cosimo habe getan, was sich kein anderer Bürger habe erlauben können: »No other private patron in fifteenth-century Florence before or after Cosimo assumed responsibility for the construction of a large parish church«.  [40] Den Bericht Vespasiano da Bisticcis (entstanden zwischen Mitte der 1480er und Anfang der 1490er Jahre), der mitteilt, Cosimo habe statt der Kirche die Konventsgebäude errichtet, weil sich dafür nicht so schnell jemand gefunden hätte, erklärt Caroline Elam ausdrücklich als falsch.  [41] Das ist jedoch ein sehr vorschnelles Urteil.

<26>

Vespasiano berichtet in seiner Biographie Cosimo de' Medicis, daß Cosimo als erstes das Kanonikatsgebäude, das in einem sehr unwürdigen Zustand gewesen sei, von Grund auf habe erneuern lassen. »Gefragt, warum er mit dem Kanonikat und nicht mit der Kirche begonnen habe, habe er geantwortet, daß für die Errichtung der Kirche sich leicht jemand gefunden hätte, da das viel Ehre einbringe, nicht so jedoch für das Kanonikat. Nach dessen Vollendung habe Cosimo dann bis zu seinem Tod noch einen guten Teil der Kirche gebaut.«  [42] Wie sich zeigte, wurde das Kanonikat ab 1457 errichtet, die Erneuerung von Alt-San Lorenzo dagegen erst ab 1465 in Angriff genommen. Insofern ist die Mitteilung Vespasianos über die Verantwortlichkeit Cosimos für die »abitatione de preti« und deren zeitlichen Vorrang vor der Kirche völlig korrekt. Wenn er allerdings sagt, daß Cosimo bis zu seinem Tod auch einen guten Teil der Kirche errichtet habe, dann ist das keineswegs eine »eindeutige Aussage«, die sich auf die Erneuerung von Alt-San Lorenzo beziehen müsse, wie Jens Niebaum glaubt;  [43] vielmehr ist anzunehmen, daß damit die umfangreichen Erweiterungsbauten gemeint sind, die ab 1442 bis zur Weihe im Jahre 1461 von Cosimo finanziert wurden und von denen Vespasiano ja Kenntnis gehabt haben muss. Im Hinblick auf die Erneuerung von Alt-San Lorenzo behält Vespasiano somit durchaus recht: damit hat Cosimo tatsächlich nichts zu tun. Er bringt nur die Abfolge der verschiedenen Unternehmungen Cosimos etwas durcheinander, was aber angesichts des zeitlichen Abstandes, in dem Vespasiano schreibt, nicht verwundern kann. Cosimo ist am 1. August 1464 gestorben. Die Vollendung des Neubaus von San Lorenzo, die ja erst 1465 in Angriff genommen wurde, war die Angelegenheit seines Sohnes Piero de' Medici. Cosimos dürfte seine Aufgabe an San Lorenzo darin gesehen haben, den neuen Westteil »usque ad altare maius antiquum« zu errichten sowie die Kanonikerwohnungen zu erneuern. Die Weihe am 9. August 1461 wird man so verstehen können, dass er dieses Ziel vollständig erreicht hatte.

<27>

Es wird von Anfang an ein wohlberechneter Schritt der Medici gewesen sein, nicht den Neubau der ganzen ehrwürdigen Kirche zu übernehmen, sondern nur Anbauten (Alte Sakristei, Medici-Kapelle), bzw. nur einen Teil des Erweiterungsbaus (Cappella Maggiore, Vierung, drei Joche des Langhauses). Vor allem Cosimo ist dafür bekannt, dass er bei allen seinen großzügigen Finanzierungen von Bauten stets das Augenmaß zu wahren wusste, um nicht Neid und Missgunst der reichen Bürger zu sehr herauszufordern. Ein Musterbeispiel für seine demonstrative Zurückhaltung ist die Art und Weise, wie er im Hinblick auf die Bauvorhaben an San Lorenzo 1442 zunächst feststellen ließ, dass keine der reichen Familien des Kirchsprengels den Erweiterungsbau finanzieren konnte (oder wollte), ehe er dann selbst als Bauherr in Erscheinung trat.  [44] Die Baugeschichte von San Lorenzo, die zu Lebzeiten Cosimos von Erweiterungsbauten bei Erhalt des altehrwürdigen Kerns der Pfarrkirche geprägt ist, passt also offenbar sehr gut zur zurückhaltenden ›Kulturpolitik‹ der Medici. Dagegen erscheint es unverständlich, wenn aufgrund unzutreffender baugeschichtlicher Annahmen den Medici an San Lorenzo rücksichtslose Neubaupläne unterstellt werden.

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Archiv des Autors: Abb. 1, 2, 3

Carl v. Stegmann und Heinrich v. Geymüller: Die Architektur der Renaissance in Toscana, Bd. 1: Filippo di Ser Brunellesco, München 1885 [1893], Taf. Ia: hier Abb. 4

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Postadresse: Volker Herzner, Graf-Rhena-Str. 9, 76137 Karlsruhe



[1] Matthew Cohen: How Much Brunelleschi? A Late Medieval Proportional System in the Basilica of San Lorenzo in Florence, in: Journal of the Society of Architectural Historians 67, 2008, S. 18-57.

[2] Cohen 2008 (wie Anm. 1), S. 42.

[3] Cohen 2008 (wie Anm. 1), S. 44.

[4] Volker Herzner: Zur Baugeschichte von San Lorenzo in Florenz, Zeitschrift für Kunstgeschichte 37, 1974, S. 89-115. Cohen zitiert meinen Aufsatz; die hier dargestellte Baugeschichte hat er aber nicht zur Kenntnis genommen. – Nachweise, die im folgenden nicht näher spezifiziert sind, finden sich in diesem Aufsatz bzw. sind bequem aufzufinden bei Piero Roselli: Brunelleschi in San Lorenzo, contributi alla cronologia dell'edificazione, in: Antichità viva 18, 1979, Nr. 2, S. 39-43; oder Piero Roselli u. Orietta Superchi: L'edificazione della Basilica di San Lorenzo. Una vicenda di importanza urbanistica, Florenz 1980. – Im Journal of the Society of Architectural Historians 67, 2008, S. 634 f., habe ich in einem »Letter to the Editor« meine Einwände gegen die Thesen Cohens in knapper Form dargelegt, worauf Cohen mit einer Replik antworten durfte, die seine Thesen bekräftigt, ohne auf meine Argumente auch nur mit einem Wort einzugehen. Deshalb erscheint es mir notwendig, die wichtigsten der Daten der Baugeschichte von San Lorenzo noch einmal zu erörtern.

[5] Volker Herzner: »How much Brunelleschi?« Matthew Cohen und sein Phantom-Architekt von San Lorenzo in Florenz, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-26; urn:nbn:de:0009-23-18120 (15.03.2009).

[6] Jens Niebaum: Phantom oder Architekt? Zur Diskussion zwischen Matthew Cohen und Volker Herzner um Matteo Dolfini und San Lorenzo in Florenz, in: Kunstgeschichte. Texte zur Diskussion 2009-44; urn:nbn:de:0009-23-20471 (06.08.2009).

[7] Der Fassadenteil der südlichen Seitenschiffskapellen ist deutlich schmaler als der der nördlichen, was aber nicht an der Tiefe der Seitenschiffskappellen liegt, die jeweils gleich ist. Möglicherweise war es im Süden notwendig, auf ein Nachbargebäude Rücksicht zu nehmen. Diese Unterschiede unterstreichen noch einmal die baugeschichtliche Aussagekraft der Baufugen.

[8] Bis auf Piero Sanpaolesi (s. u., Anm. 10) scheint sie kein Autor bemerkt oder beachtet zu haben; um nur einige der wichtigeren Publikationen zu nennen, s. etwa Isabelle Hyman: Notes and speculations on S. Lorenzo, Palazzo Medici, and an Urban Project by Brunelleschi, in: Journal of the Society of Architectural Historians 34, 1975, S. 98-120; Roselli 1979 (wie Anm. 4), S. 39-43; Roselli u. Superchi 1980 (wie Anm. 4); Caroline Elam: Cosimo de'Medici and San Lorenzo, in: Cosimo ›il Vecchio‹ de'Medici, 1389-1464, hg. v. Francis Ames-Lewis, Oxford 1992, S. 157-180; Howard Saalman: Filippo Brunelleschi. The Buildings, London 1993, zu San Lorenzo, S. 106-209; Uta Schedler: Giovanni di Bicci, Filippo Brunelleschi und der Bau von S. Lorenzo in Florenz, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 44, 1993, S. 47-71; Riccardo Pacciani: Testimonianze della basilica di San Lorenzo a Firenze, 1421-1442, in: Prospettiva 75-76, 1994, S. 85-99; Arnaldo Bruschi: Filippo Brunelleschi, Mailand 2006, S. 108 ff.

[9] In einem seiner nachträglich im Internet publizierten Appendices
[ www.spokane.wsu.edu/Academics/Design/CohenMatthew (App. 8)] zu seinem Aufsatz erwähnt auch Matthew Cohen unter Bezugnahme auf meinen Artikel die Baunähte; er ist jedoch wie Niebaum der Meinung, daß sie baugeschichtlich ohne jede Bedeutung seien.

[10] Piero Sanpaolesi: Brunelleschi, Mailand 1962, S. 73 ff.; vgl. Herzner 1974 (wie Anm. 4), S. 89 f.

[11] Pier Nolasco Cianfogni: Memorie istoriche dell'Ambrosiana R. Basilica di San Lorenzo, Florenz 1804, S. 231.

[12] Siehe die von Roselli 1979 (wie Anm. 4), S. 94 f., publizierten Dokumente.

[13] Wenn Saalman 1993 (wie Anm. 8), S. 161, von der »dedication of the half completed church in 1461« spricht, fragt man sich, worauf er diese erstaunliche Behauptung stützt.

[14] Siehe den Grundriss bei Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abb. 2.

[15] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 13.

[16] Siehe die Abbildung von San Lorenzo aus dem Codex Rustichi bei Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abb. 3.

[17] Il Carteggio di Michelangelo, hg. v. Paola Barocchi u. Renzo Ristori, Florenz 1965, S. 236; übereinstimmend schrieb Bernardo Niccolini am 7. Januar 1517 an Michelangelo in Carrara, ebda., S. 239. Einem Brief Andrea Ferruccis vom 8. Juli 1517 an Michelangelo in Carrara zufolge fand man »in ssul chanto della chiessa uno ffondamento ched ecie ffuori dell muro della chiessa circha di ttre bracia, e per dinanzi sseguita anche bracia 4 o forsse 5; e questo ffu ffatto quando ssi fecie el fondamento della chiessa nuova, ed è chossa buona«; ebda. S. 292. Bei diesen »Fundamenten« handelt es sich, schon der Lage wegen, ganz offensichtlich um die römischen »tabernae«(?), die in den Grabungen der Jahre 1912/13 von Corinto Corinti festgestellt wurden; s. Giuliano De Marinis: San Lorenzo – i dati archeologici, in: San Lorenzo, 393 - 1993. L'architettura. Le vicende della fabbrica, hg. v. Gabriele Morolli u. Pietro Ruschi, Florenz 1993, S. 31-36, hier S. 32 und Abb. S. 34. In meinem Aufsatz von 1974 hatte ich diese Mauern wegen der Lokalisierung »ffuorij del muro della chiessa« auf die Fundamente der Vorhalle von Alt-San Lorenzo bezogen, was aber nicht zutrifft (Herzner 1974 [wie Anm. 4], S. 112, Anm. 50). Da die als Fundamente der Vorhalle von Alt-San Lorenzo bezeichneten Fundierungen wegen ihrer ungenügenden Qualität deutlich von anderen, das heißt römischen Mauern (»chossa buona«) unterschieden werden, ist klar, daß man letztere nicht mit den romanischen Vorhallenfundamenten verwechselt hat. – Siehe auch William E. Wallace: Michelangelo at San Lorenzo. The Genius as Entrepreneur, Cambridge 1994, S. 62 f., Anm. 402: »All evidence for the foundations constructed during Michelangelo's tenure appear to have been destroyed in preparation for a project to erect a facade in the eighteenth century.«

[18] Die von Matthew Cohen als Appendix 8 im Internet (wie Anm. 9) publizierte Rekonstruktion von Alt-San Lorenzo unterscheidet sich von derjenigen bei Niebaum 2009 (seine Abb. 2) immerhin in dem entscheidenden Detail, dass die Vorhalle von Alt-San Lorenzo vor der Fassade des aktuellen Langhauses lag, was korrekt ist.

[19] Siehe dazu die in höchstem Maße aussagekräftigen Abb. 5-8 bei Cohen (wie Anm. 1).

[20] Cohen 2008 (wie Anm. 1), S. 21.

[21] Herzner 1974 (wie Anm. 4), S. 110, Anm. 49; nach Domenico Moreni: Continuazione delle Memorie Istoriche dell'Ambrosiana Imperial Basilica di S. Lorenzo di Firenze, Florenz 1816-1817, Bd. 1, S. 98 f.; Bd. 2, S. 422 f.

[22] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 20, mit Verweis auf Roselli u. Superchi 1980 (wie Anm. 4), S. 122.

[23] Herzner 1974 (wie Anm. 4), S. 102; ebenso Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 20.

[24] Roselli 1979 (wie Anm. 4), S. 41, denkt aufgrund der späten Daten für die Seitenschiffskapellen, denen auch er Aufmerksamkeit schenkt, »a una graduale trasformazione della vecchia chiesa che a un certo punto doveva fare tutt'una con la nuova«. Höchst erstaunlich ist dann seine Erwägung: »Se così fosse c'è da pensare che i muri della navata maggiore della chiesa attuale siano gli stessi della vecchia chiesa e le cui pareti esterne siano state man mano ›forate‹ per costruire le cappelle laterali.«

[25] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 21.

[26] Saalman 1993 (wie Anm. 8), S. 195.

[27] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 9.

[28] »[...] que sint conformes aliis capellis iam inceptis et in futurum edificandis in dicta ecclesia«; s. Jeffrey Ruda: A 1434 building program for San Lorenzo in Florence, in: The Burlington Magazine 120, 1978, S. 358-361. – Howard Saalman: San Lorenzo: the 1434 chapel project, in: The Burlington Magazine 120, 1978, S. 361-364; s. auch Saalman 1993 (wie Anm. 8); S. 147-152.

[29] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 17.

[30] Siehe De Marinis 1993 (wie Anm. 17), S. 32. Zur Lage der fraglichen Schicht: »[...] si procedette con il saggio di scavo, pervenendo, a m. 0,80 circa al di sotto [sic] di quello, ad un livello di calpestio costituito da terra argillosa indurita [...].« Die gefundene »fossa di una sepoltura terragna« sei vergleichbar mit ähnlichen Gräbern in Florenz »tra il VI-VII secolo d. C. ed il XII almeno«.

[31] De Marinis 1993 (wie Anm. 17), S. 31.

[32] Antonio Manetti: Vita di Filippo Brunelleschi, hg. v. Howard Saalman, Mailand 1976, S. 107.

[33] Im Frühjahr 1422 war Dolfini noch am Leben; s. Elam 1992 (wie Anm. 8), S. 184, doc. A.

[34] Cohen 2008 (wie Anm. 1), S. 41 ff.

[35] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 25.

[36] Manetti ist auch sonst nicht immer zuverlässig, er schreibt zum Beispiel Giovanni de' Medici Teile am Bau zu, die erst unter der Veranwortlichkeit Cosimos ausgeführt wurden.

[37] Aus diesem Grund schreibt Cohen, wie schon erwähnt, den Entwurf auch der Alten Sakristei Dolfini zu. – Dagegen erstaunt es in höchstem Maße, daß Saalman 1993 (wie Anm. 8), S. 113, diesen evidenten Zusammenhang nicht zu sehen scheint: »It was as Giovanni's chosen architect of the projected sacristy that Brunelleschi entered the picture.«

[38] Piero Ginori Conti: La basilica di San Lorenzo di Firenze e la Famiglia Ginori, Florenz 1940, S. 52 ff., S. 169. – Pacciani 1994 (wie Anm. 8), S. 94.

[39] Herzner 1974 (wie Anm. 4), S. 105.

[40] Elam 1992 (wie Anm. 8), S. 174, 158. – Auch Saalman 1993 (wie Anm. 8), S. 188, und Cohen 2008 (wie Anm. 1), S. 23, schreiben Cosimo den Neubau des Langhauses zu.

[41] Elam 1992 (wie Anm. 8), S. 159, 174.

[42] Vespasiano da Bisticci: Le vite. Edizione critica con introduzione e commento di Aulo Greco, Bd. 2, Florenz 1976, S. 181: »[...] Cosimo la prima cosa cominciò a gittare tutta l'abitatione de' preti per terra, ch'era una cosa molto trista, et di natura non sarebbe istata soficiente a una chiesa di contado. Cosimo la fece fare tutta di nuovo come ella istà oggi. Domandato perché egli cominicava prima la casa che la chiesa, rispondeva che non sarebbe chi lo facessi, perché in molti sarebbono che farebono fare la chiesa, che non farebono fare la casa, sendo di maggiore riputatiuone. Finita la casa cominciò a seguitare la chiesa e fenne una buona parte inanzi che morissi.«

[43] Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 19: »Diese eindeutige Aussage, die Herzner ohne weiteres als Irrtum abtut, lässt keinen Zweifel, dass der Ausbau des Langhauses zwischen 1461 und 1464 begonnen worden sein muss.«

[44] Vgl. Herzner 1974 (wie Anm. 4), S. 94 f.; s. auch Niebaum 2009 (wie Anm. 6), Abs. 4.

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Empfohlene Zitierweise

Herzner V.: »How much Brunelleschi?«. Matthew Cohen und sein Phantom-Architekt von San Lorenzo in Florenz. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2010-11 (urn:nbn:de:0009-23-25313).  

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